Rezension zu: Irmgard Männlein-Robert, Longin – Philologe und Philosoph – Eine Interpretation der erhaltenen Zeugnisse, Dissertation Universität Würzburg Wintersemester 1999/2000, Band 143 der Reihe: Beiträge zur Altertumskunde, Verlag K.G. Saur, München / Leipzig 2001.
Rezension von: Thorwald C. Franke, Frankfurt am Main / Deutschland, Februar 2021.
Bei dem von Irmgard Männlein-Robert 2001 in gedruckter Form vorgelegten Werk zu Longinos handelt es sich um ihre Dissertation, die durch Michael Erler an der Universität Würzburg, einem der einsichtsvollsten und kenntnisreichsten Platonforscher unserer Zeit, betreut wurde. Beigetragen zu dieser Arbeit hat auch eine Kooperation mit Luc Brisson, einem sehr bekannten französischen Platonforscher. Männlein-Robert hat sich seitdem mit weiteren Veröffentlichungen zu Platon und Platonismus hervorgetan und ist zur Professorin aufgestiegen.
Männlein-Roberts Arbeit ist ein klassischer philologischer Kommentar. Auf knapp 650 Textseiten werden die verschiedenen zu Longinos erhaltenen Fragmente systematisch zusammengestellt und umfangreich kommentiert. 2636 Fußnoten wurden dabei gesetzt. Hinzu kommt ein 150 Seiten starker Apparat von mehreren Indizes zu Stellen, Autoren und Sachen, sowie ein ausgedehntes Literaturverzeichnis. Dies ist nicht irgendeine Publikation über Longinos, dies ist ohne Frage das aktuelle Standardwerk zu Longinos. Malcolm Heath und Heinz-Günther Nesselrath haben in ihren Rezensionen allerdings einige Verbesserungsmöglichkeiten genannt, siehe dort.
Das Werk entstand wenige Jahre bevor Harold Tarrant 2006 seine Übersetzung des Timaios-Kommentars von Proklos mit einer reichhaltigen Kommentierung vorlegte. Bei Proklos sind die wichtigsten Fragmente zu Longinos enthalten. Es bleibt unverständlich, warum Männlein-Robert keine Erwähnung bei Tarrant gefunden hat.
Diese Rezension widmet sich dem vorliegenden Werk unter der Perspektive der Atlantisfrage. Alles in allem befassen sich etwa 70 der rund 650 Textseiten der Arbeit von Männlein-Robert direkt oder indirekt mit Platons Geschichte von Ur-Athen und Atlantis im Timaios-Kritias, das sind rund 10%.
Technischer Hinweis: Griechische Worte werden in lateinischer Transkription und kursiv ohne Akzentuierung wiedergegeben.
Kassios Longinos (ca. 212-272 n.Chr.) lebte zur Zeit des Neuplatonismus, wird selbst aber noch dem Mittelplatonismus zugerechnet, da er eine eher traditionelle, wörtliche und "trocken" rationale Deutung Platons bevorzugte. Die quasi-religiösen und schwärmerischen Deutungen des Neuplatonismus lehnte er ab. Für seine oft pingelig am Wort orientierte Deutungsweise war Longinos bekannt und berüchtigt, weshalb er sich den – teilweise spöttisch gemeinten – Ruf erwarb, kein Philosoph sondern ein Philologe zu sein. Unter dieser teils spöttischen Perspektive sind auch die beim Neuplatoniker Proklos erhaltenen Zeugnisse zu verstehen.
Von Longinos liegt uns keine explizite Aussage über die Frage nach dem Realitäts- bzw. Fiktionalitätsstatus von Platons Atlantis vor. Man kann aber indirekte Schlüsse zur Meinung des Longinos über Atlantis aus den vorhandenen Fragmenten und deren historischen Kontext ableiten.
Zu jedem Fragment präsentiert Männlein-Robert den griechischen Text. Leider wurde versäumt, diesem eine Übersetzung beizustellen, die das Textverständnis von Männlein-Robert gezeigt hätte. Zwar schließt sich an den griechischen Text jeweils eine ausführliche Besprechung der Stelle an, doch diese liest sich teilweise wie ein Schattenboxen gegen eine Übersetzung, die nicht gegeben wurde. Man kann manchmal nur erraten, wie Männlein-Robert die jeweilige Stelle bevorzugt übersetzt hätte. Die Kritik wird von Malcolm Heath geteilt: "The method of presentation is flawed. Männlein-Robert prints the Greek text of the fragments but does not translate them".
Sehr problematisch gerade in Bezug auf die Atlantisfrage ist der Umgang mit dem griechischen Wort mythos. Dieses wird allzu oft leichtfertig mit dem modernen Wort "Mythos" übersetzt. Das Wort mythos bei Platon erklärt Männlein-Robert kurzerhand als "rein phantastische Geschichte" (S. 487). Eine solche holzschnittartige Einordnung ist leider völlig unakzeptabel. Die Platonischen Mythen sind dafür viel zu divers. Man bedenke nur, dass sich auch die Ersterwähnung der Kugelgestalt der Erde in einem solchen mythos befindet. Hinzu kommt, dass das Wort mythos zu verschiedenen Zeiten verschiedene Bedeutungen hatte. Platon verstand unter mythos etwas anderes als Plutarch, auf den Männlein-Robert in diesem Zusammenhang zu sprechen kommt, und dieser wiederum etwas anderes als die Neuplatoniker. Man kann überdies vermuten, dass sich Longinos in dieser Frage wie auch in anderen Fragen von den Neuplatonikern absetzte. Es ist also kompliziert. Hinzu kommt, dass die Atlantisüberlieferung bei Platon kein mythos sondern ein logos sein soll. Es ist wirklich sehr kompliziert.
Allerdings müssen wir Männlein-Robert zugute halten, dass sie mit der Unterscheidung von mythos und plastheis mythos bei Platon immerhin wesentlich differenzierter argumentiert als die übergroße Mehrheit der wissenschaftlichen Platonforscher. Die richtige Deutung der Platonischen Mythen ist ein Kapitel für sich, an dem die meisten scheitern, und eine solche Deutung wäre im Rahmen der vorgelegten Arbeit auch kaum zu leisten gewesen. Dort, wo man keine Wunder erwarten darf, hätte man allerdings Zurückhaltung erwarten können.
Einige der Fragmente des Longinos beziehen sich zwar auf das Proömium des Timaios und sogar direkt auf die dort enthaltene Vorschau auf die Atlantisgeschichte, doch sie liefern keinen Beitrag zur Entscheidung der Frage, wie Longinos zur Atlantisfrage stand, weil sie sich nur auf bloße Worte beziehen und nicht an Inhalten festmachen. Sie werden von Männlein-Robert, soweit zu sehen ist, korrekt wiedergegeben und besprochen.
Zu diesen neutralen Fragmenten gehört z.B. die Beobachtung des Longinos, dass Platon das Wort "alt" im Zusammenhang mit dem Alter des Kritias geschickt auf drei verschiedene Weisen zum Ausdruck bringt (Fragment 50, S. 448 ff.). Oder die Kritik des Longinos an der Dichterkritik des Platon: Wenn Dichter nicht in der Lage sind, den Idealstaat gut darzustellen, weil sie ihn nicht kennen, dann müsste das für die Dialogteilnehmer ebenfalls gelten (Fragment 52, S. 458 ff.). Bereits zur Atlantisgeschichte gehört Timaios 21d4-7: "Gewiss die größte (megistes) ... Heldentat ...". Darauf bezieht sich Fragment 57, in dem sich Longinos an dem Wort megistes abarbeitet. Schließlich wird überliefert, dass Longinos die vorgezogene Vorschau auf die Atlantisgeschichte am Anfang des Timaios in seinen Besprechungen des Timaios ausließ (Fragment 55, S. 492 ff.). Man vermutet, dass er das nur in seinen mündlichen Besprechungen tat, denn schriftlich liegen ja Besprechungen auch für diesen Teil des Timaios vor.
In Fragment 56 (S. 54 f.; 495 ff.) kommt die Sprache auf Amynandros, der eine Nebenrolle in der Kette der Überlieferung der Atlantisgeschichte von Solon bis zu Kritias dem Dialogteilnehmer spielt (Timaios 21bc), und damit auf einen Inhalt der Atlantisgeschichte. Proklos schreibt über Longinos (In Timaeum 1, 90; Übersetzung Tarrant 2006): "At this point once again the dedicated observers of detailed diction [Longinos] point out to their devotees that, when Plato praises the poetry of Solon, he is safely attributing the praise to an amateur [idiotes] and suiting the tastes of others, but not speaking his mind or his reasoning." – Die Auffassung, dass Platon dem Amynandros etwas in den Mund legt, hört sich sehr nach Erfindung an. Allerdings ist zu beachten, dass Proklos, der ebenfalls meint, dass Platon dem Amynandros das Lob der Dichtung Solons in den Mund gelegt hat, die Atlantisgeschichte grundsätzlich für historisch hält. Wie kann man das verstehen? Eine Möglichkeit ist, dass eine historische Überlieferung literarisch gestaltet wird. Eine weitere Möglichkeit wäre, dass man zwar die Überlieferungsgeschichte der Atlantisgeschichte für teilweise erfunden hält, nicht jedoch die Geschichte selbst. Auch dieses Fragment liefert also keine echte Entscheidung dazu, wie Longinos zur Atlantisfrage stand. Männlein-Robert übergeht diese Problematik leider ohne Kommentar, weil sie die Frage, ob Longinos Platons Atlantis ernst genommen haben könnte, gar nicht erst stellt.
In Fragment 58 (S. 510 ff.) kritisiert Longinos kein sprachliches Phänomen, sondern eine inhaltliche Aussage Platons zur Atlantisgeschichte: Platon behauptet, dass es die Mischung der Jahreszeiten in Athen ist, die dazu geführt habe, dass dort – auch schon in Ur-Athen – besonders geistreiche Menschen entstanden sind. Longinos kritisiert die von Platon behauptete Ursache und versucht die Aussage Platons über die Entstehung besonders geistreicher Menschen in Athen mit einer anderen Begründung zu retten. Damit nimmt Longinos eine Aussage, die zur Geschichte von Ur-Athen und Atlantis gehört, inhaltlich ernst, und damit auch die Atlantisgeschichte selbst. Männlein-Robert benennt diesen Sachverhalt auch ganz offen, versucht aber zugleich, dieses Ernstnehmen der Atlantisgeschichte als eine literarische Perspektive zu deuten:
"Longin aber berücksichtigt hier nicht die fiktionale Eigengesetzlichkeit des Mythos, sondern versucht, eine auf dem Wortlaut des Textes basierende Interpretation zu geben. Longin jedoch nimmt unter den textorientierten Exegeten eine Sonderrolle ein, indem er zwar wie diese den literarischen Topos im Kontext des Atlantismythos wörtlich nimmt, vor allem aber aufgrund seiner Intention, diese Passage in Harmonie mit der orthodoxen, mittlerweile systematisierten platonischen Seelenlehre auszulegen, auf unüberwindliche Probleme stößt und eine Aporie konstatieren muss." (S. 64)
Doch diese Erklärung funktioniert nicht gut. Zunächst ist das simple Ernstnehmen der Atlantisgeschichte die weitaus naheliegendere Deutung als die Auffassung, dass Longinos eine Geschichte als erfundenen Mythos deutet, sich aber doch an ihren konkreten Aussagen abarbeitet, wie wenn es kein Mythos wäre. Und Longinos kritisiert ja nicht nur, sondern er versucht darüber hinaus die Wahrheit der Aussage von Platon zu retten, indem er einen anderen möglichen Grund dafür nennt, warum Platon doch Recht hat mit seiner Geschichte von Ur-Athen (und Atlantis). Um das mithilfe einer rein literarischen Perspektive erklären zu können, muss man einige geistige Verrenkungen begehen. Die Waage der Wahrscheinlichkeit neigt sich hier doch sehr deutlich in die andere Richtung, dass Longinos nämlich an einen realen historischen Gehalt der Geschichte von Ur-Athen und Atlantis glaubte. Ein Beweis ist das natürlich nicht.
Der zentrale Kampfplatz um die richtige Deutung der Haltung des Longinos zur Atlantisfrage ist Fragment 54 (S. 83, 478 ff.; In Timaeum 1, 83). Darin geht es um das Vorziehen (parelaben) einer Vorschau auf die erst später folgende Atlantisgeschichte als Einschub in das Proömium des Timaios. Longinos glaubte, dass dieses Vorziehen einer Vorschau allein zur Unterhaltung der Leser geschieht, um die Trockenheit des darauf folgenden Vortrages des Timaios aufzulockern. Männlein-Robert referiert zunächst korrekt, dass es eine Tradition des Schreibens und Deutens von Proömien gab, die eine psychagogia, eine Seelenführung zum Zweck der Unterhaltung zum Ziel hatte. Um die Frage nach der Wahrheit der zur Unterhaltung vorgebrachten Geschichte geht es dabei nicht.
An dieser Stelle begeht Männlein-Robert einen grundsätzlichen, zunächst harmlos erscheinenden Fehler, der sich durch ihr ganzes Werk durchzieht und zu falschen Schlussfolgerungen führen wird. Sie spricht immer nur von einem "Einschub" der Atlantisgeschichte im Proömium des Timaios, wie wenn es um die Atlantisgeschichte an sich ginge, während Longinos in Wahrheit von etwas ganz anderem spricht, nämlich davon, dass Platon eine Vorschau auf die später im Dialog Kritias dargelegte Atlantisgeschichte vorzieht (parelaben). Longinos geht es allein um dieses Vorziehen einer Vorschau im Timaios, nicht um die komplette Atlantisgeschichte an sich. Dieser Unterschied in der Perspektive ist von entscheidender Bedeutung.
Direkt im Anschluss an die Überlegung des Longinos, dass das Vorziehen (parelaben) einer Vorschau auf die Atlantisgeschichte in das Proömium des Timaios der Unterhaltung dient, kommt der entscheidende Satz. An dieser Stelle ist es besonders schmerzlich, dass Männlein-Robert keine eigene Übersetzung des Fragments vorgelegt hat. Wir legen hier zum Mitdenken das Original und zwei Übersetzungen vor:
Griechisch:
Ὠριγένης
δὲ πεπλάσθαι
μὲν ἔλεγε τὸ
διήγημα
καὶ
τοσοῦτόν γε
συνεχώρει τοῖς
ἀμφὶ τὸν Νουμήνιον,
οὐ
δι᾽ ἡδονὴν δὲ
πεπλάσθαι
μεμηχανημένην
κατὰ
τὸν Λογγῖνον·
αἰτίαν
δὲ οὐ προσετίθει
τοῦ πλάσματος.
Übersetzung Tarrant 2006:
"Origenes claimed that the narrative had been invented,
and to this extent he agreed with Numenius’ party,
but not that it had been invented
in the interests of artificial pleasure, like Longinus.
He didn’t add the reason for the invention."
Übersetzung Thorwald C. Franke 2016:
"Origenes aber sagte, dass die Darlegung erfunden sei,
und in diesem Punkt ging er konform mit dem Kreis um Numenios,
(dass) nicht die Bewirkung der Erbauung (des Lesers) gemäß Longinos
(der Grund) für die Erfindung ist:
Den Grund für die Erfindung nennt (Origenes) nicht."
Hier glaubt Männlein-Robert eine explizite Aussage des Longinos erkannt zu haben, dass die Atlantisgeschichte eine Erfindung ist: "Dieser Passage kann der wichtige Hinweis entnommen werden, dass außer Origenes und 'denen um Numenios' auch Longin das dihegema [Darlegung, d.h. die Atlantisgeschichte] als plasma [Erbildung, d.h. Erfindung] beurteilt hatte" (S. 482).
Doch Männlein-Robert irrt. Es wäre zwar rein grammatikalisch möglich, in diesem Satz auch Longinos in den Kreis derer einzubeziehen, die die Atlantisgeschichte als Erfindung deuten (allerdings dann aus verschiedenen Gründen), doch zwingend ist das aufgrund der Satzstruktur nicht. Man kann diesen Satz auch so auffassen, dass Origenes und die anderen lediglich über den von Longinos behaupteten Zweck unter der Perspektive einer Erfindung der Atlantisgeschichte diskutieren, ohne dass Longinos diese Perspektive teilt. Diese Lesart drängt sich nicht nur als die direkte und natürliche Lesart auf, sondern wird auch durch den Kontext fast schon zwingend nahegelegt, wie folgende Punkte zeigen:
Es ist überdeutlich, dass Longinos einerseits und Origenes und die anderen andererseits zwei völlig verschiedene Perspektiven hatten, und dass man Longinos nicht in den Kreis von Origenes und den anderen einreihen darf. Doch Männlein-Robert tut genau dies: "Wie an der Ablehnung von Longins Erklärung zu ersehen ist, muss also Origenes innerhalb des Begriffs plasma bzw. plattein eine weitere und zwar entscheidende Differenzierung ansetzen, obgleich er und Longin offenbar die Nicht-Wirklichkeit der Erzählung voraussetzen." (S. 485) Diese seltsame Aufspaltung einer Kategorie (plasma) in zwei undefiniert bleibende Unterkategorien zum Zwecke der Eingemeindung von Longinos in diese Kategorie existiert nur in Männlein-Roberts Deutung. Proklos selbst bezeugt eine solche Unterteilung nicht, obwohl man das hätte erwarten können. Das Schweigen des Proklos hätte Anlass zu einer kritischen Überprüfung der These geben können. Dieser Kategorienfehler wird im Abschlussargument noch einmal auftauchen.
Die Übersetzung von Tarrant ist übrigens fehlerhaft. Es ist doch sehr gewagt, kata ton mit "like" zu übersetzen. Und es ist falsch, jene Bezüge verloren gehen zu lassen, die semantische Betonungen setzen: Den engen Bezug von "nicht" und "Erbauung" bzw. von "bewirkter Erbauung" und "gemäß Longinos". Nicht einmal das de, das den Satz in der men-de-Struktur von der Aussage zur Meinung des Longinos im vorangegangenen Satz abgrenzt, wurde übersetzt. Es ist wirklich ungünstig, dass Männlein-Robert keine eigene Übersetzung vorgelegt hat.
Im Anschluss an die Deutung des zentralen Fragments 54 versucht Männlein-Robert, zusätzliche Argumente dafür zusammenzutragen, dass Longinos die Atlantisgeschichte als Erfindung deutete. Dazu hat sie ein eigenes Kapitel zur "Tradition der Interpretationen des Wahrheitsbezuges von Platons Atlantiserzählung" eingefügt.
Noch vor dem zusätzlichen Kapitel, direkt an der Feststellung, dass der fragliche Satz angeblich explizit zeigt, dass auch Longinos die Atlantisgeschichte für eine Erfindung hielt, hängt die Fußnote 347 (S. 482). Darin heißt es kurz angebunden: "Taylor, Commentary 50." Das verweist auf den Timaios-Kommentar von Alfred E. Taylor, wo es S. 50 lapidar heißt: "From Proclus' account it appears that Origenes and Numenius, as well as the great critic Longinus, regarded the story itself as a pure fiction."
Was wie eine Belegfußnote aussieht, entpuppt sich als völlig kraftlos. Denn erstens sagt Taylor nur "it appears", was sehr vage ist, und zweitens liefert Taylor kein einziges Argument, warum er es so sieht. Die Fußnote transportiert also höchstens die Information, dass auch schon Alfred E. Taylor es so sah. Das ist aber nur ein wissenschaftshistorischer Hinweis, kein Beleg. Man hätte übrigens auch den renommierten schwedischen Philologen Gunnar Rudberg nennen können, der diese Behauptung ebenso ohne jedes Argument aufstellte, allerdings deutlich früher als Taylor (S. 20, 35 (engl.) / S. 13, 26 (schwed.))
Bezüglich der Meinung des Krantor (bei Proklos) und des Poseidonios (bei Strabon II 102 bzw. 2.3.6) referiert Männlein-Robert korrekt, dass diese Autoren sich im Grundsatz für die Existenz von Atlantis aussprachen (S. 483). Zur Stelle Strabon II 102 fällt wieder schmerzlich auf, dass Männlein-Robert keine eigene Übersetzung vorgelegt hat, denn auch diese Stelle wird von verschiedenen Autoren verschieden gelesen. Der Schüler und Nachfolger des Aristoteles Theophrast, der Atlantis ebenfalls als historisches Ereignis deutete, taucht bei Männlein-Robert leider nur in einer Fußnote auf (350). Das hat eine gewisse Tradition, denn auch Pierre Vidal-Naquet erwähnte Theophrast nur in einer Fußnote (Vidal-Naquet (2006) S. 46 f. und Fußnote 72 (dt.) bzw. S. 53 und Fußnote 15 (frz.)). Ausführlich zu Theophrast und Platons Atlantis bei Franke (2010/2016) S. 95, 175-160; Franke (2016) S. 31-33. Weiter referiert Männlein-Robert, dass Numenios, Origenes Platonicus und Porphyrios Atlantis als Erfindung sahen (S. 484). Das ist korrekt.
An dieser Stelle hätte man bemerken müssen, dass sich viele frühere Autoren offenbar für eine eher wörtliche Lesart und damit für die Realität von Atlantis aussprachen, während viele spätere Autoren, z.B. pythagoreische Schwarmgeister und manche Neuplatoniker, in der Atlantisgeschichte nur noch Symbolik und Dämonenkämpfe erkennen wollten. Es hätte die Frage gestellt werden müssen, warum Longinos in der Atlantisfrage ausgerechnet die Meinung der neuplatonischen Schwärmer vertreten haben sollte, wo er doch sonst eher für eine wörtliche Lesart bekannt war? Speziell Longinos' Ablehnung des historisch ersten Atlantisskeptikers, der uns mit Namen bekannt ist, nämlich des Numenios, ist Männlein-Robert nicht entgangen: "Das Urteil Longins über Numenios scheint überwiegend negativ und ablehnend zu sein" (S. 89). Dass Longinos den Atlantisskeptiker Nr. 1 "überwiegend negativ und ablehnend" beurteilt, hätte Anlass zu Fragen sein können.
Übrigens erwähnt Männlein-Robert die im Jahr der Veröffentlichung dieses Werkes in der wissenschaftlichen Literatur zu Platons Atlantis noch unangefochtene und weit verbreitete These, dass an der Stelle Strabon II 102 (bzw. 2.3.6) angeblich ein explizites Wort des Aristoteles gegen die Existenz von Platons Atlantis vorliegt, mit keinem Wort. Eigentlich hätte sie eine derart verbreitete These an dieser Stelle erwähnen und eine eigene Position dazu erklären müssen. Doch Männlein-Robert schweigt einfach darüber, wie wenn es diese These nicht gäbe. Vgl. dazu Franke (2010/2016) S. 64-66: "Der seltsame Umgang mit Strabon II 102". Wir vermuten, dass Männlein-Robert auch in dieser Frage weiter gedacht hatte als andere.
Männlein-Robert meint, dass sich nach der zurückhaltenden Befürwortung der Existenz von Atlantis durch Poseidonios viele Gelehrte einfach dessen Meinung anschlossen. Doch es hätte auch Gegenstimmen gegeben, die die Atlantisgeschichte als Erzählung des 'Poeten' Platon deuteten. Diese Auffassung stammt vermutlich aus der Neuen Akademie, so Männlein-Robert. Zum ersten Mal würde diese Auffassung bei Plutarch greifbar (483 f.; auch S. 88): "Mit seiner Auslegung der Atlantisgeschichte als eines von Platon eingelegten reinen Mythos stimmt Longin gleichfalls mit einer ursprünglich akademischen Tradition überein, die zum ersten Mal bei Plutarch greifbar wird, der die Atlantiserzählung Platons auf der gleichen Stufe wie Homers Ilias ansiedelt".
Doch hier sind gleich mehrere Einwände zu erheben:
Auch Hermias wird als Atlantisskeptiker eingeordnet (S. 84, 484): Hermias "lehnt eine nicht inspirierte Rhetorik ab, die nur auf oberflächliche Unterhaltung abziele." Das genügt aber nicht zur Einordnung als Atlantisskeptiker. Von Hermias ist ein Satz überliefert, der sehr nahe legt, dass er Platons Atlantis als historische Begebenheit auffasste (Hermias In Platonis Phaedrum, ad Phaedrum 274c; S. 253 Couvreur).
In folgendem Fragment bei Proklos will Männlein-Robert einen Fingerzeige darauf entdeckt haben, dass Longinos die Atlantisgeschichte als eine Erfindung sah (In Timaeum 1, 83; Übersetzung Tarrant 2006): "Longinus raises the difficulty of what the presentation of this narrative means for Plato. For it hasn’t been composed for the relaxation of the audience nor because he requires them to remember [mneme] it." Das Wort mneme (Erinnerung) deutet Männlein-Robert hier als eine Anspielung auf die Erinnerung des Kritias an die Atlantisgeschichte, und diese wiederum deutet sie als einen Hinweis auf die Erfindung der Atlantisgeschichte. Sie schließt: Das "dürfte als Beweis dafür angesehen werden, dass er [Longinos] diesen rhetorischen Topos kennt, der auf ein Plasma als 'Fiktion' hinweist" (S. 485).
Doch das Wort mneme kann hier keinesfalls eine Anspielung auf die Erinnerung des Kritias sein. Das ist eine Überinterpretation, die durch nichts getragen wird. Es ist hier keinerlei Zusammenhang erkennbar zwischen der Überlegung über einen möglichen, später im Verlauf der Lektüre eintretenden Wiedererinnerungseffekt bei den Lesern des Timaios durch die vorgezogene Vorschau auf die Atlantisgeschichte einerseits, und der Erinnerung des Kritias an die Atlantisgeschichte andererseits. Zudem ist auch die Erinnerung des Kritias kein Hinweis darauf, dass die Atlantisgeschichte erfunden ist. Denn völlig plausibel heißt es bei Platon, dass sich ältere Menschen besonders gut an das erinnern können, was sie in der Kindheit erfahren haben.
An dem Satz über einen rhetorischen Topos als Hinweis auf Plasma als 'Fiktion' hängt Fußnote 363. Darin wird auf Christopher Gill: "Plato on Falsehood-not Fiction" S. 63 mit Anm. 65 und auf Otto Immisch ohne Seitenangabe verwiesen.
Bei Gill finden wir an der bezeichneten Stelle die Behauptung, dass "great detail" über den Überlieferungsweg, über die ferne Vergangenheit, sowie über mythische Inhalte als Fiktionssignale zu werten sind. Doch von diesen drei Punkten könnte höchstens der Punkt "great detail" zur Überlieferung mit der Erinnerung des Kritias in Zusammenhang gebracht werden, denn diese Erinnerung ist ein Teil der Überlieferung. Doch die Erinnerung des Kritias kann man kaum als "great detail" der Überlieferung deuten. Um das Kriterium "great detail" zu treffen, müsste es sich entweder um ein Detail handeln, dass um der Massierung von Details willen genannt wird, nicht weil es nötig ist, oder es müsste ein übertrieben mikroskopisch betrachtetes Detail sein. Doch es ist beides nicht: Die Erinnerung ist neben der schriftlichen Aufzeichnung der zentrale Vorgang jeder Überlieferung. Man könnte die einzelnen Namen und Orte und Zeiten der Überlieferung Details nennen, aber nicht den Vorgang der Erinnerung an sich.
Bei Otto Immisch gibt es allgemeine Betrachtungen zu literarischen Motiven und Wendungen, und dabei geht es bunt zwischen Cicero und byzantinischen Schriftstellern durcheinander. Eine genaue Seitenzahl wird nicht genannt. Das passt nun überhaupt nicht.
Damit haben wir erneut eine Fußnote gesehen, die wie eine Belegfußnote aussieht, aber keine ist. Man könnte mit dieser Fußnote vielleicht tatsächlich etwas belegen, aber nicht das, woran die Fußnote hängt.
Nur der Information halber sei angemerkt: Gill will hier literarische Topoi, Fiktionssignale, zu einer Zeit erkennen, als diese noch lange nicht entwickelt waren. Die in der Atlantisgeschichte enthaltenen mythischen Aspekte sind außerdem alles andere als Fiktionssignale, sondern teilweise das, was Platon selbst glaubte, teilweise aber typische Rand- und Begleitmythen, wie etwa der Gründungsmythos einer Stadt, wie es sie auch für ganz reale Städte gibt. Vgl. dazu z.B. Görgemanns (2000) S. 408. Zudem ist davon auszugehen, dass die Atlantisgeschichte entgegen der Auffassung von Gill vor allem schriftlich überliefert wurde, und dass die mündliche Überlieferung womöglich nur eine literarische Gestaltung ist, um eine reale Geschichte in einen fiktionalen Dialog einzuführen.
Zudem fällt auf, dass Männlein-Robert 'Fiktion' und Christopher Gill an der genannten Stelle 'mythical' in einfachen Anführungszeichen schreiben. Man weiß nicht recht, wie man das deuten soll. Ist eine 'Fiktion' etwas anderes als eine Fiktion? Und wo ist genau der Unterschied zwischen 'mythisch' und mythisch? Zumal die Bedeutung des Wortes Mythos bei Platon, Plutarch, Longinos und Proklos ohnehin im Dunkeln bleibt.
Christopher Gill ist generell eine denkbar schlechte Literatur, um darauf eine wissenschaftliche These zu stützen. Nicht zuletzt deshalb, weil Gill ständig seine Meinung ändert. Das tut Gill natürlich auch diesmal, und zwar noch in demselben Artikel direkt (!) nach der Stelle, die Männlein-Robert in Fußnote 363 als Belegstelle angeführt hat. Gill schreibt: "This is a suggestion I have made elsewhere; ... Although I do not wish to disown this view entirely, or to deny the suggestive role of the Atlantis story in the history of Greek forms of narrative, I would like to mark some reservations from the line of thought just summarized. ... ... Part of the validation offered for the noble lie (...) is that the events presented are taken to be true". (S. 63 f.)
Kurz: Die Belegfußnote 363 verweist auf eine Stelle, die sofort wieder relativiert wird. Das ist natürlich besonders ungünstig. Christopher Gill neigt sich hier eher der Meinung von Diskin Clay zu: "Plato fabricated the myth of Atlantis with such art that it has virtually gone unrecognized as a fiction" (S. 8). Mit anderen Worten: Es wird zugegeben, dass die angeblichen Fiktionssignale und ihre angebliche Erkennbarkeit ein großes Problem sind.
Männlein-Robert schreibt von der Methode der Psychagogia des Longinos, dass sie "oft als Intention von Dichtung oder Mythos generell konnotiert" wird (S. 485). Hier ist natürlich zu fragen: Was heißt "oft"? "Oft" heißt jedenfalls nicht "immer". Damit verliert dieses Argument erheblich an Kraft.
Hinzu kommt: Was bedeuten Dichtung und Mythos? Ist eine Dichtung immer eine Erfindung? Kann man nicht auch wahre Begebenheiten dichterisch bearbeiten? Und war das damals nicht sogar üblich? Und immer wieder die Frage: Was ist ein Mythos? Für Proklos z.B. war der Mythos von Atlantis zugleich auch Realität.
Männlein-Robert zieht den Schluss: "So fügen sich auch die bei Proklos referierten, Longin zugeschriebenen Begrifflichkeiten psychagogein und plasma reibungslos in den von Longin zur Erklärung herangezogenen rhetorischen Kontext ein." (S. 486) Männlein-Robert glaubt an dieser Stelle, alle Puzzleteile passend zusammengefügt zu haben. Dem müssen wir widersprechen.
Männlein-Robert kommt noch einmal auf den folgenden Satz bei Proklos zurück (In Timaeum 1, 83; Übersetzung Tarrant 2006): "Longinus raises the difficulty of what the presentation of this narrative means for Plato. For it hasn’t been composed for the relaxation of the audience nor because he requires them to remember it [pepoietai ten mneme]." Wörtlich ins Deutsche übersetzt heißt diese griechische Wendung "Erinnerung machen". Männlein-Robert vermutet in dem Verb poiein (machen) eine Andeutung auf dessen andere Bedeutung im Griechischen, nämlich "dichten", und damit auf die Erdichtung und schlussendlich natürlich Erfindung der Atlantisgeschichte.
Eine solche Andeutung liegt dem Text jedoch fern. Es geht, wie gesagt, um eine Überlegung über einen möglichen später im Verlauf der Lektüre eintretenden Wiedererinnerungseffekt bei den Lesern des Timaios durch die vorgezogene Vorschau auf die Atlantisgeschichte, und nicht um die Erfindung der Erinnerung an die komplette Atlantisgeschichte. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.
Aber selbst wenn es einen Zusammenhang gäbe: Das Wort für "dichten" (poiein) bedeutet im Griechischen keinesfalls automatisch "erfinden", schon gar nicht bei Platon. Nur ein Wort wie plasma ist eindeutig als Erfindung zu verstehen.
Männlein-Robert will eine Parallele erkennen zwischen den Auffassungen des Longinos einerseits und des Macrobius andererseits, der in seinem Werk über Ciceros Somnium Scipionis (I II 6) verschiedene Stufen des Wahrheitsgehaltes von Geschichten der Gattung fabula definiert (S. 486). Das lateinische fabula ist dabei die Übersetzung des griechischen mythos. Es ist durchaus möglich, dass es hier eine Parallele gibt, zumal die Debatte um mehr oder weniger wahrscheinliche mythoi spätestens seit Platon im Gange ist.
Allerdings gibt es ein Problem. Platon schrieb, dass die Atlantisüberlieferung kein mythos ist, sondern logos. Es ist deshalb sehr die Frage, ob Macrobius die Atlantisgeschichte als mythos bzw. fabula eingestuft hatte. Hinzu kommt, dass die von Macrobius beschriebenen fabulae auf höheren Stufen immer weniger fiktional und immer mehr real zu verstehen sind. Und dann kommt noch hinzu, dass Macrobius an anderer Stelle in demselben Werk das zyklische Geschichtsbild Platons mit wiederholten lokalen Katastrophen übernimmt, von denen Ägypten ausgespart bleibt: "Ägypten (jedoch), wie Platon im Timaios bekennt, hat gewiss niemals ein Übermaß an Feuchte oder Wärme geschadet, weswegen auch unendliche Tausende von Jahren allein in den Monumenten und Büchern der Ägypter ablesbar sind." (In Somnium Scipionis II X 14) Damit hat Macrobius Ägypten als Quelle von altem Wissen akzeptiert und die Atlantisgeschichte im Timaios als Beleg benutzt. Wie wahrscheinlich ist es da noch, dass Macrobius die Atlantisgeschichte für eine Erfindung hielt?
Damit verwandelt sich das Argument von Männlein-Robert in ein Argument gegen ihre eigene These. Denn wenn es wirklich Parallelen zwischen Macrobius und Longinos gab, dann hat vielleicht auch Longinos Ägypten als Quelle von altem Wissen und Platons Timaios als Beleg dafür akzeptiert?
Männlein-Robert meint, dass mit der Einordnung der Atlantisgeschichte im Timaios als plasma zum Zweck der Unterhaltung insbesondere auch der "quasi-historische Beglaubigungsapparat" derselben, der hauptsächlich im Timaios enthalten ist, entlarvt wäre (S. 488). Auf solche "Beglaubigungen" wurde schon S. 482 in Fußnote 376 hingewiesen: Hier referiert Männlein-Robert das Narrativ der derzeit vorherrschenden Deutung zu Atlantis, dass Kritias die Wahrheit der Atlantisgeschichte auffällig eifrig beteuert.
Doch so manche Wahrheitsbeteuerung ist gar keine. Das zu zeigen sprengt jedoch den Rahmen dieser Rezension. Es handelt sich jedenfalls nicht um einen "Beglaubigungsapparat", sondern um eine literarisch gestaltete Überlieferungsgeschichte. Zudem müssen wir erneut darauf verweisen, dass es Longinos nicht um die Erfindung der Atlantisgeschichte ging, sondern um die Frage, welchen Zweck das Vorziehen der Vorschau auf die kommende Atlantisgeschichte hat. Die Frage der "Beglaubigung" einer erfundenen Geschichte hat mit der Frage nach dem Vorziehen einer Vorschau auf diese Geschichte nichts zu tun. Hinzu kommt, dass wesentliche Teile des "Beglaubigungsapparates" erst im späteren Dialog Kritias präsentiert werden.
Die Aussage des Dialogteilnehmers Kritias, dass er als Kind mit Vergnügen in Solons Papieren über Atlantis gelesen habe (Timaios 26b), wertet Männlein-Robert als mögliche Andeutung auf die "Unterhaltung", die Longinos in der vorgezogenen Vorschau der Atlantisgeschichte im Timaios sehen will. Ähnliches sieht Männlein-Robert auch im Platonischen Politikos-Mythos: Dieser würde explizit als mythos bezeichnet, und "auch die vergnügliche Wirkung auf Kinder wird explizit formuliert." (S. 489; Politikos 268de)
Auch hier ist der vermutete Zusammenhang zwischen dem Vergnügen des Kritias, als Kind in den Papieren des Solon gelesen zu haben, und dem angeblichen Zweck der vorgezogenen Vorschau auf die Atlantisgeschichte, der Unterhaltung, sehr weit hergeholt. Insbesondere ist aber die Deutung zum Politikos-Mythos falsch. Der Politikos-Mythos wird in der Tat explizit als mythos bezeichnet, doch ebenso explizit wird die Atlantisüberlieferung als logos, nicht als mythos bezeichnet. Die von Männlein-Robert implizit zum Ausdruck gebrachte Vermutung, dass auch die Atlantisgeschichte ein mythos ist, der nur nicht explizit so genannt wird, richtet sich gegen die Faktenlage.
Vor allem aber ist die Deutung des Bezuges von paidia (Scherz, Kinderei) im Politikos-Mythos falsch. Nicht der Politikos-Mythos als solcher ist eine paidia, sondern der Umstand, dass ein langer Platonischer Mythos erzählt wird, obwohl nur ein kleiner Teil davon für die Debatte im Dialog benötigt wird. Das wird im Dialog Politikos deutlich gemacht. Es geschieht leider immer wieder, dass der Bezug von paidia an dieser Stelle falsch konstruiert wird.
Am Rande sei die Frage erlaubt, ob man die "Unterhaltung" (hedone) des Longinos mit dieser "Kinderei" (paidia) gleichsetzen darf. Eine "Unterhaltung", eine "Belustigung" im gehobenen Sinne, kann und soll auch erbauend sein, eine "Kinderei", ein "Scherz", ist jedoch eher sinnlos.
Am Ende nennt Proklos noch einmal die zwei verschiedenen Kategorien von Meinungen zur Atlantisgeschichte, historia psile und mythos, und fasst direkt im Anschluss daran die Argumente dieser beiden Kategorien in zwei Abschnitten zusammen (In Timaeum 1, 129). Das ist zumindest der erste, natürliche Eindruck dieser Stelle. Wie Männlein-Robert richtig erkennt, finden sich in den Argumenten der ersten Gruppe Worte wieder, die dem Longinos zuzuschreiben sind. Dann aber würde Longinos die Atlantisgeschichte für historia psile und nicht für mythos halten.
Männlein-Robert meint nun, dass es sich bei den beiden Abschnitten nicht um historia psile und mythos handelt, sondern um zwei Untergruppen von mythos (S. 489 ff.). Auf diese Weise wird Longinos dann doch wieder der Kategorie mythos zugeordnet. Das Hauptargument ist die Charakterisierung dieser Gruppe durch einen Verweis auf Platons Phaidros 229c-e, wo Sokrates es ablehnt, Mythen zu entmythologisieren. In der Übersetzung von Tarrant 2006 (In Timaeum 1, 129): "And some say that, firstly, the allegorical unveiling of these and similar tales [logoi] appears to Plato to be ‘for a hard-working person who is somewhat wide of the mark’ [vgl. Phaidros 229c-e]. Secondly, Plato’s communicative method is not of the same riddling sort as Pherecydes’, but gives clear teaching on very many points of doctrine – so one should not be forced into explaining it away when the man is proposing to teach us directly. Thirdly, that an allegorical unveiling of the story is not necessary in the present circumstances, since there is an acknowledged reason for the presentation of this narrative – the seduction of the listeners. And further, fourthly, if we explain away everything, then we shall suffer the same fate as those who waste time with tricky minutiae of Homer."
Doch hier stützt sich Männlein-Robert zu sehr auf den Wortlaut bei Platon, wo tatsächlich von mythos die Rede ist. Bei Proklos jedoch – und darum geht es – ist von logos die Rede, im Sinne von jeder Art von Darlegung (hier von Tarrant fehlerhaft mit "tale" übersetzt). Dass die Originalstelle sich auf mythos bezieht, ist zwar richtig, aber das ist nicht das, was Proklos hier zum Ausdruck bringt: Es geht nicht um die Frage der Entmythologisierung im engeren Sinn, sondern einfach nur um die Frage, ob Platons Texte eine umfangreiche Ausdeutelei benötigen oder nicht, egal ob mythos oder logos. Auch die weiteren Argumente direkt im Anschluss wollen einfach nur sagen, dass man die Worte Platons ziemlich direkt lesen und verstehen sollte und dazu keine große Ausdeutelei benötigt. Von mythos ist hier nirgends die Rede.
Hinzu kommt die Einleitung, die mit historia psile und mythos zwei Kategorien ankündigt, weshalb es vernünftig ist, dass dann auch zwei Abschnitte von Argumenten folgen, die genau diesen zwei Kategorien zugeordnet werden können.
Es ist nicht von der Hand zu weisen: Der natürliche Eindruck ist hier auch der richtige. Der erste Abschnitt ist der direkten Lesart, der historia psile, zuzuordnen. Und der zweite Abschnitt – nur der zweite Abschnitt – ist dem mythos zuzuordnen. Da sich Longinos der ersten Gruppe zuordnen lässt, ist das ein starkes Argument gegen die Auffassung, dass Longinos die Atlantisgeschichte als Erfindung deutete.
Auch Tarrant ist der Auffassung, dass Krantor und Longinos mit diesem ersten Abschnitt gemeint sind (Tarrant (2006) S. 224 Fußnote 551). Nicht zuletzt sollte man bedenken, dass eine recht wörtliche Lesart der Atlantisgeschichte, also einer Lesart als realer historischer Überlieferung, bestens zu Longinos passt, denn für eine solche Lesart war Longinos generell bekannt.
Zunächst hatte Männlein-Robert korrekt erkannt, dass Longinos in Bezug auf das Klima in Athen so spricht, als würde er die Atlantisgeschichte für real halten. Das erkennt nicht jeder bzw. nicht jeder spricht diese Erkenntnis klar aus. Männlein-Robert hat es getan. Doch es wurde nicht ausgetestet, ob dies womöglich tatsächlich die Meinung des Longinos war, und ob diese Deutung womöglich auch in anderen Zusammenhängen tragfähig sein könnte.
Auch beim entscheidenden Satz in Fragment 54 wurde diese Möglichkeit nicht überprüft und deshalb nicht hinterfragt, ob dieser Satz zwingend so übersetzt werden muss, dass Longinos die Atlantisgeschichte für eine Erfindung hielt. Vielmehr wurde im Anschluss daran eine erstaunlich lange Reihe von Zusatzargumenten zusammengetragen, um die einmal gewählte Deutung zu stützen; bei näherer Überprüfung stürzen sie eines nach dem anderen in sich zusammen.
Schließlich wurden auch die Kategorien des Proklos zu den verschiedenen Meinungen über Atlantis falsch gedeutet. Dort, wo zwei Kategorien historia psile und mythos angekündigt werden, folgen angeblich nur zwei Abschnitte zu mythos, statt einer zu historia psile und einer zu mythos.
Die konsequente Verfolgung der Ausgangsthese, dass Longinos Platons Atlantis für eine Erfindung hielt, hat zu sehr merkwürdigen Konsequenzen geführt. Es erinnert an die überkomplizierten Epizykel des ptolemäischen Weltbildes: Wenn eine Hypothese zu merkwürdigen Verrenkungen führt, ist eine kritische Überprüfung angezeigt. Manchmal kann ein Perspektivwechsel nach Art der kopernikanischen Wende zu einer deutlich besseren Hypothese führen.
Männlein-Robert bewegt sich mit ihrer Argumentation ganz im Mainstream der aktuellen Wissenschaft. Die Deutung von Longinos als Atlantisskeptiker hat Tradition: Schon Gunnar Rudberg und Alfred E. Taylor glaubten, dass Longinos Platons Atlantis für eine Erfindung hielt. Es ist beim Thema Atlantis auch völlig üblich, Theophrast in einer Fußnote zu verstecken und Christopher Gill zu zitieren. Und natürlich – denn so sagen es ja "alle" – wird Atlantis für eine Erfindung Platons gehalten. Für einen Mythos. Und eine Dichtung. Männlein-Robert hat diese Grundannahmen lediglich konsequent zu Ende gedacht.
Aber genau das ist der Grund für ihr Scheitern: Das konsequente Zu-Ende-Denken. Denn Männlein-Robert hat genauer beobachtet als andere. Und sie hat weiter gedacht als andere. Und sie ist auf Schwierigkeiten gestoßen, die andere nicht gesehen hätten. Insbesondere die lange Reihe von Zusatzargumenten zeugt davon, dass Männlein-Robert ein Bewusstsein davon hatte, dass ihre Argumentation einer zusätzlichen Untermauerung bedarf. Da Männlein-Robert jedoch die Grundannahmen nicht hinterfragte, konnte sie nur scheitern.
Doch es ist kein sinnloses, bloß irriges Scheitern. Die merkwürdigen Konsequenzen, zu denen Männlein-Robert gelangt ist, lassen sinnfällig werden, dass hier etwas grundsätzlich nicht stimmt. Es sind die Grundannahmen, die hinterfragt werden müssen! Das ist die Erkenntnis, die aus Männlein-Roberts Scheitern entspringt. Damit ist es ein hilfreiches Scheitern, wie es echte Wissenschaft – und Männlein-Roberts Dissertation ist zweifelsohne echte Wissenschaft – immer wieder hervorbringen muss, bevor sie zu neuen Perspektiven voranschreiten kann.
Heath (2002): Malcolm Heath, Rezension zu: Irmgard Männlein-Robert, Longin – Philologe und Philosoph – Eine Interpretation der erhaltenen Zeugnisse, 2002, in: Bryn Mawr Classical Review 2002.03.18.
https://bmcr.brynmawr.edu/2002/2002.03.18/
Nesselrath (2003): Heinz-Günther Nesselrath, Rezension zu: Irmgard Männlein-Robert, Longin – Philologe und Philosoph – Eine Interpretation der erhaltenen Zeugnisse, 2001, in: Classical Review No. 53 (2003); S. 323-326.
https://www.academia.edu/30781262/
Clay (1999/2000): Diskin Clay, The Invention of Atlantis: The Anatomy of a Fiction, with an introduction by Gary M. Gurtler SJ, in: John J. Cleary / Gary M. Gurtler SJ (Hrsg.), Proceedings of the Boston Area Colloquium in Ancient Philosophy, Vol. XV (1999), Brill, Leiden/Bosten/Köln 2000; S. ix-xi, 1-21.
Franke (2010/2016): Thorwald C. Franke, Aristoteles und Atlantis – Was dachte der Philosoph wirklich über das Inselreich des Platon?, zweite verbesserte und vermehrte Auflage, Verlag Books on Demand, Norderstedt 2016. Erstauflage war 2010.
Franke (2016): Thorwald C. Franke, Kritische Geschichte der Meinungen und Hypothesen zu Platons Atlantis – von der Antike über das Mittelalter bis zur Moderne, Verlag BoD, Norderstedt 2016.
Gill (1993): Christopher Gill, Plato on Falsehood – not Fiction, in: Christopher Gill / T.P. Wiseman (Hrsg.), Lies and Fiction in the Ancient World, University of Exeter Press, Exeter 1993; S. 38-87.
Görgemanns (2000): Herwig Görgemanns, Wahrheit und Fiktion in Platons Atlantis-Erzählung, in: Hermes Nr. 128 (2000); S. 405-420.
Rudberg (1917/2012): Gunnar Rudberg, Atlantis och Syrakusai – En Studie till Platons Senare Politiska Skrifter, in: Eranos Nr. 17 (1917); S. 1-80 mit Karte. Englische Erstveröffentlichung: Atlantis and Syracuse – Did Plato's experiences on Sicily inspire the legend?, hrsgg. von Thorwald C. Franke, übersetzt von Cecelia Murphy, Verlag BoD, Norderstedt 2012.
Tarrant (2006): Harold Tarrant, Proclus – Commentary on Plato's Timaeus, Vol. 1., edited and translated by Harold Tarrant, Cambridge University Press, Cambridge/New York 2006. First published in print format 2007.
Taylor (1928): Alfred E. Taylor, A commentary on Plato's Timaeus, Clarendon Press, Oxford 1928.
Vidal-Naquet (2006): Pierre Vidal-Naquet, L'Atlantide – Petite histoire d'un mythe platonicien, Les Belles Lettres, Paris 2005. Deutsche Erstveröffentlichung: Pierre Vidal-Naquet, Atlantis – Geschichte eines Traums, Verlag C. H. Beck, München 2006.
In Fußnote 349 auf S. 482 und Fußnote 375 auf S. 488 verweist Männlein-Robert auf die Deutung der Atlantisgeschichte durch ihren Doktorvater Michael Erler, und auf die intradialogischen Aussagen zur Redaktion der Atlantisgeschichte. Das sind die beiden Fäden, an denen man ziehen müsste, um zu einer ganz anderen Deutung der Atlantisgeschichte zu kommen. Das würde allerdings weit über das Thema dieser Doktorarbeit hinausgehen. Wir wollen nur darauf hinweisen.