Christian Vassallo studierte Klassische Philologie und ist derzeit Professor für Papyrologie an der Universität Turin in Italien. In den letzten Jahren hat er zwei Artikel rund um die Themen Platon, Geschichte und Atlantis veröffentlicht, die wir hier näher betrachten wollen:
Der Artikel über Platons Geschichtsverständnis ist sehr analytisch gehalten und konzentriert sich auf Details. Dieser Ansatz führt zu recht guten Ergebnissen: Vassallo erarbeitet verschiedene Aspekte in Platons Geschichtsbetrachtungen.
Vassallo hat richtig beobachtet, dass die Menschen nach jeder Katastrophe nicht wieder auf Null zurückgeworfen werden, sondern gewisse Erinnerungen und Techniken behalten, die zu "Samen" ("seeds") einer neuen Kulturentwicklung werden können, so z.B. die Techniken des Töpferns und Webens (Nomoi III 679a).
Vassallo ist allerdings zu optimistisch, was die Überlieferung von geschichtlichem Wissen und politischen Techniken anbelangt. Dabei ist er auch ungenau in seinem Denken: Er formuliert z.B. den Begriff eines "collective 'unconscious' memory" (S. 192), also eine Erinnerung, die jedoch nur um Unbewussten schlummert. Das ist gerade für die Überlieferung von geschichtlichen Ereignissen und politischen Techniken nur schwer vorstellbar, und es scheint auch eine moderne Projektion zu sein, Platon einen solchen Gedanken unterzuschieben.
Ebenfalls problematisch ist, dass Vassallo die Rolle der Informationsübermittlung zu diesen Themen offenbar gerade in Mythen sieht. Denn Platon kritisierte die überlieferten Mythen, weil sie vielfach falsche Informationen vermittelten. Es scheint eher so zu sein, dass sich das philosophische, mythenkritische Denken erst wieder von Null an entwickeln muss. So heißt es ja auch in Platons Atlantisgeschichte, dass sich von früheren Generationen nur die Namen erhalten hätten: Damit ist nicht gemeint, dass man sich noch an die Namen berühmter Personen erinnerte, sondern, dass die bloßen Namen an sich erhalten geblieben sind, indem man Kindern und Enkelkindern diese Namen gab. Nur die Namen bedeutet: Nicht viel Information.
Hier kommt ein weiterer Irrtum von Vassallo zum Tragen: Entsprechend der Atlantisgeschichte meint er: "Plato doubtless considered it the only way to avoid forgetting ‘historical’ events through written philosophical myths, as recorded in his dialogues, rather than through primitive, oral myths." (S. 186) – Das ist soweit korrekt, doch eines daran ist falsch: Für Platon war die schriftliche Überlieferung aus Ägypten nicht mehr mythos sondern logos, denn die schriftlich überlieferte Atlantisgeschichte wird den bloß mündlich überlieferten Mythen der Griechen als eine Überlieferung von besserer Qualität entgegengesetzt. Vassallos Begriff der "written philosophical myths" ist deshalb völlig unplatonisch. Ebenso, dass er die Atlantisgeschichte wiederholt "mythical" nennt (z.B. S. 184). Für Platon war die Atlantisgeschichte aus Ägypten gerade kein mythos und auch nicht "historisch" sondern historisch.
Vassallo hat völlig Recht, dass es bei Platon einen gewissen Hellenozentrismus gibt. Das ist auch allgemein bekannt. Allerdings stellt Vassallo in diesem Zusammenhang eine These auf, die zu weit geht: "Extra Graeca nulla historia" (S. 193-195). Damit ist gemeint, dass Platon nur für griechische Städte eine geschichtliche Entwicklung in Betracht gezogen habe, während er "barbarischen" Völkern keine geschichtliche Entwicklung zubilligte.
Doch das ist falsch. Anders als Vassallo sehen wir das Prinzip der Interpretatio Graeca, der Wiedererkennung griechischer Gottheiten in ausländischen Gottheiten, nicht als ausschließendes, sondern als inklusives Prinzip an. Fremde Kulturen wurden auf diese Weise nicht ausgegrenzt, sondern eingemeindet.
Hinzu kommt das Beispiel Ägypten: Ägypten ist ein nichtgriechisches Land, das aber sehr wohl über eine Geschichte verfügt, ja sogar anders als Griechenland über geschichtliche Aufzeichnungen. Natürlich bestand die Geschichte Ägpytens in den Augen der Griechen gerade darin, dass sich in diesem Land nicht viel veränderte, aber insofern Sais von Platon als ein degenerierter Idealstaat gedeutet wird, und insofern auch Ägypten in jedem großen, kosmischen Zyklus (Politikos-Mythos) neu entstehen muss, ist auch Ägypten einer geschichtlichen Entwicklung unterworfen.
Auch Atlantis ist ein nicht-griechischer Staat mit Geschichte, auch wenn es natürlich keine Erfolgsgeschichte ist.
Schließlich ist auf eine Aussage in Platons Politeia zu verweisen, derzufolge der Idealstaat explizit auch in einem fernen, nichtgriechischen Land entstehen kann. Damit ist ganz klar, dass die These von Vassallo so nicht haltbar ist:
"Wenn jedoch den in der Philosophie Vollendeten jemals eine Notwendigkeit sich des Staates anzunehmen entweder irgend entstanden ist in der unendlichen vergangenen Zeit oder auch jetzt für sie besteht in irgendeiner barbarischen, weit außerhalb unseres Gesichtskreises gelegenen Gegend, oder irgendwann in der Zukunft entstehen wird: Für diesen Fall sind wir bereit mit Gründen durchzufechten, dass diese beschriebene Verfassung bestanden hat oder besteht oder bestehen wird, wenn diese Muse sich eines Staates bemächtigt."
(Politeia VI 499cd; Übersetzung Friedrich Schleiermacher)
Vassallo führt seine Einzelbeobachtungen nicht zu einem großen Gesamtbild zusammen. Es ist möglich, alle Phänomene in einem großen Bild zu integrieren, in dem mythos uind logos wie Platon es sah, verwoben sind:
Der Grund, warum Vassallo dieses integrierte Bild nicht erstellt hat, liegt vermutlich in einem falschen Verständnis von Platons Philosophie. Obwohl ein naturwissenschaftlicher mythos ungewiss ist, transportiert er dennoch ein mehr oder weniger wahrscheinliches Wissen. Und einige der Geschichten, die in Vassallos Augen "nur" mythos sind, sind in Platons Augen sogar logos. Es ist wichtig zu verstehen, wie ernsthaft, direkt und historisch das alles von Platon gemeint war.
Vassallo sieht es offenbar anders. Das wird zum einen daran deutlich, dass Vassallo um Worte wie "history" Anführungszeichen setzt, wie wenn diese Sachverhalte von Platon nur ironisch oder im übertragenen Sinn "historisch" gemeint gewesen wären. Doch das ist nicht der Fall. Noch deutlicher wird es dort, wo Vassallo die Götter Platons als "ethical model" deuten möchte (S. 189). Das ist nun eine völlig unplatonische Deutung, die Platon eine moderne Sichtweise überstülpt.
Dennoch gilt: Die Detailuntersuchungen von Vassallo in diesem Artikel sind von bleibendem Wert. Im großen und ganzen ist dies ein guter Artikel. Dasselbe kann man leider nicht über den folgenden Artikel sagen. Ein großes Fazit zu beiden Artikeln folgt unten.
Die Irrtümer, die sich bereits in Vassallos Artikel zu Platons Geschichtsverständnis angedeutet haben, kommen in diesem Artikel nun voll zum Tragen. Aber der Hauptgrund dafür, dass dieser Artikel eine komplette Katastrophe ist, besteht darin, dass sich Vassallo auf die vorherrschenden Irrtümer der Erfindungsthese stützt, und hier vor allem auf die Thesen von Alan Cameron und Harold Tarrant, die vielfach falsch und brüchig sind. Das ist nicht die Schuld von Christian Vassallo.
Konkret geht es um die korrekte Deutung der berühmten Passage bei Proklos, die von Krantor und Platons Atlantis handelt. Bei Vassallo wird für diese Passage die Bezeichnung "fr. 8 Mette" benutzt. Unsere eigene Übersetzung lautet:
"Einige sagen, dass jene Erzählung [logos] über alles, was mit den Atlantern zusammenhängt, reine Geschichte [historia psile] sei, wie (z.B.) der erste Kommentator Platons, Krantor. Dieser [Krantor] sagt nun, dass er [Platon] von den Damaligen verspottet worden sei, weil er nicht der Schöpfer (seiner) Politeia sei, sondern (nur) der Umschreiber der (Staatsordnung) der Ägypter. Er [Platon] habe sich aus diesem (Wider-)wort der Spötter aber (so viel) gemacht, dass er [Platon] jene Geschichte [historia] über die Athener und Atlanter auf die Ägypter zurückführte, dass die Athener einst gemäß dieser Politeia gelebt hätten. Es bezeugen dies aber die Priester [prophetai] der Ägypter, sagt er [Krantor!], indem sie sagen, dass dies auf noch existierenden Stelen [stelai] geschrieben stünde."
(Proklos In Timaeum 24A f. oder I 1,75 f.; Übersetzung Thorwald C. Franke)
Der Artikel leidet unter einer Vielzahl von formalen Problemen, die allein schon geeignet sind, jede wissenschaftliche Aussage vollständig zu untergraben. Wie schon im ersten Artikel werden auch jetzt immer wieder Worte in Anführungszeichen gesetzt, so dass nicht völlig klar ist, ob sie ernst gemeint sind oder nicht, so z.B. in der Aussage non fossero fantasiose invenzioni ma fatti "storici" (S. 419). Wie können "Fakten", die als Gegensatz zu "fantastischen Erfindungen" verstanden werden, nicht historisch sondern nur "historisch" in Anführungszeichen sein? Der Leser ist ratlos. – Bereits im Abstract gibt es eine Formulierung, die in sich widersprüchlich ist: "we may guess it surely ruled out" (S. 405). Wie kann etwas ein "guess" und zugleich "surely" sein? In der Zusammenfassung heißt es analog: "aber mir scheint es ausreichend gewiss" ("ma mi sembra abbastanza certo", S. 422). Wie kann es nur "scheinen" und zugleich "gewiss" sein?
Das Wort "sembrare" ("scheinen") taucht im ganzen Text siebzehnmal auf. So z.B. in "die Neuplatoniker scheinen bezeugt zu haben" ("i Neoplatonici sembrano attestarsi", S. 406), "Proklos scheint keine Meinungsverschiedenheit gehabt zu haben mit" ("Proclo non sembra essere in disaccordo con", S. 408), "Aristoteles scheint" ("Aristotele sembra", S. 408), "scheinen mir nicht entscheidend" ("non mi sembrano decisive", S. 420), oder "aber mir scheint es ausreichend gewiss" ("ma mi sembra abbastanza certo", S. 422).
Mehrfach setzt der Autor seine persönliche Überzeugung ein, weil kein klares Argument zur Hand ist, so z.B. in "persönlich denke ich" ("personalmente, penso", S. 414) oder "ich denke, dass" ("penso che", S. 417), "ich bin überzeugt, dass" ("sono convinto che", S. 420), oder "meinem Urteil nach" ("a mio giudizio", S. 421). Grundsätzlich darf ein wissenschaftlicher Autor auch seiner persönlichen Meinung Ausdruck verleihen, doch nur am Rande, sonst hört die Untersuchung auf, eine rationale Argumentation zu sein und ist nur noch subjektiv.
Wiederholt muss der Autor selbst zugeben, dass seine eigene Argumentation zweifelhaft ist: "lösen nicht alle aufgeworfenen Zweifel" ("non risolvono tutti i dubbi sollevati", S. 416), oder "wie diese Lösung weitere Zweifel aufwirft" ("come tale soluzione sollevi ulteriori dubbi", S. 418). – Immer wieder wird die Wendung "d'altro canto" eingestreut (S. 414, 418, 420), was ein "andererseits" zum Ausdruck bringt, ohne dass die verschiedenen Alternativen schlüssig gegeneinander abgewogen würden.
An mindestens zwei Stellen finden wir eine seltsame Rabulistik: Obwohl die Argumentation von Alan Cameron explizit als schwach erkannt wird, wird dennoch an ihr festgehalten, weil nicht wenige Überlegungen mit der Schlussfolgerung verbunden sind, dass Alan Camerons Argumente ins Schwarze treffen ("dopo non pochi ripensamenti sono giunto alla conclusione che gli argomenti di Cameron, nonostante i punti deboli, colgano nel segno", S. 420). Das aber kann doch kein Argument sein! – Weil ein Grieche in Ägypten sicher keine Hieroglyphen lesen konnte, sei es am Ende auf einer theoretischen Ebene unerheblich, ob Krantor oder Platon das Subjekt des letzten Satzes der Proklos-Passage sei, weil es am Ende auf die ägyptischen Priester als Urheber der Aussage hinauslaufe (S. 420). Doch so einfach ist es leider nicht, es macht einen erheblichen Unterschied aus, ob Krantor oder Platon das Subjekt des Satzes ist.
Der Standpunkt des Proklos zur Atlantisfrage wird zunächst über mehrere Seiten korrekt herausgearbeitet und mehrfach bestätigt (406-412): Proklos deutet die Atlantisgeschichte auf zwei Ebenen zugleich: Die Atlantisgeschichte ist nach Platon "in jeder Hinsicht wahr" (Timaios 20d), und damit sowohl auf einer symbolischen als auch auf einer realen Ebene. Atlantis ist für Proklos also auch real, aber nicht nur. Das entspricht ganz der traditionellen Deutung und kann Zustimmung finden. Wahrheit würde sich also auf zwei Ebenen entfalten: symbolisch und real (S. 410). Soweit so gut.
Doch unvermittelt wird einige Seiten später mit einem kurz angebundenen Verweis auf "oben" behauptet, Proklos hätte bei der Atlantisgeschichte nur eine symbolische Wahrheit gemeint ("Ovviamente, come osservato sopra, la difesa di Proclo della "storicità" di Atlantide non implica che egli accetti il termine historia secondo il nostro concetto di "storia".", S. 415). Es ist keine Argumentation erkennbar, warum es so sein sollte, wie behauptet. Denn "oben" findet sich keine Erklärung für das, was hier behauptet wird. Dass diese Aussage mit einem "Offensichtlich" ("Ovviamente") eingeleitet wird, ist höchst suggestiv. Hier ist gar nichts offensichtlich.
Von Aristoteles heißt es, er "scheint" eine skeptische Einstellung zum historischen Gehalt der Atlantisgeschichte eingenommen haben, und zwar "mehr oder weniger maliziös gegen Platon gerichtet" ("più o meno maliziosamente diretto contro Platone", S. 408). Das ist nichts anderes als die klassisch falsche Behauptung, die Anfang des 19. Jahrhunderts durch den Atlantisskeptiker Delambre aufkam, dass die Strabon-Stelle II 102 eine Aussage des Aristoteles gegen die Existenz von Platons Atlantis enthalten würde. Diese Behauptung kann inzwischen als widerlegt gelten (vgl. Franke (2010/2012): Aristoteles und Atlantis). Zahlreiche Autoren haben in den letzten Jahren ihre Argumentation in dieser Frage geändert bzw. stillschweigend fallen gelassen.
Es kommt aber noch schlimmer! In der Belegfußnote 13 werden zu dieser Behauptung kurz angebunden diese Stellen genannt: Aristot. Meteor. 2.1.354a11-23; Coel. 2.14.297b31-298a16; fr. 402 Gigon (=fr. 162 Rose). – Dabei handelt es sich um die "Schlamm-Stelle" und die "Kolumbus-Stelle" in den Werken des Aristoteles, und um Strabon XIII 598 (Homer und die Mauer der Achäer). Doch die für die aufgestellte Behauptung zentrale Stelle Strabon II 102 wird nicht aufgeführt! Und es wird auch kein Autor der Sekundärliteratur aufgeführt, der dieses Argument erklärt. Damit wird deutlich, dass Vassallo die Problematik dieser angeblichen Aussage des Aristoteles gegen die Existenz von Platons Atlantis nicht ansatzweise durchdrungen hat.
Die Rezeptionsgeschichte von Platons Atlantisgeschichte wird mit diesem Satz abgehandelt: "Wenn man Poseidonios ausschließt, und, auf der Seite der Platoniker, Plutarch und Longinos, können wir sagen, dass die anti-historische (d.h. anti-wörtliche) Einstellung die vorherrschende hermeneutische Linie repräsentierte." ("Se si escludono Posidonio e, sul versante platonico, Plutarco e Longino, possiamo dire che l'attegiamento anti-storico (i.e. anti-letteralista) abbia rappresentato la linea ermeneutica prevalente", S. 408)
Das ist natürlich viel zu einfach gedacht. Man kann nicht einfach diesen oder jenen Autor einfach ausschließen und dann behaupten, die Gegenseite wäre vorherrschend gewesen. Hinzu kommt, dass das Zeugnis des Theophrast pro Existenz völlig übergangen wird. Auch Strabon fehlt, der Poseidonios beipflichtete. Aristoteles dürfte ebenfalls eher pro Existenz geneigt gewesen sein. Und nicht zuletzt haben wir das Zeugnis des Krantor pro Existenz. Alles in allem war die vorherrschende hermeneutische Linie natürlich mit erdrückender Stärke pro Existenz. Der erste namentlich bekannte Atlantisskeptiker tauchte erst 500 Jahre nach Platon auf: Es war Numenios von Apamea.
Ein weiterer typischer Irrtum ist die Charakterisierung der Atlantisgechichte als "exzentrisch" ("eccentrica", S. 416), und hier speziell als "exzentrisch" im Vergleich zu anderne Platonischen Mythen. Doch das ist falsch. Die Atlantisgeschichte enthält keine Magie, keine Wunder, keine Monster. Es kommen lediglich Götter als Städtegründer vor, aber das ist bei jeder realen antiken Stadt der Fall. Elefanten sind ebenfalls reale Tiere. Nicht einmal die Bauten und Armeen sind größer als bekannte Bauten, denn Herodot weiß von noch größeren Bauten und Armeen zu berichten, und von noch älteren Zeiten. Hingegen finden wir in anderen Platonischen Mythen höchst ungewöhnliche Dinge: So z.B. Menschen, die sich vom Alter bis zum Embryo zurückentwickeln (Politikos), oder die Jenseitsreise von Er (Politeia). Zudem werden wichtige Elemente der Atlantisgeschichte in anderen Dialogen bestätigt, so z.B. ein Alter Ägyptens von mehr als 10.000 Jahren (damals vorherrschender Irrtum), oder der zyklische Katastrophismus. Es ist also einfach falsch, dass die Atlantisgeschichte ungewöhnlich für Platon gewesen wäre, und deshalb einer besonderen Rechtfertigung bedurft hätte, wie es hier behauptet wird (S. 416).
Ebenfalls falsch ist die Annahme, dass die Atlantisgeschichte nur mündlich überliefert worden wäre (S. 419). Platon schreibt ausdrücklich von einer durchgängigen schriftlichen Überlieferung. Lediglich zur Einführung einer realen Überlieferung in einen fiktionalen Dialog hat Platon die Brücke einer mündlichen Überlieferung parallel zur schriftlichen Überlieferung gebaut. Das Argument, eine epigraphische Evidenz träte zu einer bloß mündlichen Evidenz hinzu, ist also hinfällig.
Fatal ist die Übernahme einer irrigen Deutung eines Fragmentes zu Longinos von Irmgard Männlein-Robert. Es geht um die Passage Proklos In Timaeum I 1, 83 (Fragment 54), in der Longinos beiläufig neben Vertretern der Erfindungsthese genannt wird. Doch die Art und Weise, wie Longinos dort genannt wird, bedeutet keineswegs, dass er selbst auch zu den Vertretern der Erfindungsthese gehört. Dies habe ich 2021 sehr ausführlich in meiner Rezension von Männlein-Roberts Werk "Longin – Philologe und Philosoph – Eine Interpretation der erhaltenen Zeugnisse" dargelegt (Franke (2021b)). Mit Männlein-Robert glaubt Vassallo nun irrig, dass Longinos zu den Vertretern der Erfindungsthese gezählt werden könnte (S. 413). Das verwundert auch deshalb, weil Vassallo an mindestens zwei anderen Stellen seines Artikels selbst bemerkt hat, dass Longinos eher den Vertretern der Existenzthese nahe stand (S. 408, 412). Hier hätte Vassallo tiefer nachfragen müssen.
Ebenfalls ein typischer Irrtum ist die Gleichsetzung des Wortes mythos mit "Erfindung" und "Phantasie" ("invenzione", "fantasia", S. 409). Ein mythos kann erfunden sein, er muss es aber nicht. Ein mythos könnte auch völlig wahr sein. Hinzu kommt, dass das Wort mythos zu verschiedenen Zeiten verschiedene Dinge bedeutete, was man unterscheiden sollte.
Ein Irrtum, den Vassallo im Gefolge von Alan Cameron begeht, ist der Versuch, die sogenannte "metaphorische" Deutung des Timaios-Mythos durch Krantor als einen Widerspruch zur wörtlichen, direkten Deutung der Atlantisgeschichte durch Krantor zu konstruieren (S. 419, auch S. 414, 422).
Der Hintergrund ist dieser: Tatsächlich wird Krantor traditionell eine sogenannte "metaphorische" Lesart des Timaios-Mythos zugeschrieben (Vgl. Zeyl (2000) S. xxi; Aristoteles De caelo 279b32-280a1; Proclus in Timaeum I 1,277.8-10 oder 85A; Plutarch De animae procreatione in Timaeo I oder 1012). Doch bei dieser "metaphorischen" Lesart geht es in Wahrheit um die Frage, ob der Kosmos ewig existierte, oder erschaffen ist. Die erste Position wird "metaphorisch" genannt, weil deren Anhänger die Beschreibung der Schöpfung mit einer geometrischen Konstruktion vergleichen: Der zeitliche Ablauf der geometrischen Konstruktion dient nur dem Verständnis des geometrischen Sachverhaltes, der in sich keinen zeitlichen Ablauf kennt. Natürlich ist die Bezeichnung dieses Vergleiches als "metaphorisch" etwas unpassend, denn es ist ein Gleichnis. Der Demiurg in Platons Timaios ist offensichtlich ein Gleichnis. Diese Bezeichnung als "metaphorisch" stammt denn auch nicht aus den antiken Quellen, sondern wurde durch die Rezeption geprägt.
Jedenfalls existiert der angebliche Widerspruch nicht: Denn während die Atlantisgeschichte ein schriftlich überlieferter logos sein soll, also eine Geschichte von hoher Sicherheit, handelt es sich beim Timaios-Mythos um einen eikos mythos, der von Dingen handelt, die höchst unsicher sind. Deshalb ist es völlig unsinnig zu erwarten, dass Krantor die Atlantisgeschichte und den Timaios-Mythos völlig gleich behandelte. – Last but not least schreibt Alan Cameron, auf den dieses Argument von Vassallo zurückgeht, dem Aristoteles eine wörtliche Lesart des Timaios-Mythos zu, während er gleichzeitig glaubt, dass Aristoteles Atlantis für eine Erfindung hielt: Wie das bei Aristoteles zusammenpassen soll, wenn es bei Krantor nicht zusammenpassen soll, bleibt völlig offen.
Tarrant hatte die richtige Beobachtung gemacht, dass die Wendung historia psile bei Proklos nicht ohne weiteres als "reine Historie" in unserem modernen Sinne übersetzt werden darf. Vielmehr macht der Kontext deutlich, dass damit lediglich ausgesagt wird, dass die Geschichte keine symbolische Deutungsebene hat.
Vassallo greift das auf, doch nicht konsequent (S. 414, 416). Einerseits glaubt Vassallo gegen Tarrant, dass historia psile im Kontext eben doch auf die reale historische Wahrheit der Atlantisgeschichte verweisen würde. Andererseits habe historia psile für Krantor angeblich keine reale Wahrheit bezeichnet. Doch dann schwenkt Vassallo wieder auf die Linie des Tarrant ein. Die ganze Argumentation erscheint etwas willkürlich.
Es fehlt auch das Argument des Nesselrath, dass der Verweis auf die ägyptischen Stelen sehr wohl einen realen historischen Bezug bedeutet, auch wenn historia psile das nicht hinreichend zum Ausdruck bringt.
Ebenfalls ein typischer Irrtum der Erfindungsthese (aber auch vieler oberflächlicher Existenzthesen) ist die Auffassung, dass sich der gesamte platonische Idealstaat in der ägyptischen Überlieferung der Atlantisgeschichte wiedergefunden habe (S. 417 f., 419). Das ist aber nicht der Fall. Die im Dialog behauptete Überlieferung aus Ägypten enthielt nur eine Annäherung an den Idealstaat, die von Kritias dann zum vollen Idealstaat ergänzt werden muss. Leider baut Vassallo auf dieser irrigen Annahme auf und verwirft alternative Szenarien kategorisch (S. 419).
An dieser Stelle wird auch die Idee verworfen, dass Krantor das Subjekt des phesi ("er sagte") im letzten Satz ist. Zwar erkennt Vasssallo richtig, dass die grammatikalische Struktur der Passage zwingend zu dem Schluss führt, dass Krantor das Subjekt sein muss. Doch mit dem Argument "unausweichlicher Widersprüche" ("ineludibili contraddizioni", S. 419) wird diese These gegen die Logik der Grammatik verworfen. Diese Widersprüche rühren jedoch von den falschen Annahmen her.
Hier macht sich wieder der schädliche Einfluss von Alan Cameron bemerkbar. Die Argumentation von Heinz-Günther Nesselrath zu diesem Thema wird besprochen und verworfen. Zu dicht ist Vassallo in den Irrtümern der Erfindungsthese verstrickt, um die geradlinige Richtigkeit der Argumentation von Nesselrath nachvollziehen zu können.
Ein weiterer typischer Irrtum ist die Verkennung der Tatsache, dass sich Ur-Athen und Sais laut Platon unabhängig voneinander entwickelten, denn beide wurden unabhängig voneinander durch die Göttin Athene gegründet. Statt dessen folgt Vassallo der falschen Spur, dass die später gegründete Stadt Sais eine Kolonie der zuerst gegründeten Stadt Athen war. Damit kommt er zu der erstaunlichen These, dass die Ägypter ihre Verfassung bei Ur-Athen "plagiierten" (S. 417 f.). Und das ist für Vassallo dann auch die Antwort des Platon auf den Vorwurf, dass er seine Verfassung aus Ägypten plagiiert haben soll.
An diesem Punkt kommt Vassallo mit seiner Argumentation endgültig ins Schleudern (S. 417-419). Einerseits würde Krantor die Atlantisgeschichte dann für eine echte ägyptische Überlieferung gehalten haben. Andererseits habe er sie doch für ein allegorisches Märchen und eine Erfindung gehalten. Schließlich versucht Vassallo, das unauflösliche Dilemma dadurch zu lösen, dass er gewissermaßen den gordischen Knoten mit Gewalt entzweihaut und die Bedeutung des vieldiskutierten Wortes psile in zwei Teile aufteilt (S. 418): Eine "positive" Bedeutung und eine "negative" Bedeutung. Die positive Seite müsse man Platon zuschreiben (ein erfundener Mythos mit "Wahrheit" im übertragenen Sinn), die negative jedoch den Ägyptern (eine plagiierte Geschichte).
Der Leser kommt an dieser Stelle schon längst nicht mehr mit. Hier baut eine irrige Schlussfolgerung auf der anderen auf, und spätestens, wenn zu solchen interpretatorischen Pirouetten wie der Aufspaltung der Bedeutung ein und desselben Wortes gegriffen wird, ist jede Glaubwürdigkeit verloren. Erst recht, wenn Vassallo nach diesen Spitzfindigkeiten noch eine weitere Wendung hinzufügt (S. 418): Vielleicht war es aber auch ganz anders, vielleicht hat Proklos den kompletten Vorgang fehlinterpretiert ... hier scheint alles nur noch willkürlich und überdreht, und eine stabile Argumentation ist nicht mehr erkennbar.
Vassallo möchte der Argumentation von Nesselrath, dass das "Zur-Hand-Nehmen" der Texte (ta grammata labontes) auf Papyri hinweist, nicht folgen (S. 421). Er meint – "meinem Urteil nach" ("a mio giudizio") – das könne auch im übertragenen Sinne zu verstehen sein. Außerdem "wissen wir", dass die Ägypter ihre heiligen Schriften auf Tempeln "veröffentlichten". Und auch die Parallele der Oreichalkos-Stele würde das unterstützen.
Doch nein. Die Wendung des "Zur-Hand-Nehmens" ist recht eindeutig. Wäre es um Tempelwände gegangen, hätte man anders davon gesprochen. Es ist auch völlig falsch, dass die Ägypter ihre heiligen Schriften auf Tempelwänden zu veröffentlichen pflegten. Die Tempelwände sind lediglich die erhalten gebliebenen Überreste, während die meisten Papyri zerstört sind. Hinzu kommt die propagandistische und beschwörende Funktion der Tempelinschriften, die bei Texten auf Papyrus nicht in derselben Weise vorherrschte. Schließlich "unterstützt" die Passage mit der Oreichalkos-Stele gar nichts, hier ist keine Parallele erkennbar.
Das Vorhandensein einer Überlieferung der Atlantisgeschichte auf Papyrus würde das in diesem Artikel aufgebaute Narrativ empfindlich stören, denn es wird fest davon ausgegangen, dass es neben der mündlichen Überlieferung nur die Inschriften auf den Stelen bzw. Tempelwänden gab.
Schließlich wiederholt Vassallo Irrtümer aus dem vorangegangen Artikel über Platons Geschichtsverständnis (S. 419): Die Position des Krantor würde bestätigen, dass Platons Geschichtsverständnis zutiefst hellenozentrisch war. Und dass die Bindung der platonischen Akademie an die Polis Athen zu Krantors Zeit noch stark war. – Doch beides lässt sich so nicht herauslesen. Auch in Ägypten und Atlantis geschah Geschichte. Und Aussagen über die Vergangenheit Athens setzen keine Bindung zu Athen in der Gegenwart voraus.
Wir haben zwei höchst verschiedene Artikel gesehen: Der erste Artikel über Platons Geschichtsverständnis ist in seinen Detailuntersuchungen gut gelungen und von bleibendem Wert. Der zweite Artikel ist jedoch vollkommen verunglückt. Was ist der Unterschied?
Im ersten Artikel ist Vassallo sehr akribisch vorgegangen und ist sehr konsequent seinen eigenen Beobachtungen gefolgt, ohne viel Rücksicht auf andere Autoren nehmen zu müssen. Hier war Vassallo erfolgreich. Im zweiten Artikel jedoch hat sich Vassallo vielfach auf die vorhandene Literatur von Vertretern der Erfindungsthese zu Platons Atlantis gestützt – und ist deshalb zwangsläufig gescheitert. Denn diese Literatur ist voller Fehler und Widersprüche.
Man könnte sagen: Vassallo hatte gar keine Chance. Wenn man sich die zahlreichen Irrtümer ansieht, die er sich zur Voraussetzung genommen hatte, ist das Ergebnis nicht verwunderlich. Das Überdrehen der Argumentation bis hin zu den seltsamsten Pirouetten zeigt einmal mehr, wohin die Erfindungsthese führt, wenn man versucht, sie konsequent zu Ende zu denken. Vassallo ist damit ein weiteres Opfer des schlechten Zustandes der Wissenschaft zum Thema Platons Atlantis.
Cameron (1983): Alan Cameron, Crantor and Posidonius on Atlantis, in: The Classical Quarterly CQ Vol. 33 Nr. 1 (1983); S. 81-91.
Fleischer (2023): Kilian Fleischer, Crantor of Soli as an Early Witness to a Revision of the Timaeus?, in: Olga Alieva / Debra Nails / Harold Tarrant (Hrsg.), The Making of the Platonic Corpus, Band 6 der Reihe: Contexts of Ancient and Medieval Anthropology, Brill Schöningh / Koninklijke Brill NV, Paderborn 2023; S. 152-165.
Franke (2010/2012): Thorwald C. Franke, Aristoteles und Atlantis – Was dachte der Philosoph wirklich über das Inselreich des Platon?, Verlag Books on Demand, Norderstedt 2016.
Franke (2016/2021): Thorwald C. Franke, Kritische Geschichte der Meinungen und Hypothesen zu Platons Atlantis – von der Antike über das Mittelalter bis zur Moderne, 2. Auflage in 2 Bänden, Verlag Books on Demand, Norderstedt 2021. Erste Auflage war 2016. (Zu Krantor S. 39-46, 95-99; Kritik an Alan Cameron S. 212-219; Kritik an Harold Tarrant S. 223-236)
Franke (2021): Thorwald C. Franke, Platonische Mythen – Was sie sind und was sie nicht sind – Von A wie Atlantis bis Z wie Zamolxis, Verlag Books on Demand, Norderstedt 2021.
Franke (2021b): Thorwald C. Franke, Rezension zu: Irmgard Männlein-Robert, Longin – Philologe und Philosoph – Eine Interpretation der erhaltenen Zeugnisse, Dissertation Universität Würzburg Wintersemester 1999/2000, Band 143 der Reihe: Beiträge zur Altertumskunde, Verlag K.G. Saur, München / Leipzig 2001. (Veröffentlicht in Franke (2016/2021) als Anhang)
https://www.atlantis-scout.de/atlantis-maennlein-robert-longin.htm
Nesselrath (2001): Heinz-Günther Nesselrath, Atlantis auf ägyptischen Stelen? Der Philosoph Krantor als Epigraphiker, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik ZPE Nr. 135 (2001); S. 33-35.
Stephens (2016): Susan Stephens, Plato's Egyptian Republic, Kapitel 2 in: Ian C. Rutherford (Hrsg.), Greco-Egyptian Interactions – Literature, Translation, and Culture, 500 BCE-300 CE, Oxford University Press, Oxford 2016; S. 41-59.
Tarrant (2006): Harold Tarrant, Proclus – Commentary on Plato's Timaeus, Vol. 1., hrsgg. und übersetzt von Harold Tarrant, Cambridge University Press, Cambridge / New York 2006. Erstpublikation in gedruckter Form 2007.
Vassallo (2021): Christian Vassallo, Rolling Sisyphus’ Stone Uphill? Plato’s Philosophy of History and Progress Reappraised, in: The Journal of Hellenic Studies JHS No. 141 (2021); S. 179-196.
Vassallo (2023): Christian Vassallo, Crantore lettore del prologo del Timeo: Il fr. 8 Mette tra decostruzione ed ermeneutica, in: Hermes Nr. 151 (2023); S. 405-423.
Zeyl (2000): Donald J. Zeyl, Plato – Timaeus, translated, with introduction, by Donald J. Zeyl, Hacket Publishing Company, Indianapolis / Cambridge, 2000.