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Ian C. Rutherford
und die griechisch-ägyptische Literatur

Hinterfragung der "orthodox view" auf Platons Atlantisgeschichte

Thorwald C. Franke
© 07. Januar 2023


     

Biographisches

Ian C. Rutherford (geb. 1959) ist ein britischer Professor für Klassische Philologie an der Universität von Reading in England. Er ist Experte für das Thema griechisch-ägyptische Literatur, d.h. für die Frage der gegenseitigen Beeinflussung der beiden Kulturen in Bezug auf literarische Traditionen. Er stellt zum Beispiel die Frage, ob die Entstehung und Entwicklung des griechischen Romans (die erst nach Platon stattfand) von älteren ägyptischen Literaturtraditionen beeinflusst wurde. Er forscht aber auch zu gegenseitigen griechisch-ägyptischen Einflüssen in der Musik und zu einigen anderen Bereichen der Altertumsforschung.

Da Rutherford sein Hauptaugenmerk auf eine spätere Zeit als Platon legt, kommentiert er Platons Atlantisgeschichte nur in kurzen Worten am Rande von Artikeln über andere Themen, z.B. zur Entwicklung des griechischen Romans. Doch diese Kommentare sind lesenswert.

Über Atlantis

Rutherford hat gut beobachtet, dass für Platon auch Ägypten ein Idealstaat war, wenn auch ein gealterter (Rutherford (2013b) S. 67). Er erwägt die Möglichkeit, dass Platons Konzept eines idealen Staates stärker vom ägyptischen Konzept der Ma'at beeinflusst sein könnte, als viele denken (Rutherford (2016b) S. 22; vgl. auch Rutherford (2016a) S. 18 und Fußnote 93 zu Stephens). Auch Platons Vorstellung, dass Ägypten immer von katastrophalen Ereignissen verschont blieb wie sie in anderen Regionen regelmäßig auftreten, wird für Platons Zeiten als reale Ansicht akzeptiert, wobei die physische Geographie Ägyptens als Grund dafür angeführt wird (Rutherford (2013b) S. 68). Natürlich ist auch von Herodot die Rede, dessen Glaubwürdigkeit mehr und mehr Bestätigung findet. Rutherford stellt die Frage, ob z.B. die Inaros-Revolte, von der Herodot berichtet, ein Echo in Platons Atlantisgeschichte findet (Rutherford (2016b) S. 99). Denn in diesen Zeiten waren Athen und Ägypten gegen einen mächtigen Aggressor vereint. Was die Frage nach den 9.000 und den 8.000 Jahren in Platons Atlantisgeschichte angeht, folgt Rutherford der Interpretation, dass es Ägypten war, das 1.000 Jahre nach Ur-Athen gegründet wurde (Rutherford (2013b) S. 67; Rutherford (2016a) S. 21).

Grundlegend ist Rutherfords Erkenntnis, dass Platons Ansicht über das Alter Ägyptens völlig ernst gemeint war: "Both these ideas – that that Egyptian civilisation is about ten thousand years old, and that Greek states borrow the caste system from Egypt – are pretty conventional by Plato’s time" (Rutherford (2013b) S. 67). Folglich werden die Worte des ägyptischen Priesters an Solon in Platons Atlantisgeschichte über das Alter der berichteten Ereignisse als Beleg für Platons wahre Meinung über das Alter Ägyptens herangezogen (Rutherford (2016a) S. 2). Mit diesem Urteil steht Rutherford im Widerspruch zu vielen zeitgenössischen Atlantisskeptikern, die die 9.000 Jahre von Atlantis als eine Absurdität ansehen, die den Zeitgenossen Platons signalisierte, dass die Geschichte eine Erfindung ist. Sie haben den kollektiven Irrtum der alten Griechen über das Alter Ägyptens nicht erkannt. Dass Ägypten erst um 3.000 v. Chr. entstanden ist, war den alten Griechen nicht bekannt.

Rutherford ist generell der Meinung, dass antike Aussagen, die uns heute seltsam vorkommen, selten reine Erfindungen sind, sondern eher eine Mischung aus Wahrheit und Missverständnis (antik und modern) sowie Wunschdenken und Erfindung (Rutherford (2013b) S. 74 f.). Rutherford räumt ein, dass es Platon nicht in erster Linie darum ging, korrekte Informationen über Ägypten zu liefern. Als Beispiel führt er den "grand primeval myth of Ur-Athens, Egypt, and Atlantis" an. Aber nur, um sofort mit "on the other hand" über die Tatsache zu beginnen, dass einige von Platons Berichten wahr klingen (Rutherford (2013b) S. 75). Damit wird ganz leise und implizit die Frage aufgeworfen, ob dies auch für Platons Atlantis-Geschichte zutreffen könnte.

Drei Jahre später wird Rutherford expliziter: "While the idea that Herodotus drew on real Egyptian sources would probably be widely accepted today, it would be much harder to make a convincing case that Plato's Atlantis myth really was told to Solon by a priest of Sais, as he represents in the Timaeus. The orthodox view these days is that Plato was writing an allegory about the contemporary situation of Athens, inventing the story and its Egyptian origin. It may be observed, however, that the general theme of Egyptian push-back against the imperial ambitions of another power in the distant past seems exactly the sort of thing that would have appealed to Egyptian sentiment in this period ... . And the image of Egyptian society that Plato presents in the Critias and the Laws as a model of good order and social stability is also reminiscent of Egyptian views about their own culture." (Rutherford (2016a) p. 17 f.)

Indem er erklärt, es sei "much harder", ägyptische Belege für Platons Atlantisgeschichte zu finden, eröffnet Rutherford diese Frage erneut, auch wenn er nicht unmittelbar zu einer positiven Antwort ermutigt. Aber die Art und Weise, wie Rutherford über die "orthodox view" spricht, die in "these days" nur eine platonische Allegorie sieht, ist sehr bezeichnend. Und dann fügt Rutherford hinzu, dass die Handlung von Platons Atlantisgeschichte perfekt in die ägyptische Literatur der damaligen Zeit passen würde. Und ein weiterer Zusatz: Dass Platon manche ägyptische Ansichten durchaus korrekt wiedergibt.

Schluss

Wir können aus all dem keine allzu weitreichenden Schlüsse ziehen. Es ist keine ausgemachte Sache für Rutherford, dass es überhaupt eine ägyptische Grundlage für Platons Atlantisgeschichte gab. Und wenn es eine ägyptische Grundlage gab, dann war es wahrscheinlich ein fiktionaler Text, wie er für das Ägypten dieser Zeit typisch war. Rutherford teilte diese Annahme per e-Mail mit. Er selbst sieht sich als Atlantisskeptiker.

Ägyptische Fiktion handelte oft von realen historischen Personen und Ereignissen. Außerdem haben sich in die endgültige Fassung der Geschichte, wie wir sie kennen, viele Verzerrungen, Missverständnisse und Ergänzungen eingeschlichen. In jedem Fall ist Rutherford definitiv offen für die Frage, ob es eine ägyptische Grundlage für Platons Atlantisgeschichte gab. Und gerade diese Offenheit ist wichtig, wohin sie auch immer führen wird.

Bibliographie

Quack (2005): Joachim Friedrich Quack, Einführung in die altägyptische Literaturgeschichte, Band III: Die demotische und gräko-ägyptische Literatur, Band 3 der Reihe: Einführungen und Quellentexte zur Ägyptologie, LIT Verlag, Münster 2005.

Rutherford (1997): Ian C. Rutherford, Kalasiris and Setne Khamwas: A Greek novel and some Egyptian models, in: Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik ZPE Nr. 117 (1997); S. 203-209.

Rutherford (2013a): Ian C. Rutherford, Greek fiction and Egyptian fiction – Are they related and, if so, how?, chapter 2 in: Tim Whitmarsh / Stuart Thomson (Hrsg.), The Romance Between Greece and the East, Cambridge University Press, Cambridge / New York 2013; S. 23-37.

Rutherford (2013b): Ian C. Rutherford, Strictly Ballroom – Egyptian Mousike and Plato’s Comparative Poetics, chapter three in: Anastasia-Erasmia Peponi (Hrsg.), Performance and Culture in Plato's Laws, Cambridge University Press, Cambridge / New York / etc. 2013; S. 67-83.

Rutherford (2016): Ian C. Rutherford (Hrsg.), Greco-Egyptian Interactions – Literature, Translation, and Culture, 500 BCE-300 CE, Oxford University Press, Oxford 2016.

Rutherford (2016a): Ian C. Rutherford, Interaction and Translation between Greek Literature and Egypt, Introduction chapter in: Ian C. Rutherford (Hrsg.), Greco-Egyptian Interactions – Literature, Translation, and Culture, 500 BCE-300 CE, Oxford University Press, Oxford 2016; S. 1-39.

Rutherford (2016b): Ian C. Rutherford, The Earliest Cross-Cultural Reception of Homer? The Inaros-Narratives of Greco-Roman Egypt, in: Ian C. Rutherford (Hrsg.), Greco-Egyptian Interactions – Literature, Translation, and Culture, 500 BCE-300 CE, Oxford University Press, Oxford 2016; S. 83-106.



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