Im Jahr 2011 veröffentlichte Julia Annas ihren Artikel The Atlantis Story: the Republic and the Timaeus, in dem sie im wesentlichen sagte, dass die Frage nach der Realität von Atlantis für die Aussage von Platons Timaios-Kritias irrelevant ist. Wir haben darauf im Jahr 2020 mit unserem Artikel Avoiding Atlantis means Avoiding Plato geantwortet. Nun hat sich Julia Annas mit ihrem Artikel Plato's ideal society and Utopia aus dem Jahr 2021 erneut der politischen Philosophie Platons und der Frage nach Atlantis zugewandt. Diesmal stellt Julia Annas Platons Atlantis in den Mittelpunkt einer anti-konventionellen (und falschen) Interpretation von Platons Politeia und der Nomoi. Und es scheint, dass diese falsche Interpretation von Julia Annas' Versuch angetrieben wurde, Platons Atlantis als einen utopischen Text im Sinne von Thomas Morus' Utopia zu verstehen. Es ist unsere Aufgabe, die von ihr gemachten Fehler zurückzuweisen.
Julia Annas wendet sich gegen die konventionelle Lesart der politischen Philosophie Platons: Dass Platon zunächst in der Politeia die Idee eines idealen Staates mit Philosophenherrschern im Sinne einer zu verwirklichenden "Utopie" entwickelte. Dass Platon dann in Sizilien desillusioniert wurde. Und dass Platon dann die Nomoi schrieb, in denen die Philosophenherrscher durch das Gesetz ersetzt wurden. Dieser Gedankengang wird von Julia Annas zurückgewiesen (S. 103).
Ihre Argumentation beginnt mit einem bekannten Aspekt der Philosophie Platons: In der Politeia geht es, so Annas, nicht so sehr um den idealen Staat, sondern um die Gerechtigkeit und die gerechte Seele einer Person. Und erst durch die Parallelität von gerechter Seele und gerechtem Staat wird der Begriff des Idealstaates in den Dialog eingeführt. Das Hauptthema ist nicht der ideale Staat, sondern die Gerechtigkeit (S. 104, 107). – Gegen Annas Idee müssen wir jedoch mehrere Gegenargumente vorbringen: Erstens verlagert sich die Argumentation in Platons Politeia stark von der Erörterung der gerechten Seele auf die Erörterung des idealen Staates, so dass die Erörterung des idealen Staates nicht nur eine Nebenbemerkung ist. Auch die Rezeptionsgeschichte hat immer wieder diese Lesart des Dialogs gezeigt. Und Platon selbst beruft sich auf die Politeia (bzw. eine ungeschriebene Variante davon) als Darstellung eines Idealstaates am Anfang des Timaios.
Julia Annas argumentiert auch, dass es im Idealstaat der Politeia Gesetze gibt und daher die Vorstellung einer Wende vom Philosophenstaat zum Gesetzesstaat falsch wäre (S. 106 f.). – Aber die Existenz von Gesetzen im Idealstaat der Politeia schließt eine solche Wende nicht aus. Während in der Politeia die Philosophenherrscher über dem Gesetz stehen, ist in den Nomoi das Gesetz die höchste Instanz.
In einem Punkt stimmt Julia Annas mit der konventionellen Lesart überein: Platons Vorstellungen vom idealen Staat sind nicht bloß ein Traum, sondern sollen im realen Leben verwirklicht werden (S. 105 f.). Wie das zu ihrer Vorstellung passt, dass es bei den Überlegungen in der Politeia um Gerechtigkeit und nicht so sehr um einen Idealstaat geht, erklärt Julia Annas nicht – aber darum geht es uns hier nicht.
Annas argumentiert ausführlich, dass es angeblich keinen Weg vom gegenwärtigen Zustand dieser Welt zum Idealstaat gibt (S. 105-107). Keine Reformen würden helfen, dieses Ziel zu erreichen, sagt sie. Es wäre ein perfekter Teufelskreis. Sich auf die Jugend zu verlassen und die Älteren auszuschließen, würde nicht helfen, denn diejenigen, die diesen Plan ausführen, müssten selbst im höheren Alter sein. Es wäre auch nicht möglich, sich selbst zum Philosophen zu erziehen (S. 106), denn die Voraussetzung, ein "wahrer" Philosoph zu werden, wäre der Idealstaat selbst (S. 107). Auch Platon selbst wäre kein geeigneter Philosoph, um den Idealstaat herzustellen: Platon erwähne das reale Wissen der Philosophenherrscher angeblich nie und spiele immer nur in Metaphern, Bildern und Appellen an die Phantasie darauf an, so Julia Annas (S. 107).
Gegen Julia Annas müssen wir dieses Henne-Ei-Dilemma als ein künstlich aufgeblasenes Problem entlarven, das es in dieser übertriebenen Form gar nicht gibt. Das Argument erinnert an Zenons Paradoxon von Achilles und der Schildkröte: Wie kann Achilles die Schildkröte in einem Wettlauf jemals erreichen, wenn die Schildkröte immer einen kleinen Vorsprung vor Achilles hat, auch wenn dieser Vorsprung immer kleiner wird? Oder allgemeiner formuliert: Wie ist Entwicklung überhaupt möglich, wenn Entwicklung bedeutet, dass neue Dinge entstehen, die vorher nicht da waren?
Für Platon ist die Idee der Entwicklung der Zivilisation zentral. Und natürlich ist es zumindest prinzipiell möglich, dass sich ein Philosoph zu einem Philosophen entwickelt, der in der Lage ist, einen Idealstaat zu errichten. Natürlich werden die Hirten direkt nach der letzten Wasserkatastrophe, wie sich Platon die Zyklen der Geschichte vorstellte, dazu nicht in der Lage sein. Die Philosophie baut sich schrittweise auf, und erst nach einigen Vorgängern wird es möglich sein, dass ein Philosoph den Zustand eines Philosophen erreicht, der fähig ist, den Idealstaat zu errichten. Aber es gibt in Platons Werken nicht den geringsten Hinweis darauf, dass dies im Sinne des dargestellten Huhn-Ei-Dilemmas unmöglich wäre.
Es mag die Frage erlaubt sein, wie Platon jemals die Idee eines Idealstaates konzipieren konnte, wenn sich kein Philosoph jemals zu einem Philosophen entwickeln könnte, der fähig wäre, einen Idealstaat zu errichten? Und es stimmt nicht, dass Platon uns das Wissen der Philosophenherrscher vorenthält. Auf der einen Seite erzählt uns Platon in der Politeia viel Wissen über Politik. Dieses Wissen wird bis heute an unseren Universitäten debattiert. Andererseits geht es in der Politeia nicht um Detailwissen, und es ist nicht angebracht, das Fehlen von Detailwissen zu beklagen.
Und was die Bilder und Metaphern betrifft: Es ist falsch, anzunehmen, dass Platon sich ihrer bediente, weil er nicht wusste, was ein Philosophenherrscher wissen kann. Wenn es um Gleichnisse wie das Höhlengleichnis geht, ist das nur eine effektive Art, Dinge zu erklären. Sie hat nichts mit unbekanntem Wissen zu tun. Und wenn es um die Kategorie mythos geht, insbesondere um das Leben nach dem Tod, wie im Platonischen Mythos von Er in der Politeia, dann geht es um Wissen, das kein Mensch jemals haben wird, auch nicht im Idealstaat. Auch hier ist Julia Annas über ein unzureichendes Verständnis der sogenannten Platonischen Mythen gestolpert.
Überraschend erklärt Julia Annas bestimmte Aspekte von Platons Idealstaat für "utopisch" im Sinne einer unrealistischen Utopie, die nicht verwirklicht werden soll, sondern uns eine moralische Lehre erteilen soll, wie Thomas Morus' Utopia. Zu diesen Aspekten gehöre die Abschaffung der Familie und des Privateigentums, sagt Annas (S. 108 f.). Während also das allgemeine Konzept eines Idealstaates mit Philosophenherrschern als realistisches politisches Programm gemeint ist, das verwirklicht werden soll, sind diese Aspekte laut Annas nicht dazu gedacht, verwirklicht zu werden. Julia Annas ist überzeugt: Platon habe hier die allererste philosophische Utopie geschrieben. Diese knüpfe an Vorgänger wie Hesiods Goldenes Zeitalter an, und Platons Ziel sei die Provokation.
Doch was Julia Annas hier macht, ist eine willkürliche Auswahl. Es gibt in Platons Werken keinen Hinweis darauf, dass einige Aspekte des idealen Staates so und andere anders gemeint sind. Schon gar nicht diese Aspekte. Dass manche Aspekte provozierend sind, ist auch kein Argument, da jede Idee von Veränderung eine Provokation für konservative Gemüter sein kann (und meistens auch ist). Ist die Idee von Philosophenherrschern denn keine Provokation? Und sind arrangierte Ehen wirklich eine solche Provokation in einer Gesellschaft, in der Ehen selten eine Angelegenheit romantischer Liebe waren? Es ist ganz offensichtlich, dass Julia Annas moderne und einseitige Kriterien anwendet, um über Platons Ideen zu urteilen, und dass sie willkürlich auswählt, anstatt verlässliche Argumente für ihre Auswahl zu liefern.
In einer Fußnote offenbart Julia Annas ein weiteres Mal, dass sie keine realistische Sicht auf Platons Philosophie und die sogenannten Platonischen Mythen hat: Über Platons Vorstellung vom Goldenen Zeitalter, in dem daimones über die Menschen herrschten, sagt sie, dass diese Gesellschaft nicht perfekt war, da es an philosophischem Denken mangelte (S. 109 Fußnote 9). Aber nichts könnte falscher sein! Natürlich herrschten die daimones perfekt über die Menschen, nach Platon! Denn sie haben direkten Zugang zum göttlichen Wissen. Alle Bemühungen, Philosophie zu betreiben, sind nur Versuche, diesem göttlichen Wissen so nahe wie möglich zu kommen. Und nur Menschen haben es nötig, Philosophie zu betreiben, da sie keine Götter sind. Es ist fast schon seltsam, wie sehr sich Julia Annas irrt, denn sie ist keine Anfängerin und kein Neuling, was die Philosophie Platons angeht, nicht?
Auf der Grundlage dieser willkürlichen Auswahl von utopischen Aspekten erklärt Julia Annas auch Platons Atlantis zu einem weiteren utopischen Aspekt, d.h. Atlantis ist angeblich in keiner Weise real gemeint, sondern nur als moralische Lehre (S. 109 ff.). Zusätzlich zu ihrer willkürlichen Auswahl führt Julia Annas folgende Argumente an, warum sie die Atlantisgeschichte für eine Erfindung Platons hält: Julia Annas berichtet von Sokrates' Wunsch, den sie wiedergibt mit: "In other words, he wants a story about them." – Daran sind aber zwei Dinge falsch: Erstens ist die von Sokrates gewünschte Geschichte nicht irgendeine Geschichte, sondern eine philosophisch erhellte Geschichte. Und zweitens, und das ist das Wichtigste: Julia Annas übergeht die Wendung in der Handlung des Dialogs, dass Kritias dem Wunsch des Sokrates sein Angebot einer wahren Geschichte entgegensetzt. Und Sokrates stimmt zu: Eine wahre Geschichte ist besser als eine erfundene Geschichte.
Dann übersetzt Julia Annas die Aussage des Kritias im Timaios 25e (ὡς δαιμονίως) mit "extraordinary chance". – Sie sieht aber nicht, dass dies eine sehr ernsthafte Aussage über das Daimonion des Sokrates ist. – Schließlich behauptet Julia Annas, dass das vorzeitliche Athen der historischen Überlieferung "exactly" dem idealen Staat entsprechen würde (S. 110). – Das ist aber offensichtlich nicht der Fall. Beide Staaten kommen sich nahe, aber sie sind nicht identisch.
Julia Annas behauptet, dass "indeed the Atlantis story is recognized by Plato's readers as fiction", wenn auch nicht immer (S. 110). Aber Julia Annas kann keinen antiken Autor aus der Zeit Platons nennen, der dies behauptet. Die Behauptung ist schlichtweg falsch. Atlantis wird auch als "fantastically rich" bezeichnet, was es nicht ist, zumindest nicht "phantastisch".
Den Grund, warum Platon die Atlantisgeschichte nicht beendet hat, sieht Julia Annas darin, dass Atlantis viel interessanter aussieht als das vorzeitliche Athen (S. 112 f.). Platon habe es also nicht geschafft, den fiktionalen Stoff zu bewältigen. Julia Annas sagt ausdrücklich: "Plato's own myths successfully reconfigure the materials of traditional myths to make ethical claims, but fiction is resistant to this." Das bedeutet, dass Platon ihrer Meinung nach gut darin war, vorhandenes Material neu zu arrangieren, aber er war nicht gut darin, Dinge zu erfinden, da er seiner eigenen Phantasie zum Opfer fiel. Was für ein trauriges Bild von dem großen Geist Platon! Wir können dieser lächerlichen Begründung nicht zustimmen. Sie ist ganz und gar nicht überzeugend. Übrigens nennt Julia Annas nicht die Namen derjenigen, die solche Behauptungen zuerst aufgestellt haben. Und Annas' Ansicht über die sogenannten Platonischen Mythen als Umgestaltungen traditioneller Mythen ist ebenfalls dürftig. Platonische Mythen sind viel mehr als das.
Julia Annas hat sich für diesen Artikel hauptsächlich von Glenn R. Morrows Buch Plato's Cretan City – A Historical Interpretation of the Laws aus dem Jahr 1960 inspirieren lassen, dem sie weitgehend zustimmt. Aber es ist dasselbe Buch, in dem Morrow bestätigt, dass Platons Darstellungen von historischen Ereignissen sehr zuverlässig waren. Wie passt das zu der Vorstellung, dass die Geschichte von Atlantis eine Erfindung ist?
Julia Annas' Darstellung der Rezeptionsgeschichte von Platons Atlantisgeschichte beginnt um 1500. Doch das ist viel zu spät! Was ist mit der äußerst wichtigen Rezeptionsgeschichte der Antike? Annas schweigt. Wir haben nur ihre leere Behauptung, dass zeitgenössische Leser Platons Atlantisgeschichte als Fiktion erkannt haben sollen, siehe oben. Was folgt, ist die in üblicher Weise durcheinandergebrachte Darstellung der Rezeptionsgeschichte.
Manche sahen in Atlantis den Vorläufer ihrer eigenen Nationen, z.B. Spanien oder Italien (S. 112). Doch Julia Annas verschweigt, dass spanische Offizielle Atlantis zu einer Erfindung Platons erklärt hatten. Und dann spricht sie von Italien, aber der erste, der eine Rolle Italiens in der Geschichte von Atlantis sah, war Gian Rinaldo Carli 1780, also später als Annas sagt, und Carli hat Italien nicht mit Atlantis identifiziert. Dann behauptet Annas, dass die Atlantisgeschichte im frühen 19. Jahrhundert allgemein als Fiktion akzeptiert worden wäre. Wieder falsch, es war das späte 19. Jahrhundert.
Dann kommt Julia Annas auf Atlantis in Fiktion und Phantasie zu sprechen und verweist auf Jules Verne. Doch wieder falsch! Denn Jules Verne ist ein Science-Fiction-Autor, der über Erfindungen geschrieben hat, die eines Tages wahr werden könnten, und auch in Bezug auf Atlantis präsentiert Jules Verne keine reine Fiktion! Das Gegenteil ist der Fall: Jules Verne listet sorgfältig die wissenschaftlichen Autoren seiner Zeit auf, die die Existenz von Atlantis befürworteten, und auch diejenigen, die Atlantis als Erfindung interpretierten. Dies ist mitnichten die Phantasie, von der Julia Annas sprach.
Ganz kurz geht sie auf die minoische Hypothese ein und erwähnt nur den Namen Menzies. Hätte Julia Annas nicht mehr über die interessante minoische Hypothese sagen sollen? Schließlich verweist Julia Annas auf die Atlantis-Trilogie von Turtledove. Endlich ein wirklich fiktionales Werk.
Was für eine verzerrte Darstellung der Rezeptionsgeschichte von Platons Atlantis!
Julia Annas sieht eine Analogie zwischen dem vorzeitlichen Athen und dem Athen der Zeit Platons, und ebenso zwischen Atlantis und dem persischen Reich, und damit eine Analogie zwischen dem Krieg zwischen Atlantis und Athen und den Perserkriegen. Julia Annas sieht aber auch eine raffinierte Herausforderung für Platons Leser: Denn es stellt sich angeblich heraus, dass das vorzeitliche Athen eher Sparta gleicht, und Atlantis ist wie das dekadente Athen zu Platons Zeit (S. 111). – Wir glauben nicht, dass diese verworrene Interpretation von Platon geplant war oder von Platons Lesern zu seiner Zeit erkannt werden konnte. In der Rezeptionsgeschichte der Antike findet sich keine Spur einer solchen verworrenen Lesart.
In einer Fußnote setzt Annas das Datum des fiktiven Dialogs auf eine Zeit vor dem Ende des Peloponnesischen Krieges an (S. 111 Fußnote 11). Der Kritias im Dialog kann also nicht der Tyrann Kritias sein. Dennoch, meint Julia Annas, solle der Kritias des Dialogs an den Tyrannen Kritias erinnern. Diese in sich widersprüchliche Meinung findet in unseren Tagen immer mehr Anhänger unter den Atlantisskeptikern, und man kann sich nur fragen, warum, da sie die Glaubwürdigkeit der Atlantisskepsis stark untergräbt. Wir können nur Vermutungen anstellen: Dahinter müssen Sekundärmotivationen stehen, die Kritias als Tyrannen brauchen, um eine bestimmte politische Aussage zu machen. Aber das bedeutet natürlich, Platon zu missbrauchen, statt Platon zu interpretieren.
Julia Annas zufolge unternimmt Platon im Dialog Nomoi einen zweiten Versuch, einen idealen Staat zu schaffen. Julia Annas sieht in den Nomoi drei Verbesserungen im Vergleich zur Politeia:
Die Inspirationen für viele ihrer Ideen stammen aus Glenn R. Morrows Buch Plato's Cretan City – A Historical Interpretation of the Laws. Julia Annas räumt ein, dass Platon sagt, "that humans need laws because nobody has the requisite knowledge to rule, and if he did have it, he would not be able to remain above corruption." (S. 113) Damit erkennt Julia Annas implizit die konventionelle Lesart einer klaren Wende von der Politeia zu den Nomoi an, die sie oben abgelehnt hatte.
Die Lösung für das oben dargestellte, unlösbare Henne-Ei-Problem, das angeblich in Platons Politeia existiert, ist laut Julia Annas ganz einfach: Anstatt einen Staat zu transformieren, wird einfach ein neuer Staat gegründet (S. 114). Einwanderer werden eingeladen und müssen unter Gesetzen leben, die sie nicht ändern können. So werden sie und spätere Generationen zum Idealstaat erzogen.
Dies ist natürlich eine sehr enttäuschende "Lösung" für das oben dargestellte Henne-Ei-Problem. Denn das ist überhaupt keine Lösung! Julia Annas verlässt sich jetzt selbst auf die Idee der graduellen Entwicklung, was sie oben ausklammerte. Und sie sagt nicht, wer die Gesetze anfangs einrichtet! Das ist bestenfalls ein Taschenspielertrick, aber nie und nimmer eine akzeptable Lösung für das von ihr oben dargestellte Problem. Glücklicherweise hat das Henne-Ei-Problem, das Julia Annas geschaffen hat, nie existiert.
Eine weitere Verbesserung ist nach Julia Annas die Kombination von Sparta und Athen. Während Sparta die Aspekte der Loyalität zu den Gesetzen und der gemeinsamen Erziehung liefert, liefert Athen die Aspekte der Partizipation und der Verantwortlichkeit (S. 114-117).
Es ist jedoch zweifelhaft, ob dies wirklich eine Verbesserung des Idealstaates der Politeia darstellt. Denn eine solche Kombination von Aspekten ist dort bereits vorhanden, zumindest in Teilen. Seltsam ist auch Julia Annas' Idee, dass der Dialog die Gesetze selbst nicht enthalten würde, sondern nur den Weg zu ihnen (S. 117). Denn der Dialog ist voll von sehr detaillierten Gesetzen. Dabei geht es natürlich nicht nur um die Methode, sondern es sind die Gesetze selbst, zumindest in Teilen.
Der Dialogführer im Dialogs Nomoi, der "Athener", hat nach Annas die Aufgabe, den Kretern, die wie die Spartaner Dorer sind, Gesetze nach athenischem Vorbild vorzuschlagen (S. 116) und so die Kombination zu bewirken. Julia Annas fügt hinzu: "This is one of several reasons for holding that he is not just a mouthpiece for Plato himself." – Aber das ist nicht das, was Glenn R. Morrow sagt, von dem sie all diese Inspirationen nimmt! Morrow vertritt die gegenteilige Meinung: "and Plato is free as nowhere else to put forward his own doctrines." (S. 74 Morrow). Diese Meinungsdifferenz hätte von Julia Annas irgendwie reflektiert werden müssen.
Nach Julia Annas wechselt Platon die Methode von top-down Deduktion in der Politeia, ausgehend von Prinzipien, zu einem "changing from within" in den Nomoi, d.h. von einem statischen Ideal zu einer schrittweisen Entwicklung. Ihr Argument ist, dass der Dialogführer der Nomoi, der Athener, versucht, bei seinen kretischen Gesprächspartnern ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass und warum die Kreter als Dorer wie die Spartaner schon vieles richtig machen (S. 117 f.).
Angeblich verhält sich der Athener dem Kreter Kleinias gegenüber sehr respektvoll, obwohl Kleinias dem Athener intellektuell unterlegen ist. Wenn der Athener die kretischen Gesetze kritisiert und Kleinias protestiert, vermeidet der Athener stets den Konflikt, indem er die eigene Kritik verneint (S. 117) und so Kleinias im Dialog hält, sagt Julia Annas. – Aber das stimmt einfach nicht. Der Athener weicht nicht zurück, im Gegenteil, er fordert dazu auf, dem Argument zu folgen, wohin es auch führt. Julia Annas nennt zwei Stellen (S. 117 Fußnote 18): In 630d macht der Athener keinen Rückzieher, er bleibt bei seiner Vorstellung von Mut als vierter Tugend (632cd). In der anderen Passage 667a wird noch deutlicher, dass der Athener nicht zurückweicht.
Und der Athener sagt angeblich, dass die kretischen Gesetze auf alle Tugenden abzielen, nicht nur auf den militärischen Mut (S. 117). – Aber auch dies ist nicht wahr. In allen von Julia Annas angegebenen Stellen (S. 117 Fußnote 19) sagt der Athener deutlich, dass die kretischen Gesetze, die von Tyrtaeus begründet wurden, für den Krieg gemacht sind und daher nur auf den Mut abzielen, nicht auf höhere Tugenden (628e-632d, 659c-663d, 705de). Es ist nicht wahr, dass der Athener den Kretern bessere Gesetze unterschiebt, indem er vorgibt, dass dies ihre Gesetze seien, wie Julia Annas behauptet.
Fragwürdig ist auch der Gedanke von Julia Annas, dass es sich bei den kretischen Gesprächspartnern im Dialog um einfache Menschen handelt, die theoretische Überlegungen zu einem idealen Staat, wie in der Politeia, nicht nachvollziehen können und einen Ansatz zur Entwicklung eines idealen Staates besser verstehen würden (S. 117 f.). Die Gesprächspartner des Atheners sind führende Politiker Kretas, die den Auftrag haben, eine neue Kolonie zu gründen. Dies sind sicherlich keine gewöhnlichen Männer.
Wir sehen oft moderne Versuche, Platons Dialogsituationen umzudeuten, indem man subtile psychologische Mechanismen am Werk sieht und den Gesprächspartnern absonderliche Charaktere unterstellt. Ein weiteres Beispiel ist Warman Wellivers Interpretation des Gesprächspartners Kritias im Timaios-Kritias als politischem Idioten aus dem Jahr 1977. Diese Versuche übertreiben in der Regel bestimmte Aspekte und vernachlässigen andere, und so enden sie mit viel Wunschdenken in einem totalen Desaster einer Interpretation, bei der Platons Absichten manchmal sogar auf den Kopf gestellt werden. Und ein Wissenschaftler schreibt vom anderen gutgläubig ab, so dass aus solchen Irrtümern ganze Denkschulen entstehen können. Es ist einfach nur schrecklich.
Julia Annas ist es erneut nicht gelungen, eine plausible Interpretation der politischen Philosophie Platons vorzulegen. Ihr Versuch, die konventionelle Lesart zu untergraben, ist in vielerlei Hinsicht falsch, wenn nicht geradezu hanebüchen. Es ist sicherlich eine gute Idee, neu zu entdecken, was Glenn R. Morrow in seinem Buch Plato's Cretan City – A Historical Interpretation of the Laws geschrieben hat. Aber Julia Annas' Schlussfolgerungen aus diesem Buch sind nicht überzeugend.
Inmitten dieses gescheiterten Versuchs, Platons politische Philosophie zu interpretieren, steht ein weiterer gescheiterter Versuch, Platons Atlantisgeschichte zu interpretieren. Wiederum erklärt Julia Annas Atlantis auf der Grundlage oberflächlicher und falscher Argumente zu einer Erfindung, diesmal jedoch eingebettet in ihre Irrtümer über den breiteren Kontext der Atlantisgeschichte. Es hat sogar den Anschein, dass der gesamte Versuch einer Umdeutung von Platons politischer Philosophie von dem Willen angetrieben war, Atlantis als Erfindung und bloße Utopie zu deuten. Das wäre ein weiteres Beispiel dafür, wie die Interpretation von Platons Atlantis als einer Erfindung schädlich auf die Deutung anderer Bereiche der platonischen Philosophie ausgreift. Wie auch immer: Im Vergleich zu ihrem Artikel über Platons Atlantis von 2011 ist dies keine Verbesserung.
Annas (2011): Julia Annas, The Atlantis Story: the Repbulic and the Timaeus, in: Plato's Repbulic – A Critical Guide, hrsgg. von Mark L. McPherran, Cambridge University Press, Cambridge / New York 2011; S. 52-64. Auf der Grundlage eines Vortrages gehalten auf dem 13. Arizona Colloquium in Ancient Philosophy 15.-17. Februar 2008 University of Arizona, Tucson. (Hier herunterladen)
Annas (2021): Julia Annas, Plato's ideal society and Utopia, in: Pierre Destrée / Jan Opsomer / Geert Roskam (Hrsg.), Utopias in Ancient Thought, de Gruyter, Berlin 2021; S. 103-119. (Siehe der Text hier)
Franke (2021): Thorwald C. Franke, Platonische Mythen – Was sie sind und was sie nicht sind – Von A wie Atlantis bis Z wie Zamolxis, Books on Demand, Norderstedt 2021.
Morrow (1960): Glenn R. Morrow, Plato's Cretan City – A Historical Interpretation of the Laws, Princeton University Press, Princeton/NJ 1960.