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Paradebeispiel für die Befassung
der "Technischen Intelligenz" mit Atlantis

Thorwald C. Franke
© 17. August 2024



Technische Intelligenz (Bing AI)

Diplom-Ingenieur Andreas Möhn alias Codex Regius hat mit "Atlantika" ein Werk geschrieben, das exemplarisch ist für den Umgang von Technischer Intelligenz mit dem Thema Atlantis. Dankenswerterweise schreibt der Autor selbst, dass Platon in diesem Buch "mit den Augen des Technikers und Naturwissenschaftlers" gelesen werden soll (S. 9). Genau das ist es!

Technische Intelligenz

"Technische Intelligenz" ist ein Begriff aus der sowjetischen Terminologie, den wir hier wie folgt verstehen wollen: Es geht um durchaus intelligente und studierte Leute, die ein mathematisches, naturwissenschaftliches oder technisches Studium absolviert haben. Also z.B. Ingenieure, Physiker, Mathematiker, Biologen, Geologen. Aber auch Ärzte zählen dazu, insofern sie nichts weiter als Humanbiologen und medizinische Techniker sind. Diese Leute haben einen sehr selbstbewussten, respektlosen, "materialen" und vernünftigen Zugang zu allen Dingen. Sie wollen zu allem "harte" Fakten und Beweise.

Gegenüber Autoritäten und Traditionen hat die Technische Intelligenz eine skeptische Einstellung. Man versteht sich irgendwie als links und progressiv. Man hat eine unwillkürliche Aversion gegen alles Konservative. Oft wird eine Meinung nur deshalb vertreten, weil sie gegen Autorität und Tradition ist. Nur "die Wissenschaft" wird häufig als unhinterfragbare Autorität anerkannt. Andere Autoritäten werden in den schwärzesten Farben gemalt: Pfaffen betrügen die Menschen. Politker sowieso. Dichter erfinden und lügen nur. Und Unternehmer sind stets raffgierig. Dass es auch Theologen gibt, die selbst an ihre Thesen glauben, oder Politiker, denen es tatsächlich um ihr Land geht, oder Unternehmer mit sozialer Ader – das kommt in einem solchen Weltbild nicht vor. Zugleich schaut die Technische Intelligenz auf Naturwissenschaftler, wie wenn sie Heilige wären, die das Wort Gottes verkünden.

Es kann durchaus sein, dass Angehörige der Technischen Intelligenz Latein oder Griechisch gelernt haben. Doch sie haben einen sehr materialen Bezug zur Wirklichkeit. "Geistige" Dinge sind ihnen nicht geheuer. Auf diesem Gebiet mangelt es der Technischen Intelligenz an Bildung. Sie haben keine Ahnung von Philosophie und Religion und haben deshalb ein höchst oberflächliches Verständnis von Wissenschaft und Wissenschaftstheorie. Sie wissen nichts von historischer Wissenschaft und historischer Kritik. Sie verstehen nicht, wie etwas Wissenschaft sein kann, wenn dort nicht mit "harten" Fakten und Beweisen gearbeitet werden kann. Sie haben auch kein Verständnis für den "Sitz im Leben" alter Texte und interpretieren diese wie Gegenwartstexte. Sie haben auch keine Ahnung von Literatur und deuten literarisch gestaltete Texte regelmäßig falsch. Manchmal schlägt dies ins Gegenteil aus, und die Technische Intelligenz will in ihrer Skepsis z.B. überall Ironie sehen, wo gar keine ist. Gegenüber allen geisteswissenschaftlichen Fragestellungen nimmt die Technische Intelligenz eine flapsige und spöttische Haltung ein. Geisteswissenschaften werden nicht für voll genommen, weil es dort nicht um "harte" Fakten und Beweise geht.

Es ist kein Zufall, dass sehr viele Islamisten, die den Koran wie einen wortwörtlich zu nehmenden Gegenwartstext lesen, der Technischen Intelligenz angehören. Dasselbe gilt für jene Islamkritiker, deren Islamkritik auf einer wortwörtlichen Lesart des Korans beruht, ohne Rücksicht auf den historischen Kontext und die historische Entwicklung der islamischen Religion. Hier bestätigen sich zwei Antipoden gegenseitig in ihren gemeinsamen Irrtümern.

Beispiele "technischen" Irrens

Bereits die Bibliographie des vorliegenden Buches verrät viel über die Defizite der vorliegenden Veröffentlichung: So fehlt z.B. das wegweisende Werk von Edwin S. Ramage: "Atlantis – Fact or Ficton?", in dem wichtige literarische Aspekte verhandelt werden. Darin wäre insbesondere der wegweisende Essay "The Literary Perspective – The Sources and Literary Form of Plato's Atlantis Narrative" von John V. Luce zu finden gewesen, auf den für die Klärung der Frage nach Atlantis unmöglich verzichtet werden kann. Aber eine literarische Perspektive passt eben nicht zur Technischen Intelligenz. Dafür ist das pseudowissenschaftliche Buch des Ingenieurs Otto Muck in der Bibliographie enthalten.

Auch fällt auf, dass die Bibliographie praktisch keine wissenschaftliche Erfindungsthese zu Atlantis auflistet. Weder von Pierre Vidal-Naquet noch von Heinz-Günther Nesselrath noch von Reinhold Bichler. Von Nesselrath ist nur der Kritias-Kommentar enthalten, der natürlich implizit skeptisch ist, aber dies ist nicht die Erfindungsthese von Nesselrath. Wie ist es möglich, dass ein so skeptisches und wissenschaftsorientiertes Buch wie dieses keine Erfindungsthese eines wissenschaftlichen Autors auflistet? Der Grund ist einfach: Die Technische Intelligenz ist sich in ihrer Skepsis so bombensicher, dass sie es nicht für nötig hält, die Argumente einer wissenschaftlichen Erfindungsthese zu konsultieren. Mehr noch: Die Argumente einer wissenschaftlichen Erfindungsthese wären der Technischen Intelligenz vermutlich viel zu "literarisch", um sie zu verstehen und sie ernst zu nehmen.

Und so werden Platons Dialoge gelesen, wie wenn es Texte der Gegenwart wären, und es wird eine Deutung versucht, ohne den historischen Kontext zu beachten. So z.B. bei den 9000 Jahren von Atlantis (S. 89-102). Zunächst wird völlig rational die Hypothese getestet, ob es denn möglich ist, dass Atlantis 9000 Jahre vor Solon existierte. Es ist natürlich nicht möglich, aus verschiedenen Gründen. Eine solche Plausibilitätsüberlegung ist zwar durchaus wertvoll, doch eigentlich überflüssig. Weil das für einen echten Historiker sowieso klar ist. – Aber die einzige Alternative, die überprüft wird, ist das Streichen einer Null, also die Hypothese eines Irrtums in der Zahldarstellung. Gewiss nicht die intelligenteste Hypothese.

Die wahre Bedeutung der 9000 Jahre ist natürlich im historischen Kontext zu finden, nämlich in dem kollektiven Irrtum der alten Griechen über das Alter Ägyptens. Wenn die alten Griechen den legendären ersten Pharao Menes auf eine Zeit vor über 11000 Jahren vor ihrer Zeit ansetzten, dieser aber in Wahrheit bei 3000 v.Chr. anzusetzen ist, dann lautet der Schluss zwingend, dass eine Zahl von 9000 Jahren natürlich auf einen Zeitpunkt nach 3000 v.Chr. hindeutet. – Das vorliegende Buch erwähnt zwar durchaus, dass Ägypten laut Herodot vor 11000+ Jahren gegründet wurde (S. 93). Doch obwohl der Sachverhalt der Technischen Intelligenz direkt vor Augen steht, sieht sie ihn nicht: Die naheligende Schlussfolgerung bleibt aus.

Breiten Raum nehmen mathematisch-naturwissenschaftliche Überlegungen ein: Geographie, Geologie, Ozeanographie, Vulkanologie, Klimawissenschaften, Astronomie, Biologie, Mathematik, Geometrie, Physik, Metallurgie.

Breiten Raum nimmt aber auch das Gestochere in allen möglichen Mythen und vagen Überlieferungen ein. Doch das Verständnis von Mythen und Überlieferungen ist völlig ungenügend. Flapsig wird argumentiert, jede Generation hätte eben Informationen von Vorgängern zusammengestoppelt. Hier schlägt die übertriebene Skepsis gegenüber Autoritäten voll durch: "Geschichtenerzähler" sind für die Technische Intelligenz grundsätzlich nicht ernst zu nehmen. Es wird keine Sekunde auf den Gedanken verschwendet, welche Motivationen und welche Vorstellungen von Wahrheit die jeweiligen Autoren vielleicht hatten. Bis hin zu dem Fauxpas, die Atlantisgeschichte wie einen Mythos zu behandeln – obwohl die Atlantisgeschichte eines gewiss nicht ist: Ein Mythos.

Das Buch als Internet-Diskussion

Die Geisteshaltung der Technischen Intelligenz entfaltet sich in voller Blüte in Internet-Diskussionen. Dort werden Argumente hin und her geschoben, und immer wird nach "harten" Fakten und Beweisen gefragt. Dort wird flapsig über Autoritäten und Geisteswissenschaften hinweggegangen. Man fühlt sich links, progressiv, aufgeklärt – und ist doch völlig auf dem Holzweg. Nicht zufällig ist auch das vorliegende Buch als Dialog gehalten. Es wurde nämlich inspiriert durch Internet-Diskussionen, die tatsächlich stattgefunden haben.

Leider führt die Dialogform zu großer Unübersichtlichkeit. Das Buch ist auf diese Weise nicht thematisch sortiert, sondern die Themen werden entlang einer Besprechung der beiden Atlantisdialoge Platons aufgegriffen. Das ist wenig systematisch und auch die Kapitelüberschriften spiegeln mehr die Inhalte der Dialoge als die diskutierten Thesen. Wie in einem Internet-Forum wird nicht nach Inhalten und Themen vorgegangen, sondern assoziativ gesprungen. Auf diese Weise sind jedoch wesentliche Erkenntnismöglichkeiten verschenkt worden, die nur aus einer systematischen Zusammenschau entspringen können.

Auf Quellenangaben wurde weitgehend verzichtet. Nur selten einmal ist der Name eines Autors eingestreut. Diese Autoren sind tatsächlich in der Bibliographie aufgeführt, doch werden die Namen immer ohne Seitenangabe genannt.

Weitere Fehler

Es wird behauptet, dass die Atlantisgeschichte zahlreiche europäische Sagen und arabische Märchen angeregt hätte (S. 8). Von solchen Sagen und Märchen ist jedoch nichts bekannt. Es gibt sie nicht. – Im späten Mittelalter wäre Atlantis auf Karten als existente Insel eingezeichnet worden (S. 8). Nein, im Mittelalter wurde Atlantis zwar immer wieder erwähnt, und zwar auch als realer Ort, wie ich 2016 mit meinem Buch "Kritische Geschichte ..." zeigen konnte, aber immer nur als versunkene Insel. – Weiter heißt es, die Spanier hätten auf ihrem Weg nach Amerika darauf gehofft, auf Atlantis zu stoßen (S. 8). Auch das ist falsch, Atlantis galt damals als versunkene Insel.

Aristoteles hätte sich in einem bei Strabon überlieferten Wort angeblich gegen die Existenz von Atlantis ausgesprochen (S. 17). Doch das ist falsch. Dieser weit verbreitete, kollektive Irrtum wurde im Jahr 2010 durch mein Buch "Aristoteles und Atlantis" schwer erschüttert. Seitdem lassen immer mehr Autoren diese Behauptung stillschweigend fallen. Einige wenige haben offen zugegeben, dass die Behauptung erschüttert wurde, und haben damit begonnen, einen anderen Autor für das fragliche Zitat ausfindig zu machen. Wieder andere versuchen, mit höchst umständlichen und wenig schlüssigen Argumentationen die These von der Autorschaft des Aristoteles zu retten. Die These von der Autorschaft des Aristoteles für das fragliche Zitat kam Anfang des 19. Jahrhunderts nachweislich durch einen Irrtum in die Welt.

Platon wird ein pessimistisches Geschichichtsbild des fortwährenden Kulturverfalls unterstellt (S. 12 f.). Doch das ist falsch. Platon hatte ein zyklisches Geschichtsbild, in dem es mal bergauf und mal bergab ging. Seine eigene Zeit sah Platon am Ende eines langen Aufschwungs, der nur noch durch die Realisierung des Idealstaates hätte gekrönt werden müssen. Es ist also falsch, dass Platon meinte, früher wäre alles besser gewesen. Hier zeigt sich die flapsige Skepsis der Technischen Intelligenz, und ihre politisch linke Orientierung, denn offenbar will man in Platon einen Erzkonservativen sehen, wie man ihn als Schreck- und Zerrbild in der eigenen Zeit vor Augen hat. Vielleicht eine Reaktion auf den konservativen Politiker Franz-Joseph Strauß, der hin und wieder seine klassische Bildung zeigte?

Ebenso falsch ist es, in dem Dialogteilnehmer Kritias kurzerhand Kritias den Tyrannen zu sehen (S. 25). Das ist bei Anhängern der Erfindungsthese zwar sehr beliebt, um die Darstellung von Atlantis durch Kritias ins Zwielicht eines Tyrannen rücken zu können, doch gibt es mit einem älteren Kritias eine bessere Alternative, die auch chronologische Schwierigkeiten löst. Viele Wissenschaftler neigen deshalb dazu, den älteren Kritias in dem Dialogteilnehmer Kritias zu sehen. Doch davon erfährt man in diesem Buch nichts.

Bei der Darstellung der Atlantisgeschichte als moralischer Mythos, bei dem "die Bösen" (die Atlanter) am Ende untergehen, wird unterschlagen, dass am Ende auch "die Guten" (also die Ur-Athener) untergehen, weshalb es kein moralischer Mythos sein kann (S. 7). Um das zu wissen, hätte man z.B. das Buch von Wilhelm Brandenstein konsultieren können, das ebenfalls nicht in der Bibliographie aufgeführt wird.

Und es ist auch unzutreffend, dass die Suche nach Atlantis erst mit Ignatius Donnelly begann. Donnelly machte das Thema populär. Aber Atlantisthesen gab es auch vor Donnelly schon. Man denke nur an Olof Rudbeck oder Carlos de Sigüenza. Der wahre Grund, warum die Anzahl der Hypothesen zur Zeit von Donnelly zu explodieren begann, ist ein anderer: Damals – nicht vorher! – wurde das Thema Atlantis von der etablierten Wissenschaft pauschal dem Bereich der Pseudowissenschaft zugewiesen. Erst diese undifferenzierte Vernachlässigung des Themas machte das Wuchern der Pseudowissenschaft möglich. Diese These wurde 2016 erstmals in meinem Buch "Kritische Geschichte der Meinungen und Hypothesen zu Platons Atlantis" veröffentlicht, also erst nach der Veröffentlichung des vorliegenden Buches.

Soweit ein kurzer Abriss von typischen Fehlern, die allein auf den ersten 25 Seiten aufgefallen sind.

Fazit

Um zu sehen, wie in einem ganz bestimmten Milieu, nämlich dem Milieu der Technischen Intelligenz, typischerweise über die Frage nach Atlantis gedacht wird, ist dies ein hervorragendes Buch. Der Leser wird fortwährend auf falsche Fährten geführt, weil der Autor im Horizont seines Verständnisses gefangen ist.

Man kann dieses Buch aber auch als Selbsttest lesen. Denn hier werden auf 440 Seiten eine große Zahl von Fragen rund um Atlantis angesprochen: Wer sich ernsthaft mit Atlantis befassen möchte, muss zu all diesen Fragen Antworten finden. Bessere Antworten.

Lob der Technischen Intelligenz

Ganz zum Schluss müssen wir doch noch eine Lanze für die Technische Intelligenz brechen: Denn ohne sie geht es auch nicht. Denn genauso schlimm ist eine bloß "Literarische Intelligenz". Diese ist in ständiger Gefahr, zur bloßen Geschwätzwissenschaft zu verkommen.

Erst die Kombination von beidem bringt den Erfolg: Die Literarische Intelligenz muss sich für die Bodenständigkeit der Technischen Intelligenz öffnen, und die Technische Intelligenz muss sich für "literarisches" Denken öffnen. Dann kann es was werden. Auch in diesem Sinne könnte dieses Buch für manche eine heilsame Lektüre sein.

Offenlegung: Der Autor dieser Rezension ist Diplom-Informatiker, also zunächst eindeutig ein Angehöriger der Technischen Intelligenz. Durch einem Biologen als Vater und eine Buchhändlerin als Mutter hatte der Autor jedoch von jeher Zugang zu beiden Welten.

Bibliographie

Übersicht: Vernünftige Literatur zur Einführung in Platons Atlantis.


Möhn (2014): Codex Regius (Pseudonym), Atlantika – Was Platon wirklich sagte – Ein Dialog, zweite überarbeitete Neuauflage, Codex Regius Books, Wiesbaden / Lubljana 2014. Erste Auflage: Andreas Möhn, Atlantika – Was Platon wirklich sagte – Der Atlantismythos neu untersucht, Verlag Unbekannt, 2009.

Brandenstein (1951): Wilhelm Brandenstein, Atlantis – Größe und Untergang eines geheimnisvollen Inselreiches, Heft 3 aus der Reihe: Arbeiten aus dem Institut für allgemeine und vergleichende Sprachwissenschaft Graz, herausgegeben von Wilhelm Brandenstein,Verlag Gerold & Co., Wien 1951.

Franke (2010/2016): Thorwald C. Franke, Aristoteles und Atlantis – Was dachte der Philosoph wirklich über das Inselreich des Platon?, zweite erweiterte Auflage 2016, Verlag Books on Demand, Norderstedt 2016.

Franke (2016/2021): Thorwald C. Franke, Kritische Geschichte der Meinungen und Hypothesen zu Platons Atlantis – von der Antike über das Mittelalter bis zur Moderne, 2. Auflage in 2 Bänden, Verlag Books on Demand, Norderstedt 2021. Erste Auflage war 2016.



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