Heiner Müller (1929-1995) war einer der bedeutendsten deutschen Dramatiker und ein kultureller Leuchtturm der DDR. Wiederholt sah Heiner Müller Atlantis in Werken, von denen er sich inspirieren ließ. Doch von Atlantis war in diesen Werken nicht die Rede. Und wiederholt verwendete Heiner Müller Atlantis als Chiffre. Doch diese Chiffre hatte nie wirklich etwas mit Platons Atlantis zu tun.
Für sein Theaterstück "Leben Gundlings Friedrich von Preussen Lessings Schlaf Traum Schrei – Ein Greuelmärchen", das 1976 uraufgeführt wurde, ließ sich Heiner Müller von den Werken des französischen Autors Lautréamont inspirieren. Lautréamont (1846-1870) gilt als ein Schriftsteller des Zivilisationsbruches, der in seinen Werken das Böse verherrlicht. Sein Hang zur Irrationalität ließ ihn auch zum Vorläufer des Surrealismus werden. Die Wirkung von Lautréamont kann gar nicht überschätzt werden.
Heiner Müller war – angeregt durch Julien Gracq (1910-2007) – der Ansicht, dass die politische Linke einseitig rational sei und auf diese Weise wesentliche Wirkkräfte zur Bewegung der Massen der politischen Rechten überlassen hätte. Das wollte Heiner Müller ändern. Zu diesem Zweck knüpfte er an den Kult des Bösen an, der durch Lautréamont begründet worden war.
In Lautréamonts Hauptwerk "Les Chants de Maldoror" wird die Figur des Maldoror zur Personifikation des Bösen. In der neunten Strophe des ersten Gesanges wird dem Meer gehuldigt, das sich immer gleich bleibt. Heiner Müller verstand das als einen Hinweis auf Atlantis. Doch das ist falsch. bei Lautréamont ist nicht von Atlantis die Rede. Dennoch machte Heiner Müller Maldoror zum "Fürsten von Atlantis". Atlantis ist für Heiner Müller die Chiffre für das Irrationale, das Böse, das Emotionale.
Als Chiffre für Rationalität und Ordnung (und Christlichkeit, als Chiffre für das Gute) wählte Heiner Müller – durchaus zutreffend – Preußen aus. Preußen steht in der Tat für Rationalität und Aufklärung: Immanuel Kant war einer der Hauptdenker der Aufklärung und des kritischen Rationalismus, Friedrich der Große führte die Aufklärung und die Freimaurerei in Deutschland ein, die Brüder Humboldt begründeten eine liberale Staatsauffassung, die wissenschaftliche Naturforschung, sowie das humboldtsche Ideal von Gymnasium und Universität, usw. usf.
Unter Verwendung dieser beiden Chiffren kam Heiner Müller dazu, in Notizen, die um das Jahr 1976 entstanden waren, die verblüffende Aussage zu formulieren: "Sprengung Preußens durch Atlantis". Gemeint ist natürlich die Überwindung von Ordnung und Rationalität durch den Irrationalismus, durch das Chaos, durch das Böse, zum Wohle der politischen Linken zur Bewegung der Massen.
Literatur: Storch/Ruschkowski (2007) S. 73, 85-84, 102 f.
Antonin Artaud (1896-1948) war ein französischer Schauspieler, der nach Mittelamerika ging und dort bei Indianern mit Drogen experimentierte. Dabei entwickelte er die pseudowissenschaftliche These, dass die Rituale der Indianer auf das Königsritual von Atlantis zurückgehen würden. Und dass die Atlanter bei Platon als eine magische Rasse beschrieben würden. Die Schriften von Antonin Artaud entfalteten eine große Wirkung.
Natürlich war alles, was Antonin Artaud über Atlantis zu sagen hatte, falsch. Aber Heiner Müller griff den Gedanken auf und plante darauf aufbauend eine Fortsetzung von "Leben Gundlings" unter dem Titel "Antonin Artaud". Für Heiner Müller war Antonin Artaud ein willkommener moderner Vertreter jener Irrationalität, die er suchte. Das Stück wurde nie vollendet.
Literatur: Storch/Ruschkowski (2007) S. 92 f.; Artaud (1986).
Heiner Müller sah auch in Dantes Inferno einen Bezug zu Atlantis. In Inferno XXVI segelt Odysseus über die Säulen des Herakles hinaus und erreicht schließlich nach langer Fahrt eine hohen Berg, wo er Schiffbruch erleidet und untergeht. Heiner Müller hielt diesen Berg für Atlantis. Doch das ist falsch.
Denn Odysseus segelt bei Dante nicht nach Westen sondern nach Süden, wie mehrere Angaben deutlich werden lassen. Bei dem Berg handelt es sich gemäß der Geographie Dantes offensichtlich um den Purgatoriumsberg und nicht um Atlantis. Das wird auch von Kommentatoren Dantes so gesehen und ist keine neue Erkenntnis. Zumal Atlantis in Dantes Zeit als versunken galt.
Literatur: Müller (1986) S. 18 f., mit Bezug auf Heiner Müllers Brief an Mitko Gotscheff, den Regisseur der bulgarischen Erstaufführung des Philoktet, vom 27.03.1983, in: Storch/Ruschkowski (2005) S. 163.
Natürlich hat Heiner Müller Platons Atlantis in der Wahl und Definition seiner Chiffre Atlantis systematisch verfehlt. Es ist auch nicht zu sehen, dass Heiner Müller je zu Platons Originaltext vorgedrungen wäre, um seine Chiffre zu definieren. Immer scheint Heiner Müller an der Oberfläche jener Werke zu bleiben, in denen er Atlantis zu sehen glaubt.
Doch ironischerweise hat Heiner Müller Platons Atlantis – ungewollt – doch ganz gut getroffen: Denn bei Platon ist Atlantis natürlich die Stadt, die sich von der Tugend des Idealstaates abwendet, die Vernunft im Sinne Platons verrät und dadurch böse wird. Demgegenüber steht natürlich Ur-Athen, der Idealstaat, der in der Tugend bleibt, und damit natürlich insbesondere an Platons Rationalität festhält. In diesem Sinne entspricht Atlantis verblüffend gut der Chiffre "Atlantis", und Ur-Athen entspricht verblüffend gut der Chiffre "Preußen", wie Heiner Müller sie verstand.
Allerdings stellt Heiner Müller Aussage und Zielrichtung von Platons Atlantisgeschichte völlig auf den Kopf: Während bei Platon das gute und rationale Ur-Athen das böse und irrationale Atlantis besiegt, ist es bei Heiner Müller gerade umgekehrt: Das böse und irrationale Atlantis "sprengt" das gute und rationale Preußen. Man kann wohl mit Sicherheit sagen, dass Heiner Müller einer von jenen Dichtern gewesen wäre, die von Glück hätten sagen können, wenn Platon sie nur ins Exil geschickt hätte.
Nicht nur Platon, auch wir stellen uns die Frage, wie denn ein Mensch, der bei Sinnen ist, gegen Ordnung und Rationalität und das Gute sprechen kann? Wie ein Mensch sich dem Irrationalen, dem radikal Romantischen, dem Chaos, dem Bösen so zuwenden kann, wie Heiner Müller es hier tat? Es ist nicht zu begreifen und kann nur auf eine linke ideologische Verblendung, auf einen linken Macht-Wahn oder auf einen psychischen Irrwitz zurückgeführt werden. Vermutlich auf alles zugleich.
Jedenfalls wirkte Heiner Müller als Vorläufer und Mitläufer der Postmoderne, also jener philosophischen Richtung vornehmlich französischer Denker, die sich zur selben Zeit wie Heiner Müller gegen die Vernunft wandte und die Irrationalität begrüßte, und deren Ausläufer heute auch unter dem Namen "Wokeness" bzw. "Wokismus" bekannt sind. Letztlich ging es der Postmoderne um die Eliminierung des Menschen aus dieser Welt. Solche furchtbaren "Gedanken" finden wir z.B. auch in dem Büchlein "Glaubten die Griechen an ihre Mythen?" des postmodernen französischen Historikers Paul Veyne von 1983. Es ist nicht zu viel gesagt, bei der Postmoderne von "dem Bösen an sich" zu sprechen.
Dass in der Ausgabe "Atlantis" der Zeitschrift "Ästhetik und Kommunikation" von 1986, in der sich auch ein Interview mit Heiner Müller zu seiner irrigen Idee von Atlantis bei Dante und Artaud findet, auch ein recht interessanter Artikel von Thomas Blanke und Stefan Müller-Doohm enthalten ist, der sich gegen die Irrtümer der Postmoderne wendet, ist sicher kein Zufall. Der Artikel wendet sich speziell gegen die Ideen von Ulrich Horstmann (1949-), der 1983 mit einem Aufruf zur Selbstauslöschung der Menschheit Aufsehen erregte.
Der Artikel selbst berührt das Thema Atlantis nicht, er ist aber dennoch lesenswert. Immerhin haben wir bis heute mit jenen Problemen zu kämpfen, die uns die grenzenlose "Kultivierung" der Irrationalität durch die politische Linke zum Zwecke der Machterlangung beschert hat. Atlantis darf nicht siegen und wird nicht siegen. Sondern Ur-Athen und Preußen müssen und werden siegen, bzw. natürlich Platons zweitbester Staat, nachdem der Idealstaat sich als nicht realisierbar herausgestellt hat. So muss es sein und so wird es sein. Denn wir sind ja Menschen.
Literatur: Blanke/Müller-Doohm (1986).
https://de.wikipedia.org/wiki/Heiner_Müller
https://de.wikipedia.org/wiki/Julien_Gracq
https://de.wikipedia.org/wiki/Comte_de_Lautréamont
https://de.wikipedia.org/wiki/Antonin_Artaud
https://de.wikipedia.org/wiki/Ulrich_Horstmann
Kritische Rezension zu Paul Veyne: "Glaubten die Griechen an ihre Mythen?".
Ästhetik und Kommunikation (1986): Ästhetik und Kommunikation e.V. – Institut für Kultur und Ästhetik (IKAe) (Hrsg.), Ästhetik und Kommunikation Jahrgang 17 Heft 64: Atlantis (1986), Verlag Ästhetik und Kommunikation Verlags-GmbH, Berlin 1986.
Artaud (1986): Antonin Artaud, Der Ritus der Könige, in: Ästhetik und Kommunikation e.V. – Institut für Kultur und Ästhetik (IKAe) (Hrsg.), Ästhetik und Kommunikation Jahrgang 17 Heft 64: Atlantis (1986), Verlag Ästhetik und Kommunikation Verlags-GmbH, Berlin 1986; S. 67-70.
Blanke/Müller-Doohm (1986): Thomas Blanke / Stefan Müller-Doohm, Eulen der herrschenden Unvernunft – Aufklärung als Schatten der Vernunft, in: Ästhetik und Kommunikation e.V. – Institut für Kultur und Ästhetik (IKAe) (Hrsg.), Ästhetik und Kommunikation Jahrgang 17 Heft 64: Atlantis (1986), Verlag Ästhetik und Kommunikation Verlags-GmbH, Berlin 1986; S. 93-102.
Müller (1986): Heiner Müller, Atlantis Extra, in: Ästhetik und Kommunikation e.V. – Institut für Kultur und Ästhetik (IKAe) (Hrsg.), Ästhetik und Kommunikation Jahrgang 17 Heft 64: Atlantis (1986), Verlag Ästhetik und Kommunikation Verlags-GmbH, Berlin 1986; S. 18-22.
Storch/Ruschkowski (2005): Wolfgang Storch / Klaudia Ruschkowski (Hrsg.), Die Lücke im System – Philoktet, Heiner Müller Werkbuch, Band 24 der Reihe: Recherchen, Verlag Theater der Zeit, Berlin 2005.
Storch/Ruschkowski (2007): Wolfgang Storch / Klaudia Ruschkowski (Hrsg.), Sire, das war ich – Leben Gundlings Friedrich von Preussen Lessings Schlaf Traum Schrei, Heiner Müller Werkbuch, Band 42 der Reihe: Recherchen, Verlag Theater der Zeit, Berlin 2007.