Das Verhältnis von Atlantissuchern untereinander ist ein Gegenstand ewiger Diskussion. Viele meinen, die Suche nach Platons Atlantis sei eine Art gemeinsames Hobby, das die Atlantissucher verbinden würde. Der Wunsch wird laut, man möge doch das gemeinsame Interesse durch eine Zusammenarbeit, durch gemeinsame Konferenzen und vielleicht auch in einer gemeinsamen Gesellschaft für Atlantisforschung bündeln. Doch dieser Wunsch beruht auf einem Irrtum. Atlantissucher teilen zwar ein gemeinsames Ziel, doch ihre Differenzen sind groß.
Denn die Suche nach Platons Atlantis ist nichts anderes als ein historischer Wettlauf wie z.B. der historische Wettlauf zwischen Amundson und Scott zum Südpol. Der Wettlauf findet zwar im Schneckentempo und ohne große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit statt, dennoch dreht sich alles um die Frage: Wer schafft es endlich, Atlantis zu finden? Schon heute gibt es Streit unter Atlantissuchern darum, wer welche Idee in der Atlantisforschung als erster hatte. Und natürlich gibt es den ewigen Streit, welche Atlantislokation und -datierung die richtige ist. Atlantissucher sind also Konkurrenten, und so wie die beiden Polarforscher Amundson und Scott sich zwar gewiss kannten und respektierten und gegenseitig ihre Publikationen lasen, andererseits aber im Wettbewerb auf dem Weg zum Südpol zueinander standen, so ist es auch mit Atlantissuchern. Im besten Fall findet dieser Wettbewerb in echtem Sportsgeist statt. Oft ist es nicht so.
Ein weiterer, großer Unterschied zwischen Atlantissuchern ist ihr Bildungsstand und die Anschlussfähigkeit ihrer Hypothesen an die zur Zeit noch skeptische Wissenschaft. Das Verhältnis von Atlantissuchern, die ihre Argumente mit Sorgfalt und einem profunden Wissen um den historischen Kontext aufbauen, zu Atlantissuchern, die ohne von Selbstzweifeln geplagt zu sein oberflächliche, pseudowissenschaftliche Hypothesen vortragen, ist naturgemäß schwierig. Allerdings gilt auch: Ein hoher Bildungsstand ist noch keine Garantie für eine niveauvolle Hypothese, und auch ein blindes Huhn findet manchmal ein Korn.
Drittens sollte man bedenken, dass nicht nur die Atlantissucher, sondern auch die wissenschaftlichen Atlantisskeptiker nach dem Prinzip des Einzelgängers organisiert sind. Jeder Universitätsprofessor steht letztlich für sich allein. Die Wissenschaftler sind zwar in Gesellschaften organisiert, aber entweder nur unter sehr allgemein gehaltenen Überschriften wie z.B. "Platon-Gesellschaft", oder aber zur Vertretung einer gemeinsamen, einheitlichen Lehrmeinung oder "Schule". Atlantissucher aber haben keine gemeinsame Lehrmeinung über Atlantis, ebensowenig übrigens wie die Atlantisskeptiker, deren Skepsis sich aus sehr diversen und oft widersprüchlichen Quellen speist. Deshalb kann es eine Gesellschaft der Atlantisskeptiker ebenso wenig geben wie eine Gesellschaft der Atlantissucher.
Viertens gibt es Atlantisucher, die Atlantis gar nicht ernsthaft finden wollen. Ihnen geht es nur darum, Konferenzen und Vereine dazu zu nutzen, Aufmerksamkeit zu erregen und sich mit politischen Mitteln in den Vordergrund zu drängen. Es sind die üblichen Opportunisten, wie sie sich überall finden. Sie bringen die wahre Suche nach Atlantis in Misskredit.
Eine Gesellschaft von Atlantissuchern zu gründen oder eine Atlantiskonferenz abzuhalten hat bis heute immer nur dann funktioniert, wenn alle eingeladen waren, und niemand ausgeladen wurde. Dann versammelt sich ein buntes Völkchen von – wohlgemerkt: konkurrierenden! – Atlantissuchern, und gerade die Grenzenlosigkeit der Teilnahmebedingungen ist es, die garantiert, dass jeder kommen kann, ohne sich für den Unsinn anderer Teilnehmer rechtfertigen zu müssen; gerade die Grenzenlosigkeit der Teilnahmebedingungen erzeugt auch ein Klima der Toleranz unter Atlantissuchern, die sich sachlich oft nicht viel zu sagen haben. Statt der Sache, also der Suche nach Atlantis, steht plötzlich etwas ganz anderes im Mittelpunkt: Es entwickelt sich ein Interesse an den Menschen und deren persönlichen Motiven, nach Atlantis zu suchen (Vergleiche dazu z.B. Mark Adams: Meet me in Atlantis, 2015). Das ist sicher sympathisch, trägt aber zur Sache nichts bei.
Beispiele für solche all-inclusive Veranstaltungen sind die Anfangsphase der Société d'Etudes Atlantéennes in Paris 1926 oder natürlich die griechischen Atlantiskonferenzen 2005, 2008 und 2011. Die hier geleistete Aggregierung verschiedener Hypothesen war zwar ein wichtiger Beitrag zur Schaffung von Überblick in der Atlantisforschung, der die Grundlage von Fortschritt ist. Aber die Leistungsfähigkeit solcher grenzenlosen Zusammenkünfte ist naturgemäß sehr begrenzt.
Sobald man damit beginnt, einen Maßstab aufzustellen, welche Hypothesen von Qualität sind und welche nicht, sobald man Atlantissucher auslädt und ausschließt, sobald man die Beliebigkeit beenden und einen Fortschritt erzielen möchte, beginnt der Krieg. Denn das bedeutet für die Ausgeschlossenen und Abgelehnten eine unverständliche Herabsetzung. Das bedeutet, dass sich die Konferenzveranstalter bzw. Vereinsvorsitzenden zu Richtern über ihresgleichen machen und politische Gesichtspunkte eine Rolle zu spielen beginnen. Die Vorstellungen darüber, welche Qualitätsmaßstäbe die richtigen sind, gehen naturgemäß weit auseinander. In demselben Moment, in dem die Pariser Société d'Etudes Atlantéennes damit anfing, Mitglieder auszuschließen, weil man sie für pseudowissenschaftlich hielt, scheiterte das Projekt: Eine Tränengasgranate wurde in das Publikum einer gemeinsamen Sitzung geworfen, und die Gesellschaft verschwand mit einem letzten verzweifelten Hilferuf aus der Geschichte.
Eher eine Form der Kommunikation als der Kooperation ist die Charta der Atlantisforschung. Hier hat zwar eine kleine und lose Gruppe von Atlantisforschern Qualitätsmaßstäbe formuliert – doch nicht, um auf ihrer Grundlage Mitgliedschaft oder Ausschluss von Atlantissuchern zu rechtfertigen. Es gibt weder einen Verein noch eine Konferenz der Charta der Atlantisforschung. Es gibt ganz bewusst noch nicht einmal eine Unterschriftenliste. Denn all das hätte zum Ausschluss von Atlantissuchern aufgrund der Charta der Atlantisforschung geführt. Vielmehr sollte die Charta der Atlantisforschung die Selbstreflexion bei Atlantissuchern anzuregen, was Qualität in der Atlantisforschung überhaupt bedeuten kann, und ob ihre eigene Arbeit in diesem Sinne qualitätvoll ist. Jeder Atlantissucher wurde so ganz im Stillen vor die Frage gestellt, ob er sich öffentlich zu diesen Maßstäben bekennen möchte, und sich somit selbst verpflichtet und bindet. Sollte er das nicht wollen, wurde er aufgefordert, alternative Maßstäbe zu formulieren und zu publizieren. Wer weder das eine noch das andere tut, muss sich fragen lassen, warum er schweigt. Der Zwang, den die Charta der Atlantisforschung ausübt, ist ein stiller und sanfter Zwang, der keinen Richter braucht.
Ein verbreiteter Irrtum ist die oft beschworene Solidarität der Atlantissucher "gegen" die zur Zeit noch skeptische Wissenschaft. Denn am Ende ist das Ziel des Atlantissuchers nicht die Anerkennung bei anderen Atlantissuchern, sondern – natürlich! – die Anerkennung bei der zur Zeit noch skeptischen Wissenschaft, also ein Umdenken bei der Wissenschaft. Wieso sollte man sich mit Atlantissuchern, unter denen auch immer Pseudowissenschaftler sind, gegen eben jene Wissenschaft solidarisieren, bei der man um Anerkennung ringt?
Die Suche nach Platons Atlantis ist ein historischer Wettlauf. Jeder kämpft für sich allein. Man publiziert seine Ideen gerne, man nimmt die Ideen anderer gerne zur Kenntnis, man lernt – soweit möglich – voneinander, und man respektiert sich mit Sportsgeist. So sollte es jedenfalls sein. Eine tiefer greifende Kooperation zwischen Atlantissuchern ist jedoch nicht möglich.
Roger Dévigne: Wie steht es um die Société d'Etudes Atlantéennes? 1929 (PDF)
Griechische Atlantis-Konferenzen 2005, 2008, 2011
Die Charta der Atlantisforschung 2006
Mark Adams: Meet me in Atlantis, 2015 (externer Link zu Amazon)