Professor Herwig Görgemanns, ein anerkannter Klassischer Philologe und Platon-Experte von der Universität Heidelberg, hat 1994 und 2000 zwei Beiträge geschrieben, in denen er der Atlantiserzählung einen realen Hintergrund zuschreibt.
Görgemanns bestreitet den mythischen Charakter der Atlantiserzählung, weil Platons Mythen stets einen übernatürlichen Kern hätten. Im Falle der Atlantiserzählung jedoch kämen Mythen nur am Rand vor, z.B. als Gründungsmythen, der Kern jedoch sei sehr faktisch. Die Frage, ob Platon mit der Atlantiserzählung nicht eine Art Roman verfasst haben, und die enthaltenen Wahrheitsbeteuerungen in Wahrheit auf dessen Unwahrheit hinweisen könnten, beantwortet Görgemanns so, dass eine solche literarische Tradition erst nach Platon entstand. Zudem beschreibe Platon selbst sein literarisches Verfahren: Eine vollkommen erfundene Darlegung wird verworfen und Platons Idealstaat in eine historische Überlieferung eingefügt. Da der Idealstaat Ur-Athen sein soll, wäre Atlantis also nicht "eingefügt".
Eine ganze Reihe von Elementen der Atlantiserzählung gehen laut Görgemanns auf Platon selbst zurück, die er in gutem Glauben hinzufügte. Insbesondere die Chronologie (9000 Jahre zuvor), die Geographie (im Atlantik) und der Untergang.
Der historische Kern der Überlieferung sei jedoch in dem großen Krieg zu sehen, den Atlantis gegen Ur-Athen, Ägypten und alle anderen Länder geführt habe. Dies weise laut Herwig Görgemanns deutlich auf die sogenannten Seevölkerkriege hin, die um 1200 v.Chr. stattfanden und auf ägyptischen Monumenten bis heute dokumentiert sind. Der erste, der dies vorschlug, war Wilhelm Christ im Jahr 1886. Die genaue Herkunft dieser Seevölker lässt Görgemanns offen, sie ist bis heute in der Wissenschaft umstritten.
Einen besonderen Augenmerk richtet Görgemanns auf die Frage, wie die Überlieferung von Ägypten nach Griechenland kam. Er glaubt, dass es unwahrscheinlich sei, dass Solon oder auch Platon davon in Ägypten gehört hätten. Görgemanns weist auf eine Inschrift in Athen hin, die von einer ägyptischen Gesandtschaft nach Athen im Jahr 362/1 v.Chr. berichtet. Görgemanns glaubt, diese Gesandtschaft habe die Atlantiserzählung mit nach Athen gebracht, um Athen zu einem Bündnis mit Ägypten zu bewegen. Das würde auch so manche Verzerrung der historischen Überlieferung erklären, denn die Ägypter hätten die Geschichte zu ihrem politischen Nutzen "frisiert". Problematisch an dieser Hypothese ist, warum dann nur Platon von Atlantis wusste, und nicht auch andere.
Mit Herwig Görgemanns hat sich ein ausgewiesener Experte zur Atlantisfrage geäußert. Seine Skepsis gegenüber der allzu einfachen Erklärung als Erfindung und die dazu gehörigen Argumente verdienen Beachtung. Seine Suche nach einer alternativen Lösung ist inspirierend. Görgemanns gehört ohne Zweifel zu den führenden Atlantisforschern.
Wikipedia: Herwig Görgemanns
Atlantipedia: Herwig Görgemanns
Görgemanns (1994/1996): Herwig Görgemanns, Platon und die atlantische Insel – Der Entwurf eines Geschichtsmythos, mit Diskussion, in: Verein zur Förderung der Aufarbeitung der Hellenischen Geschichte e.V. (Hrsg.), Hellenische Mythologie / Vorgeschichte – Die Hellenen und ihre Nachbarn von der Vorgeschichte bis zur klassischen Periode, Tagung 9.-11.12.1994 Ohlstadt, DZA Verlag für Kultur und Wissenschaft, Altenburg 1996; S. 107-125.
Görgemanns (2000): Herwig Görgemanns, Wahrheit und Fiktion in Platons Atlantis-Erzählung, in: Hermes Nr. 128/2000, S. 405-420.