John Victor Luce (1920-2011) war Professor für Klassische Altertumswissenschaften am Trinity College in Dublin. Wir verdanken ihm einen der wichtigsten Beiträge zur historisch-kritischen Erforschung von Platons Atlantis.
Bereits 1969 veröffentlichte Luce sein Werk The End of Atlantis – New Light on an Old Legend, in dem er die These unterstützte, dass Platons Atlantiserzählung sich auf die minoische Kultur bezog.
Doch sein Hauptwerk ist der weniger bekannte Artikel The Sources and Literary Form of Plato's Atlantis Narrative von 1978. Hier analysiert Luce sehr grundlegend die Möglichkeit eines historischen Hintergrundes von Platons Atlantiserzählung. Dabei ging es ihm weniger um die Suche nach einem konkreten Ort, als um eine glaubwürdige Quellenkritik: Könnte Platon sich tatsächlich auf historische Quellen stützen?
Als Fürsprecher dieser Möglichkeit zählt John V. Luce zunächst zahlreiche antike und moderne Autoren auf, von denen man sonst gewöhnlich eher selten hört. Auch der Begriff des Platonischen Mythos wird hinterfragt: Platonische Mythen sind keineswegs reine Dichtung. Dazu verweist er auf Wilhelm Brandenstein: Eine lediglich fiktive Darlegung hätte Platon nicht als Beweis für seine Ideen dienen können; und: die literarische Gattung einer frei erfundenen "wahren Geschichte" gab es zu Platons Zeit noch nicht.
John Victor Luce zeigt, dass die Atlantiserzählung konsequent in Platons Geschichtsbild passte, und dass Platon in anderen Dialogen sehr zuverlässig war, wenn er über historische Sachverhalte schrieb. Auch dazu kann er – wie immer – auf zahlreiche Wissenschaftler verweisen, die seine These stützen.
Dann diskutiert Luce die Möglichkeit einer ägyptischen Quelle für die Atlantisüberlieferung. Luce vermutet, dass Platon selbst die Atlantisüberlieferung aus Ägypten mitbrachte. Er analysiert auch typische Irrtümer in Texten aus Ägypten, wie sie sich z.B. bei Herodot finden, und sich analog auch in der Atlantisüberlieferung finden könnten.
Schließlich legt John V. Luce noch einmal seine These dar, dass der historische Hintergrund der Atlantiserzählung die minoische Kultur sei. Platon habe mythisches und historisches Material verknüpft, und manche Ausschmückung zugefügt, meint Luce, aber der Kern sei historisch.
In einem Anhang zeigt Luce auf, dass der Erzähler der Atlantiserzählung nicht der Tyrann Kritias sein könne, sondern ein älterer Kritias. Auch diese Untersuchung widerlegt so manches Argument gegen die Möglichkeit eines historischen Kerns der Atlantiserzählung.
Mit diesem Artikel hat John V. Luce eine ganze Reihe wichtiger Themen und Argumente auf die Tagesordnung gesetzt, die für die historisch-kritische Analyse von Platons Atlantiserzählung von elementarer Bedeutung sind. Luce sieht immer noch viel Ironie und Mythen und Ausschmückungen, aber sein Ansatz wegweisend. Nur mit einer historisch-kritischen Analyse wird man das Atlantisproblem lösen können.
Wer sich wissenschaftlich mit Platons Atlantiserzählung befassen möchte, kommt an diesem Artikel von John V. Luce nicht vorbei. Zu Atlantis hat Luce danach kaum noch veröffentlicht, doch hat er im Jahr 1994 noch einmal bekräftigt, dass er an seinen Thesen im Grundsatz festhält.
Luce (1969): John V. Luce, The End of Atlantis – New Light on an Old Legend, Thames & Hudson, London 1969.
Luce (1972): John V. Luce, More Thoughts About Thera, in: Greece & Rome, 2nd series Vol. 19 Nr. 1 / 1972; S. 37-46.
Luce (1978): John V. Luce, Die literarische Perspektive – Die Quellen und die literarische Form von Platons Atlantis-Erzählung, in: Edwin S. Ramage (Hrsg.), Atlantis – Mythos, Rätsel, Wirklichkeit?, Umschau-Verlag, Frankfurt am Main 1979; S. 65-101; Englische Originalausgabe: The Literary Perspective – The Sources and Literary Form of Plato's Atlantis Narrative, in: Edwin S. Ramage (Hrsg.), Atlantis – Fact or Ficton?, Indiana University Press, Bloomington/London 1978; S. 49-78.
Luce (1994): John V. Luce, The Changing Face of the Thera Problem, in: Classics Ireland Bd. 1/1994; S. 61-73.