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Rezension: Zeit in den Kulturen des Altertums – Antike Chronologie im Spiegel der Quellen, hrsgg. von Roland Färber und Rita Gautschy 2019.

Rezensiert von Thorwald C. Franke, Atlantis Newsletter Nr. 170 (10. Juni 2021). Dank geht an den Böhlau-Verlag, Wien / Köln / Weimar, der dieses Buch freundlicherweise für eine Rezension zur Verfügung stellte.

Bibliographische Angaben: Roland Färber und Rita Gautschy (Hrsg.): Zeit in den Kulturen des Altertums – Antike Chronologie im Spiegel der Quellen, Böhlau-Verlag, Wien / Köln / Weimar 2019. 688 Seiten. ISBN 9783412518158. $98,00. €80,00. £73,00.



Das von Roland Färber und Rita Gautschy herausgegebene Werk ist eine wahre Fundgrube von Quellenmaterial zum Thema Chronologie. Insgesamt 60 mal mehr, mal weniger bekannte Einzelquellen werden systematisch aufbereitet und erschlossen. Jede Quelle wird zunächst im Originaltext wiedergegeben, falls nötig mit Transliteration. Dann folgt eine Übersetzung und eine allgemeine Erläuterung zur Quelle, mit Verweisen auf verwandte Quellen. Dann werden "technische" Aspekte des chronologischen Bezuges erläutert. Schließlich wird auf die soziokulturelle Bedeutung des chronologischen Bezuges der Quelle ausgewertett. Zu jeder Quelle gibt es eine eigene Bibliographie. Häufig sind auch Abbildungen und Schemazeichnungen von hoher Qualität beigefügt. Die Aufbereitung der Quellen ist wirklich vorbildlich. Sie schafft viel Klarheit und Überblick und erleichtert dem Leser das Leben sehr. Auch das Glossar mit chronologischen und kalendarischen Fachbegriffen am Ende des Buches ist überhaus hilfreich.

Betrachtet werden nicht nur griechische und römische Quellen, also die "klassische" Antike, sondern auch Quellen aus dem alten Ägypten und aus Mesopotamien und dem Judentum. Das ist sehr wertvoll, denn hier existieren Bezüge, auch zur klassischen Antike, die in der Forschung traditionell eher selten in den Blick kommen. Die Originaltexte sind also nicht nur in Griechisch und Latein, man bekommt auch Hieroglyphen, Keilschrifttexte und Hebräisch zu sehen.

Der Schwerpunkt des Werkes liegt auf Chronologie als einem soziokulturellen Phänomen. Das bedeutet im Sinne dieses Buches, dass bei jeder Quelle danach gefragt wird, welche Bedeutung der chronologische Bezug jeweils auf die konkrete Lebenssituation der damaligen Menschen hatte. Deshalb liegt der Schwerpunkt des Werkes auf alltagsnahen und "praktischen" Chronologien, wie z.B. Kalender für Festtage und Landwirtschaft oder die Einteilung des Jahres in Monate oder des Tages in Stunden und Abschnitte.

Weniger Beachtung finden weiter ausgreifende chronologische Aspekte, die über das konkrete Leben der Menschen hinausgehen. So wird z.B. auch der Palermostein mit seinen Annalen ägyptischer Könige zuerst und hauptsächlich unter der Perspektive der "sozialen" Chronologie gedeutet: Es werden zuerst Zusammenhänge von Festen und der Nilschwemme im Jahreslauf genannt, ebenso wie jährlich wiederkehrende Steuerabgaben. Erst danach wird in nur wenigen Zeilen auch auf die übergreifende Chronologie eingegangen, die durch den Palermostein konstituiert wird. Leider wird diese enge soziokulturelle Perspektive dieser Publikation nicht im Titel des Werkes deutlich.

Es fehlen also weitgehend z.B. mythische Chronologien, wie etwa Hesiods Sicht auf die Vorgeschichte als einer Abfolge eines goldenen, eines silbernen, eines bronzenen und eines eisernen Zeitalters. Hesiod wird bezeichnenderweise nur in Bezug auf die Tage des Monats als Quelle angeführt. Auch andere mythische Einteilungen der Vorzeit kommen nicht vor, so z.B. das Zeitalter des Kronos, oder das mythische Zeitalter der Kämpfe mit Titanen, Amazonen und die Taten der Heroen, das in einer fernen Vorzeit gelegen haben soll. Es fehlen auch euhemeristische Chronologien, die aus Entmythologisierungsversuchen heraus entstanden sind. So z.B. die Parische Chronik, die die mythische Vorzeit Athens in konkreten Jahreszahlen fasst und auch mythische Flutkatastrophen wie die Deukalionische Flut konkret datiert. Auch zum Judentum fehlen solche Quellen, etwa Philon von Alexandria und seine Bedeutung für die biblische Chronologie. Und schließlich fehlen auch die (vor-)wissenschaftlichen Chronologien der Historiker und Philosophen, so z.B. Herodots irrige Annahme, dass Ägypten 11340 Jahre alt und älter sei, oder Platons Meinung, dass Ägypten mindestens 10000 Jahre alt sei, und dass sich die Geschichte in langen Zyklen von Kulturaufbau und Kulturuntergang wiederhole.

Diese weit über das Leben des einzelnen Menschen ausgreifenden Chronologien können sehr wohl auch eine spürbaren soziokulturelle Wirkung im Alltagsleben entfalten. Es ist ein großer Unterschied, ob man in einem Zeitgefühl lebt, dass sich nichts verändert, und Vergangenheit und Zukunft im Wesentlichen identisch sind, wie die alten Ägypter (zumindest in den Augen der Griechen) – oder ob man ein zyklisches Geschichtsbild hat. Zwar handelt es sich um Zyklen von vielen Jahrtausenden, doch macht es einen großen Unterschied, ob man sich am Anfang, in der Mitte, oder am Ende eines Zyklus wähnt. Platon z.B. glaubte, dass sich die Kulturentwicklung zu seiner Zeit ihrem Gipfel nähert: Der Idealstaat war erdacht und musste nur noch umgesetzt werden – und danach kommt der unvermeidliche Kulturuntergang, wenn auch nicht sofort, sondern in Jahrhunderten bemessen. Gunnar Rudberg sprach hier von einer fin-de-siècle-Stimmung Platons. Wieder anders sah die Welt für die Christen aus, die an einen linearen Zeitverlauf von der Schöpfung über das Auftreten von Jesus Christus bis hin zum Jüngsten Tag glaubten, in einem engen Zeitrahmen von nur rund 6000 Jahren.

Die soziokulturelle Bedeutung dieser Chronologien wird auf vielfältige Weise deutlich. So war die mythische Vorzeit in Epen und Tempelfriesen und Festen immer präsent. Die Datierung eines Festtages ist im Alltag sehr konkret, doch die Inhalte der Feste reflektieren häufig ein Ereignis jenseits der Alltagschronologie. Die soziokulturelle Bedeutung der weiter ausgreifenden Chronologien wurde auch am Streit zwischen der wissenschaftlichen Chronologie der Platoniker und der neuen Chronologie der Christen deutlich. Bekannt ist z.B. die Streitschrift Contra Celsum des Origenes gegen den platonischen Philosophen Kelsos. Für Augustinus war eine biblische Chronologie von wenigen Jahrtausenden eine ausgemachte Sache. Diese Perspektive wurde erst im Laufe der Neuzeit überwunden, und zwar zunächst wiederum mithilfe jener antiken Texte, die von älteren Zeitaltern redeten.

Allerdings hätte die Berücksichtigung dieser weiter ausgreifenden Chronologien einen eigenen Band erfordert. Das vorliegende Werk ist deshalb unter der gewählten Perspektive von eher "lebensnahen" soziokulturellen Aspekten thematisch durchaus abgerundet. Man hätte sich allerdings gewünscht, dass die gewählte Perspektive mit ihren Einschränkungen deutlicher im Titel zum Ausdruck kommt. Und vielleicht wird es eines Tages ja auch einen weiteren Band geben, der die fehlenden Aspekte ergänzt. Dieses Werk macht nichts falsch, sondern alles richtig – es fehlt nur etwas.

In bezug auf die Deutung von Platons Atlantis gibt dieses Buch keine unmittelbar hilfreiche Auskunft. Die 9000 Jahre von Atlantis gehören einer über das Leben des Einzelnen ausgreifenden Chronologie an, und solche Chronologien werden kaum behandelt. Vielleicht könnte man im Zusammenhang mit einer der vielen Quellen zu Festtagen eine Hinweis darauf finden, warum sich die Könige von Atlantis alle vier bzw. fünf Jahre versammelten. Dem Rezensenten ist dazu aber nichts aufgefallen. Vielleicht könnte der Brief des Mar-Issar über die Kalenderschaltung und den Meton-Zyklus einen Fingerzeig geben?



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