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Sarah Broadie stößt mit völlig irrigen Thesen auf Akzeptanz bei Christopher Gill

Rezension und Bewertung dieser aktuellen Entwicklung der These von der Erfindung von Platons Atlantis

Thorwald C. Franke
© September 2017



Sarah Broadie hatte sich ursprünglich nicht mit Platons Atlantis, sondern mit der Kosmologie in Platons Timaios befasst. Dabei entstanden erste Thesen zu Platons Atlantis, die sie dann 2013 in einem eigenen Artikel entfaltete. Durch ihren Zugang von der ernstzunehmenden Kosmologie des Timaios her hat Broadie einen etwas anderen Ansatz als andere Atlantisskeptiker. Und anders als andere Atlantisskeptiker führt Broadie ihren Ansatz auch konsequent zu Ende. Ihre Thesen zeigen exemplarisch, wie die These von der Erfindung von Atlantis zu aberwitzigen Schlussfolgerungen führt, wenn man sie konsequent zu Ende denkt. Und doch finden die Thesen von Broadie Akzeptanz.


Die Thesen von Sarah Broadie

Eine der Ausgangsthesen von Broadie ist, dass bereits die Zeitgenossen von Platon "ohne weiteres" hätten erkennen können, dass die Atlantisgeschichte nicht wahr sein kann. Dazu führt sie im wesentlichen zwei Argumente an: Zunächst die 9000 Jahre, die die Ereignisse zurückliegen sollen (Broadie (2013) S. 250 Fußnote 3). Dabei übersieht sie völlig, dass Platon in einer Zeit schrieb, in der man Ägypten für 11000 Jahre alt und älter hielt. Vor diesem Hintergrund fallen die 9000 Jahre nicht als unmöglich auf.

Dann tut Broadie alles dafür, die Überlieferungsgeschichte der Atlantisgeschichte aus Ägypten lächerlich zu machen. Dazu zieht sie vor allem rhetorisch – weniger argumentativ – alle Register, und das wiederholt an mehreren Stellen des Artikels, um den Leser regelrecht auf ihre Linie einzuschwören (Broadie (2012) S. 130; Broadie (2013) S. 260, 264 f.). Eine Diskussion jener Literatur, die die Überlieferungsgeschichte nicht für "lächerlich" hält, findet bei Broadie nicht statt.

Auf der argumentativen Ebene beginnt Broadie mit der vieldiskutierte Differenz zwischen den 9000 und den 8000 Jahren in Platons Atlantisdialogen. Diese deutet sie dahingehend, dass die Atlantisüberlieferung erst 1000 Jahre nach den Ereignissen in Ägypten ankam (Broadie (2012) S. 130). Was falsch ist. Die Atlantisgeschichte wurde zur Zeit des Krieges von Atlantis gegen alle Länder des östlichen Mittelmeerraumes in Ägypten aufgezeichnet. Nur die Stadt der Neith, Sais, soll tausend Jahre später gegründet worden sein. Außerdem hebt Broadie – wie üblich – sehr auf die mündliche Überlieferung ab, und versteckt die Schriftlichkeit der Überlieferung in einer Fußnote (Broadie (2012) S. 130 Fußnote 30). An anderer Stelle meint sie, dass es keine Zeugenschaft aus erster Hand für die überlieferten Ereignisse gäbe (Broadie (2013) S. 260). Insofern geschichtliche Überlieferungen grundsätzlich niemals Zeugenaussagen aus erster Hand sind, da die Zeugen vergangener Zeiten bekanntlich tot sind, macht diese Aussage keinen Sinn. Insofern aber die Überlieferung in Ägypten schriftlich festgehalten worden sein soll, und auch von Solon schriftlich nach Griechenland gebracht worden sein soll, liegt eine äußerst akzeptable Quellenlage vor – zumindest Dialog-immanent.

Dann meint Broadie überraschenderweise, dass die Dialogsituation offenbar in einer Welt spiele, in der die Schlacht von Marathon nicht stattgefunden habe (Broadie (2012) S. 129; Broadie (2013) S. 250 Fußnote 3). Denn es könne ja gar nicht sein, so Broadie, dass die Athener neben Marathon noch eine zweite große Tat begangen hätten. Also meint Broadie kurzerhand, dass es Marathon in der Dialogwelt nicht gab, und das wäre damals natürlich jedem Leser Platons aufgefallen. Jeder Leser hätte in dem Krieg gegen Atlantis natürlich sofort Marathon erkannt.

Diese These zu Marathon ist eine ziemlich steile These. Nichts in Platons Atlantisdialogen weist darauf hin, dass es Marathon nicht gegeben habe. Und es gibt keinen Grund, Marathon als ein derart singuläres Ereignis anzunehmen, dass es nicht auch andere große Taten in der Vergangenheit Athens – noch dazu in ferner Vergangenheit im Sinne von Platons zyklischem Geschichtsbild – gegeben haben könnte. Die Deutung des Krieges gegen Atlantis im Hinblick auf die Perserkriege ist schon verständlicher, aber auch dazu gibt es gewichtigen Dissens, den Broadie nicht diskutiert. Zudem meint Broadie an späterer Stelle im selben Artikel, dass sie der These von Bartoli und Vidal-Naquet folge, dass der Kampf von Ur-Athen und Atlantis den Kampf eines guten Athen gegen ein schlechtes Athen spiegele (Broadie (2013) S. 253 Fußnote 10). Wo sind dann aber plötzlich die Perserkriege geblieben? Sollen beide Deutungen zugleich enthalten sein?! Und das alles soll der Leser angeblich klar erkennen können?!

Broadie hat überhaupt nicht begriffen, dass Platon im Rahmen seines zyklischen Geschichtsbildes ein Ur-Athen 9000 Jahre vor seiner Zeit durchaus für möglich halten konnte, inklusive der wiederkehrenden Naturkatastrophen, des kulturellen Vergessens und des kulturellen Wiederaufbaus. Statt dessen deutet Broadie die 9000 Jahre einfach als irrwitzig große Zeitspanne, deren Irrwitzigkeit ein Hinweis auf die Erfindung von Atlantis sei. Dies wird daran deutlich, wie sie diese Zeitspanne bezeichnet: Broadie redet rhetorisch geschickt von "hyper-archaic", "ultra-ancient", dem "almost unimaginably remote event", "fantastic legend", "fantastic by real standards", oder von der "once-upon-a-time wonderful city" (Broadie (2013) S. 249, 260, 264, 265, 266, 267). Diese letzte Aussage zeigt auch, dass Broadie nicht verstanden hat, dass Ur-Athen und Atlantis von Platon eben nicht als Wunderstädte gezeichnet wurden. Bei Herodot finden wir größere Bauten, größere Armeen, und sogar Ägypten ist älter als Atlantis.

Wir nähern uns nun der zentralen These von Broadie. Diese These macht sich an einem Umstand fest, den die meisten Atlantisskeptiker leichthin abtun, Broadie aber völlig ernst nimmt, weil sie nämlich von der Befassung mit der Kosmologie des Timaios herkommt: Wie kann es sein, dass die Kosmologie Platons im Timaios, die zweifelsohne ernst zu nehmen ist, sich in unmittelbarem Zusammenhang mit einer – ihrer Meinung nach – erfundenen Geschichte befindet?

Viele haben versucht, die Atlantiserzählung als Täuschung zu deuten, die nur von den "Wissenden" erkannt wird. Abgesehen davon, dass es trotz der Idee des Täuschungsmythos hochproblematisch ist, Platon ohne weiteres eine platte Täuschung zu unterstellen, und diese Deutung an vielen Punkten scheitert, krankt diese Deutung natürlich daran, dass ihre Vertreter behaupten, zu den "Wissenden" zu gehören, die die Täuschung erkennen können – und wer sie nicht erkennt, der gehört eben nicht zu den "Wissenden". Eine solche These hat sich hermetisch gegen Kritik abgeriegelt und ist dogmatisch.

Doch Broadie verfängt sich nicht in dieser dogmatischen Subtilität, sondern behauptet, dass die Unwahrheit der Darlegung für Platons Zeitgenossen klar erkennbar war. Damit widerspricht sie allen, die die Atlantiserzählung als Täuschung auffassen. Und das sind ziemlich viele. Doch Broadie diskutiert das nicht.

Broadie steuert zielstrebig einen anderen Ausweg aus dem Dilemma an, das jeder Erfindungsthese zwingend einbeschrieben ist. Sie findet ihn in einer weiteren aberwitzigen, übersteilen These, die das Zentrum ihres Artikels ist: Broadie behauptet, dass Platon ganz bewusst eine erkennbar falsche Darlegung in unmittelbarem Zusammenhang mit einer ernstgemeinten Darlegung verfasst habe, um den Leser dazu zu erziehen, seine eigene Urteilskraft zu benutzen (Broadie (2013) S. 251, 256 f., 268). Der Leser soll sich also wundern, was das soll, und dann dankbar erkennen, wie klug Platon dies doch eingerichtet hat, Unwahrheit und Wahrheit in einen direkten Zusammenhang zu setzen, um ihn, den Leser, zu belehren. Man könnte dieses Verfahren mit einem "Grubenhund" im Journalismus vergleichen, bzw. mit einem wissenschaftlichen Artikel, der bewusst darauf abzielt, mit Nonsens durch einen Peer-Review-Prozess hindurch zu kommen (Vgl. z.B. die "Sokal-Affäre" von 1996).

Doch: (a) Bis heute hat dies kein Leser jemals so erkannt. Es ist auch ziemlich schwierig zu erkennen, wenn überhaupt. Wenn es aber nicht wirklich erkennbar ist, ist Broadie dann nicht auf dem Holzweg? (b) Hätte sich Platon nicht ganz einfach lächerlich vor seinen Lesern gemacht, wenn es wirklich so wäre? "Grubenhunde" im Journalismus und wissenschaftliche Nonsens-Artikel zielen schließlich darauf ab, die veröffentlichende Zeitschrift lächerlich zu machen und ihre Standards als falsch zu entlarven. Die "veröffentlichende Zeitschrift" wäre hier aber Platon selbst. (c) Hätte Platon nicht die Akzeptanz seiner ernstgemeinten Thesen gefährdet, wenn er sie ohne Vorwarnung mit unwahren Thesen in enge Verbindung gebracht hätte? – Auf solche Fragen findet sich keine Antwort bei Broadie. Es finden sich noch nicht einmal die Fragen.

Jedenfalls kulminiert der Artikel von Broadie in der Behauptung, dass Kritias ein Charakter sei, "who is constructed as a contradiction that is unaware of itself." (Broadie (2013) S. 256) Lesen Sie diese These bitte zweimal, um sie richtig zu verstehen. Auf der einen Seite würde Kritias glauben, dass seine Erzählung wahr ist, auf der anderen Seite würde er sich unbewusst (!) so verhalten, als sei die Frage nach der Wahrheit der überlieferten Atlantiserzählung völlig irrelevant, so Broadie. Diese Irrelevanz ist – wenn wir Broadie richtig verstehen – so zu verstehen wie die Frage nach der Wahrheit von Platons Phaidros-Mythos von Theut und Thamus, wie sie im Dialog Phaidros von Sokrates zum Ausdruck gebracht wird: Nicht die Wahrheit des Phaidros-Mythos ist von Bedeutung, sondern dessen Botschaft. Wobei Sokrates übrigens deutlich macht, dass er selbst unabhängig davon sehr wohl an die Wahrheit des Phaidros-Mythos glaubt. Aber das nur am Rande.

Kritias ist sich der Unwichtigkeit der Historizität der Atlantisüberlieferung also nicht bewusst, so Broadie, Sokrates aber sehr wohl. Die klare Aussage des Sokrates, dass es besser ist, den Idealstaat anhand einer wahren Geschichte zu verlebendigen, als anhand einer erfundenen Geschichte (Timaios 26e), wird von ihr – natürlich – ironisch gedeutet, oder besser: sarkastisch (Broadie (2013) S. 263). Sokrates würde Kritias einfach reden lassen, und ihn lediglich sarkastisch in seinem Irrglauben bestärken, dass eine wahre Geschichte besser sei als eine erfundene, weil es ihm, Sokrates, im Grunde egal ist. Für Sokrates kommt es nicht darauf an, also lässt er den Dummkopf Kritias einfach reden: Das ist Broadies Deutung. Dazu deutet sie die Wendung pammega pou in der Wahrheitsaussage des Sokrates mit einer entsprechend sarkastischem Unterton. Die Deutung dieser Wendung ist – wie sollte es anders sein – jedoch hoch umstritten. Es könnte darin auch ganz einfach gar kein Unterton liegen. Man sollte auf dieser Ironie-Behauptung jedenfalls keine allzu weitreichenden Thesen aufbauen. Doch Broadie tut genau dies.

Zur Person des Dialogteilnehmers Kritias formuliert Broadie ihre nächste übersteile These. Broadie erklärt nämlich, es sei im Grunde egal, welcher Kritias gemeint sei, denn in jedem Fall würde der Name Kritias die Erinnerung an Kritias den Tyrannen evozieren, selbst wenn es nicht Kritias der Tyrann wäre (Broadie (2013) S. 253). Damit wischt sie die ganze Diskussion um die Person des Kritias vom Tisch, und das, ohne irgendwelche Argumente vorzubringen, warum denn der Dialogteilnehmer Kritias wenigstens an Kritias den Tyrannen erinnert. Allein der Name "Kritias" genügt ihr. Das ist entschieden zu wenig an Unterfütterung für eine derart steile These.

Dann kommt Broadie zur zweiten großen These ihres Artikels. Anders als viele Atlantisskeptiker hat Broadie nämlich den Satz des Kritias, dass er die Bürger aus Platons Idealstaat in das Ur-Athen aus der historischen Überlieferung versetzen will, nicht überlesen (Timaios 26cd). Leider begeht Broadie in diesem Zusammenhang eine ganze Reihe weiterer Irrtümer. Zunächst deutet sie den Satz falsch herum: Broadie glaubt, dass Kritias das Ur-Athen aus der historischen Überlieferung zum Maßstab nimmt, und nicht die Ur-Athener durch die Bürger von Platons Idealstaat ersetzt, sondern umgekehrt die Bürger des Idealstaates durch die Ur-Athener ersetzt (Vgl. z.B. Broadie (2013) S. 262: "replaced by the citizens of ancient Athens").

Darin fühlt sie sich auch bestärkt durch den Satz des Kritias in Timaios 25e, dass Platon mit seinem Idealstaat nahe an das überlieferte Ur-Athen gekommen wäre (Broadie (2013) S. 267). Es ist zwar richtig, dass Kritias den Vergleich von Idealstaat und Ur-Athen dadurch ausdrückt, dass er die Abweichungen als Abweichungen von Platons Idealstaat zum überlieferten Ur-Athen ausdrückt. Aber der Grund dafür ist nicht, dass Ur-Athen für Kritias der moralische Maßstab wäre, sondern der Grund dafür ist, dass für Kritias Ur-Athen eben vorher bekannt war, und er während der Entfaltung der Gedanken des Platon zu dessen Idealstaat immer wieder den Vergleich zu Ur-Athen zog, und den Idealstaat immer näher an Ur-Athen heranrücken sah. Kritias drückt also kein Werturteil aus, wenn er in Timaios 25e Ur-Athen zum Maßstab des Vergleiches macht, und in Timaios 26cd sagt Kritias es dann richtig: Der Idealstaat ist der Maßstab, der anstelle von Ur-Athen in die historische Überlieferung eingesetzt wird – was Broadie aber leider falsch herum gedeutet hat.

Broadie glaubt auch, dass Kritias dem Vortrag des Sokrates über den Idealstaat gar nicht richtig zugehört habe, weil er sagt, dass er sich am Folgetag nicht mehr an alles erinnern könne, was Sokrates über den Idealstaat gesagt habe, dass er sich aber noch gut erinnern könne, was er als junger Mensch über Ur-Athen gehört habe (Timaios 26b). Broadie deutet dies – wiederum rhetorisch stark – als "it went in one ear and out the other" (Broadie (2013) S. 267). Das ist aber eine völlig übertriebene Deutung der Aussage, dass sich Kritias nicht mehr an alles erinnern könne, was am Vortag vorgetragen wurde. Zudem lässt Broadie in diesem Zusammenhang ungesagt, dass Kritias direkt im Anschluss an Timaios 25e sagt, dass er sich während des Vortrages von Sokrates über den Idealstaat nicht gut an Ur-Athen erinnern konnte. Diese Erinnerung frischte er erst am Abend nach dem Vortrag auf. Kritias folgte dem Vortrag des Sokrates also sehr wohl aufmerksam.

Dann meint Broadie, Kritias würde die Atlantiserzählung völlig unphilosophisch vortragen, was seine Unfähigkeit zur Erfassung des philosophisch erarbeiteten Idealstaates zeigen würde (Broadie (2013) S. 266). Damit meint sie, dass Kritias immer wieder hätte einen Kommentar einfließen lassen müssen, dass dieses oder jenes mit dem Idealstaat von Platon übereinstimmt. Doch das ist falsch. Hier ist es nun wirklich der Leser, der die Übereinstimmungen gut erkennen kann. Und außerdem wurde für das Ende des Vortrages von Kritias eine Überprüfung angekündigt, ob sein Vortrag tauglich war, den Idealstaat lebendig zu zeigen: Hier wären dann solche Kommentare zu erwarten gewesen.

Überhaupt hat Broadie nicht verstanden, von welcher Qualität die Atlantiserzählung des Kritias ist. Es handelt sich nämlich nicht um die simple Nacherzählung der historischen Überlieferung, wie sie glaubt, sondern um einen eikos mythos, der auf der Grundlage der historischen Überlieferung von Kritias entwickelt wird, indem er Ur-Athen, das dem Idealstaat nur ähnlich aber nicht identisch mit ihm war, zum vollen Idealstaat ergänzt, wie er von Sokrates philosophisch erarbeitet wurde. Statt dessen glaubt Broadie, dass auch Ur-Athen innerhalb der Dialogwelt als ein vollkommener Staat betrachtet wird (Broadie (2013) S. 258, 265-267). Das ist aber falsch, wie wir sahen.

Das Ur-Athen der Überlieferung wird im Dialog nur vom ägyptischen Priester in höchsten Tönen gepriesen (Timaios 23c: polis kata panta eunomotate), aber das wird von den Dialogteilnehmern offenbar nicht völlig ernst genommen, sonst müsste Ur-Athen nicht zum vollen Idealstaat ergänzt werden. Auch die Stadt Lokris des Dialogteilnehmers Timaios wurde zuvor schon in gleicher Weise gepriesen (Timaios 20a: eunomotates), aber mehr als eine Annäherung an den Idealstaat will damit gewiss nicht ausgedrückt sein. Sonst wäre ja Lokris der perfekte Idealstaat gewesen! Der Grund dafür, dass das von Athene herangezogene Ur-Athen nicht völlig perfekt ist, könnte z.B. sein, dass es von Athene in die Unabhängigkeit entlassen wurde, und von diesem Moment an begann, zwar langsam aber sicher immer unperfekter zu werden. Eines Tages zerfällt selbst der Idealstaat, sagt Platon (Politeia VIII 546a).

Und gemäß der Vorgabe der Politeia ist Sokrates schon zufrieden, wenn in der Vergangenheit oder anderswo nur eine Annäherung an den Idealstaat gefunden wird (Vgl. Politeia VI 499cd, V 472e-473b). Angesichts dieser Vorgabe aus der Politeia ist es auch ganz falsch, wenn Broadie meint, dass es für Sokrates völlig unwichtig gewesen wäre, ob ein solcher Staat jemals existiert habe (Broadie (2013) S. 264). Aber das kann man nur verstehen, wenn man Platons zyklisches Geschichtsbild verstanden hat.

Indem Broadie die grundsätzliche Qualität der Atlantiserzählung des Kritias als eikos mythos nicht verstanden hat, kann sie natürlich nur an dessen Deutung scheitern, und sie ist auch nicht in der Lage, diesen eikos mythos von der zugrunde liegenden, mutmaßlich historischen Überlieferung zu unterscheiden. Broadie verstrickt sich hier wie auch sonst in ein schier unentwirrbares Knäuel von Irrtümern.

Zum Schluss wollen wir nur noch einen der vielen kleinen Irrtümer nennen, der Broadie unterlaufen ist: Broadie behauptet, dass es doch seltsam sei, dass niemand aus der Familie von Solon und Kritias die Überlieferung von Ur-Athen jemals zu einer politischen Argumentation benutzen wollte (Broadie (2013) S. 265). Doch abgesehen davon, dass dass Ur-Athen eben nicht der vollkommene Idealstaat war, und dass der Idealstaat auch erst als solcher erkennbar wird, wenn er philosophisch erdacht wurde (wenigstens das hätte Broadie begreifen müssen, vgl. ihre Ausführungen zu Immanuel Kant in Broadie (2013) S. 264!), müssen wir festhalten, dass es eben doch ein Familienmitglied gab, das diesen Text für eine politische Argumentation benutzen wollte: Nämlich Solon selbst, der daraus bekanntlich ein Epos machen wollte. Und am Ende macht ja auch noch ein zweites Familienmitglied etwas aus dieser Überlieferung, nämlich Platon selbst.

In einer Fußnote (Broadie (2013) S. 265 Fußnote 30) – wie auch anders – kommt Broadie dann doch auf den Gedanken zu sprechen, dass Solon ein Epos daraus hätte machen können, aber nicht in dem Sinne, dass Solon diese wirklich wollte – was ebenfalls falsch ist, denn Solon vollendete sein Epos nicht, also hatte er damit wohl begonnen bzw. zumindest den Plan dazu gefasst (Timaios 21cd).


Fassen wir zusammen

Die Hypothese von Broadie ist eine Orgie von Irrtümern. Eine Orgie von großen und kleinen Irrtümern, die sich gegenseitig stützen und ineinander verstricken. Eine Orgie von Irrtümern, die für den Leser klar erkennbar sind.

Wir sind versucht, die Vermutung anzustellen, dass Broadie diese Hypothese in genau dem Sinn geschrieben hat, den sie Platon bei der Abfassung der Atlantisgeschichte unterstellt: Als eine Art "Grubenhund", als einen Artikel, der vom Leser klar als falsch erkannt sein will. Und der dadurch die Urteilskraft des Lesers stärken will. Sollte dies so sein, dann müssten wir Broadie dankbar sein für die Weckung und Schärfung unserer Urteilskraft.

Allerdings wird man zugeben müssen, dass dies doch eine seltsame Art der Kommunikation ist, falls Broadie den Artikel wirklich als "Grubenhund" gemeint haben sollte. Wenn man mit dieser Deutung des Artikels als "Grubenhund" nicht einverstanden sein sollte, dann wird einmal mehr deutlich, dass diese Deutung auch für die Atlantiserzählung Platons nicht zutreffen kann. Broadies Artikel ist wohl doch einfach nur irrig. So wie auch Platons Atlantis einfach nur irrig ist, aber keine Erfindung.

Ansonsten ist die Hypothese von Broadie unter dem Gesichtspunkt interessant, dass Broadie einen anderen Ansatz hat als viele andere Atlantisskeptiker, und dass sie ihren Ansatz anders als viele Atlantisskeptiker konsequent zu Ende denkt. Man kann bei Broadie sehen, wie willkürlich man diesen oder jenen Ansatz der Erfindungsthese bevorzugt oder übergeht, und wohin man kommt, wenn man die Erfindungsthese konsequent zu Ende denkt: In ein Chaos von sich ineinander verstrickenden Irrtümern.


Akzeptanz bei Christopher Gill

Leider müssen wir konstatieren, dass diese sich aufeinander auftürmenden und sich ineinander verstrickenden Irrtümer von Sarah Broadie unter universitären Atlantisskeptikern freundliche Aufnahme finden. Christopher Gill übernahm 2017 wesentliche Teile von Broadies Hypothese in eine überarbeitete Neuauflage seiner detailreich kommentierten Ausgabe von Platons Atlantisdialogen. Darin bekennt sich Gill auch klar zu dem großen Einfluss von Broadie auf seine Sicht der Dinge, und verteidigt Broadies Hypothese gegen Zweifler als "powerfully argued" (Gill (2017) S. ix, 7, u.v.a.). Irgendeine Form von Widerspruch gegen die völlig irrigen Thesen von Broadie formuliert Gill nicht.

Christopher Gill ist nicht irgendjemand: Man kann Christopher Gill ohne weiteres als einen weltweit führenden Vertreter der akademischen Atlantisskepsis bezeichnen. Es ist traurig, auf welchem bedauerlichen Niveau die akademische Atlantisskepsis derzeit operiert. Wir sind offenbar an einem Punkt angelangt, an dem man ernstgemeinte Artikel zur Erfindung von Atlantis nicht mehr von einem "Grubenhund" unterscheiden kann.


Bibliographie

Broadie (2012): Sarah Broadie, Nature and Divinity in Plato’s Timaeus, Cambridge University Press, Cambridge / New York 2012.

Broadie (2013): Sarah Broadie, Truth and Story in the Timaeus-Critias, in: George Boys-Stones / Dimitri El Murr / Christopher Gill (Hrsg.), The Platonic Art of Philosophy, Festschrift für Christopher Rowe, Cambridge University Press, Cambridge / New York 2013; S. 249-268.

Gill (2017): Christopher Gill, Plato's Atlantis Story – Text, Translation and Commentary, Liverpool University Press, Liverpool 2017.


Web links

https://de.wikipedia.org/wiki/Sarah_Broadie

https://de.wikipedia.org/wiki/Sokal-Affäre



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