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Edit Hall über Platons Atlantis

Ein kritischer Kommentar

Thorwald C. Franke
© 27. Oktober 2022


Dieser Kommentar bezieht sich auf: The 'lost' city of Atlantis, BBC History Extra podcast, Edith Hall interviewt von Emma Mason, 01. Dezember 2020. Der Podcast kann hier angehört oder heruntergeladen werden!

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Edith Hall ist Professorin für Klassische Philologie am King's College London und an der Universität Durham und ist spezialisiert auf antike griechische Literatur. Ihre Bücher und Artikel befassen sich mit dem antiken griechischen Theater, der Sklaverei, Aristoteles und der Kulturgeschichte des antiken Griechenlands im Allgemeinen. Edith Hall hat weder über Platon noch über Platons Atlantis publiziert. Dennoch wurde sie von BBC History Extra als Interviewpartnerin zu Platons Atlantis ausgewählt. Wir müssen viele ihrer Aussagen kritisieren, aber sie hat auch einige wertvolle Beobachtungen gemacht.

Sachfehler

Leider stellt Edith Hall viele Thesen auf, die sachlich falsch sind, und das, obwohl sie die Atlantisgeschichte am Wochenende vor dem Interview noch einmal gelesen hat (40:42). Gehen wir Punkt für Punkt durch.

Laut Hall ist der Grund, warum Atlantis der Dekadenz erliegt, "linked to the fact that they could sort of sailing around. They fell in love with commodities. They became very materialistic." (13:02) Atlantis wird beschrieben als eine "city that wrecks itself through getting too arrogant and too able to move around in its ships and bully other people." (23:06). – Doch das ist falsch. Der wahre Grund für die Dekadenz von Atlantis ist laut Platon, dass sich die Herrscher von Atlantis vollständig auf ihr göttliche Abstammung verließen, und als der göttliche Anteil im Laufe der Generationen schwand, verloren sie ihre göttliche Weisheit. Das ursprüngliche Athen hingegen verließ sich auf Bildung, um die Weisheit über die Generationen hinweg am Leben zu erhalten. Es ist dabei zu beachten, dass in Platons Atlantisdialogen auch keine Rede davon ist, dass die Atlanter in andere Länder segelten, um Handel zu treiben. Es ist eher das Gegenteil der Fall: Die Schiffe anderer Länder kommen nach Atlantis, um Handel zu treiben.

Edith Hall präsentiert hier die gleiche fehlerhafte Interpretation der Dekadenz von Atlantis wie Maximilien-Henri de Saint-Simon, der Onkel von Henri de Saint-Simon, der einer der berühmtesten Begründer der politischen Ideologie des Sozialismus war. Wir haben Grund zu der Annahme, dass Henri de Saint-Simon stark von diesem Onkel beeinflusst wurde, und deshalb können wir diese Lesart als die "sozialistische Lesart" der Atlantisgeschichte bezeichnen.

In diesem Zusammenhang ist es auch nicht ganz richtig, dass Atlantis – laut Hall – "was never run by philosophers" (23:06). Am Anfang, als die Könige von Atlantis noch einen großen göttlichen Anteil in sich hatten, haben sie sicherlich mit der Weisheit von Philosophen gehandelt, weil sie mit der Weisheit der Götter gehandelt haben.

Ebenfalls sachlich falsch ist die Behauptung, dass z.B. in Disneys Atlantis-Film "even the details, all these beautiful details of how the fountains are set out, and how the Temple of Poseidon is made with these beautiful glittering gemstones and marbles, and all that [is] straight out of Plato." (36:53) Sie wiederholt: "Well, it's a fairly faithful reconstruction of what Plato described. Yes." (38:19) – In Wahrheit ist das Atlantis im Disney-Film weit entfernt von der ursprünglichen Beschreibung Platons.

Laut Edith Hall beschreibt Platon "in the most elaborate terms an impossible society, it is physically impossible." (09:10) – Nicht wirklich. Platons Atlantis ist physikalisch nicht unmöglich, zumindest nicht in den Augen der alten Griechen. Mehrere Wissenschaftler haben darauf hingewiesen, dass Platons Atlantis nicht über die Grenzen dessen hinausgeht, was die alten Griechen als realistische Geschichte akzeptieren konnten, und dass die Größe der Bauwerke und Armeen von Atlantis nicht die Größe realer Bauwerke und realer Armeen dieser Zeit übersteigt. Dasselbe gilt für das angebliche Alter von Atlantis, das perfekt zu dem damaligen kollektiven Irrtum über das Alter Ägyptens passt, von dem man damals annahm, es sei 11.000 und mehr Jahre alt. – Edith Hall sagt sogar über Platons Atlantis: "It's not quite clear whether it is even under water or not." (09:10) Nicht wirklich. Es ist völlig klar, dass Platons Atlantis nicht unter Wasser lag (bis es zerstört wurde und im Meer versank, natürlich).

Edit Hall ist völlig auf dem Holzweg, wenn sie betont, dass die Atlantisgeschichte – laut Platon – nur auf Hörensagen und nicht auf einer schriftlichen historischen Überlieferung beruhen würde. Edith Hall: "this has come by the memories of several old man, and there's no written record of it at all." (09:10) Und: "It was never written down" (33:58) Und: "We don't have recorded history until [Mesopotamian times] and Plato's very glad why he don't got that, in his hash, so he starts it up before there is any writing to explain why there is no written version" (39:29) – In Wahrheit lobt Platon die Ägypter dafür, dass sie die ganze Geschichte aufgeschrieben und überliefert haben, und auch Solon macht schriftliche Notizen über sie, die in seiner Familie an Kritias weitergegeben wurden, die auch Platons Familie war. Es ist wichtig zu verstehen, dass die alten Griechen, einschließlich Platon, glaubten, Ägypten sei 11.000 Jahre alt und älter. Daher wurde die Geschichte von Atlantis in den Augen von Platon von Anfang an in schriftlicher Form überliefert. Dass Platon parallel zur schriftlichen Überlieferung von einer halb mündlichen Tradition von Solon bis Kritias schreibt, steht dazu nicht im Widerspruch. Kritias sagt, er habe die Geschichte nicht nur von seinem Großvater gehört, sondern auch die schriftliche Überlieferung studiert. Es ist nicht möglich, die Atlantisgeschichte, wie Platon sie darstellt, als eine unzuverlässige, nur vom Hörensagen überlieferte Geschichte zu beschreiben, da Platon die schriftliche Überlieferung von Atlantis ausdrücklich in Gegensatz zu den griechischen Mythen und ihrer unzuverlässigen mündlichen Überlieferung setzt.

Als Erfinder der Erkenntnistheorie, d.h. der Wahrheitsfindung, soll Platon mit dieser Frage gespielt haben: Was ist Mythos, was ist Geschichte? (33:58) Edith Hall: "he deliberately ... sets it up as a problematic source of knowledge. He doesn't say, and I found this 9000 year old papyrus, which is signed and sealed by somebody, and tested it by it's, it's carbon dated, right, to prove that it's true. He doesn't. He says, he heard from him, and he heard from him, and he had from the Egyptian priests several hundred years ago that there was this tradition. So he sets it up for you to actually discuss whether it's a source of true knowledge or not." (35:20) – Das stimmt nicht. Die Atlantisgeschichte wird ausdrücklich als eine wahre Geschichte aus schriftlichen Quellen bezeichnet und ausdrücklich in Gegensatz zu bloßen Mythen aus mündlicher Überlieferung gesetzt. Hier findet kein solches erkenntnistheoretisches Spiel statt.

Seltsam ist auch Halls Behauptung über die Eroberungen von Atlantis, nämlich "all the lands which the Greeks did know were out west in the Atlantic. I mean, they didn't travel there, but they knew that there were islands like the Canaries and Iceland" (09:10) – Denn, wie sie selbst hinzufügt, spricht Platon von Libyen und Italien als eroberten Ländern, nicht von den Kanaren und Island, d.h. Platon spricht von Land im Mittelmeer, nicht von Land "out west in the Atlantic".

Dann gibt es noch kleinere Fehler, wie zum Beispiel, dass Poseidon Kleito angeblich "in the central palace, in the central part of the island" festhielt. Dort gab es aber zur Zeit der Gründung keinen Palast. – Hall erweckt auch den Eindruck, als habe Platon selbst mit Timaios und Hermokrates zu Abend gegessen, als habe er persönliche Tischgespräche in seinen Atlantisdialogen wiedergegeben (53:07). Das ist höchst fragwürdig und kaum ein Klassischer Philologe würde dieser Idee zustimmen. – Seltsam auch, dass Edith Hall den wirklichen Namen von Platon zweimal mit "Aristocleides" angibt, da er "Aristokles" lautete (57:18 ff.; 59:41). – Schließlich sagt Edith Hall über Platons Symposion, dass "the entire thing is about homoerotic love." (53:07) Das ist nicht wahr. Es geht um die Liebe im Allgemeinen, einschließlich der homoerotischen Liebe.

Atlantis ein Fabelland?

Edith Hall vermittelt den Eindruck, dass Platons vorzeitliches Athen und auch Atlantis von Platon als unwirkliche und fabulöse Städte dargestellt werden. Ihr Urteil von einer "an impossible society" haben wir bereits gehört, siehe oben. Für Hall beschreibt Platon "Athens ...as an absolutely utopian ideal society full of brave and moral people." (13:02) – Dies ist zumindest irreführend. Das Wort "utopian" hat eine doppelte Bedeutung. Es kann zum einen einen realistischen Plan und eine realistische Vision für eine zukünftige Stadt bedeuten. Auf diese Weise wird es von Edith Hall verwendet, wenn sie über Platons Idealstaat richtig sagt: "It's an ideal utopia, as he saw it." (02:11), oder wenn sie sagt: "He's constructed a hypothetical possible future society" (19:57) Aber von "absolutely utopian" zu sprechen, bedeutet etwas anderes: "utopian" bedeutet hier "impossible". Und wie wir oben gesehen haben, verwendet Edith Hall ausdrücklich das Wort "impossible". – Edith Hall verwendet also beide Bedeutungen von "utopian", ohne sich zu entscheiden. Dies wird bei den meisten Zuhörern den Eindruck erwecken, Platon habe absichtlich eine unrealistische Utopie konstruiert und beschrieben. Das ist aber nicht der Fall, zumindest nicht in Platons Augen. Nur aus der Perspektive unserer heutigen Zeit können wir erkennen, dass Platons Beschreibung, wörtlich genommen, nicht real sein kann.

Den gesamten Podcasts hindurch deutet Edith Hall das Zeitalter der 9.000 Jahre konsequent wörtlich. Aber ist das die richtige Lesart? Nein, natürlich nicht. Denn wie wir bereits erwähnt haben, unterlagen die alten Griechen dem kollektiven Irrtum, dass Ägypten 11.000 Jahre und älter sei. Platon selbst spricht in seinem Dialog Nomoi in Bezug auf Ägypten von 10.000 Jahren. Die 9.000 Jahre, die Platon für Atlantis angibt, weisen also auf eine Zeit nach der Gründung von Ägypten hin. Da wir wissen, dass Ägypten in Wirklichkeit erst um 3.000 v.Chr. gegründet wurde, bedeutet dies, dass Platon auf eine Zeit nach 3.000 v.Chr. hinweist. Und das gilt selbst dann, wenn Platon die Atlantisgeschichte erfunden hat! Aber historisch-kritische Überlegungen wie diese, die für ein angemessenes Verständnis dessen, wovon Platon spricht, absolut notwendig sind, werden im gesamten Podcast nicht erwähnt.

Nachdem Edith Hall mehrere Merkmale der Atlantisgeschichte identifiziert hat, die ihr unmöglich oder unplausibel erscheinen, sagt sie: "So it's deliberately made as implausible in terms of accuracy, even though he says it's a true story." (09:10) Aber es ist wirklich die Frage, ob Edith Hall nicht ein Opfer von schwerwiegenden Fehlinterpretationen ist. Sie lag falsch bei der schriftlichen Überlieferung, sie lag falsch mit der physikalischen Unmöglichkeit, sie lag falsch bei dem kollektiven Irrtum der Griechen über das Alter Ägyptens, und sie hat die beiden Bedeutungen von Utopie verwechselt.

Ein weiteres Beispiel sind die Götter in der Geschichte. Es ist wichtig zu wissen, dass alle antiken Städte Gründungsmythen hatten. Und Platon glaubte immer noch an Götter und Dämonen, obwohl er begann, die Welt mit Hilfe der Rationalität zu erforschen. Daher ist es kein Zeichen von Fiktion, wenn Götter als Stadtgründer auftreten oder wenn die moralisch guten Athener im Einklang mit dem Willen der Götter über die bösen Atlanter siegen (05:07).

Edith Hall kommt schnell zum Schluss: "So it's completely untrue. I mean, I and every other classical scholar, we're all completely in agreement about that." (05:07) – Diese weit verbreitete Einigkeit ist keine Errungenschaft, sondern ein Problem.

Platon, der Dichter?

Für Edith Hall ist Platon eher ein Dichter als ein Philosoph. Über Platon und Platons Atlantis sagt sie: "Plato just was an amazing writer. I think he was a better writer than philosopher, you know. And I personally think this is his most ornamental and lyrical piece of distress of writing in his entire works." (07:38) Und: "it's an astonishing piece of fiction writing, which ... has got very futuristic sort of elements. It's an imaginary city. So it actually reads in a way more like a place in a science fiction novel to us than a piece of serious ancient history."(05:07) – Edith Hall hätte bedenken sollen, dass Platon sehr um Wahrheit bemüht war und dass er sich über Dichter ärgerte, die unwahre Geschichten erfanden. Wie konnte er dann selbst wie solche Dichter handeln? Für Platon war der wahre Dichter ein wahrhaftiger Dichter.

Edit Hall erinnert an die sogenannten Platonischen Mythen, die überall in Platons Dialogen zu finden sind, "that often are myths or legends or stories told in them." (07:38) – Edith Hall hat hier gar nicht so unrecht. Aber wie sie selbst sagt, gibt es Mythen, und es gibt Legenden, und es gibt Geschichten, die wahr sein könnten. Und Platon benennt die Qualität seiner Geschichten immer. Deshalb ist es wichtig zu bemerken, dass die Atlantisgeschichte aus Ägypten als eine wahre Geschichte bezeichnet wird.

Edith Halls Interpretation

Die Interpretation von Edith Hall verdankt viel der Interpretation von Pierre Vidal-Naquet, was sie offen ausspricht (25:14). Für sie spiegeln das vorzeitliche Athen und Atlantis ein "double Athens" wider (23:06): "Athens turned into, if you like, Atlantis, so we've got the good Athens and the bad Athens" (21:26) Von Pierre Vidal-Naquet hat Edith Hall viele ihrer Fehler übernommen, denen wir in diesem Podcast begegnen. Für Edith Hall war Pierre Vidal-Naquet "an astonishing French classicist", der "writes so persuasively" (25:14) – Letzteres ist ein sehr, sehr problematisches Urteil. Denn Pierre Vidal-Naquets Stil ist sehr essayistisch und neigt dazu, diese oder jene Tatsache oder dieses oder jenes Argument zu verstecken oder überzubetonen. Vidal-Naquets Überzeugungskraft beruht nicht auf Fakten und auf dem besseren Argument, sondern auf einem rhetorischen Stil, den Platon als sophistisch beurteilt hätte, soviel steht fest.

Außerdem interpretiert Hall die Atlantisgeschichte als historischen Roman und vergleicht sie mit einem modernen Roman über die Französische Revolution: "So we will try and describe historically exactly what Paris was like in 1789, but then we're going to invent all kinds of people and things that went on actually, according to our own contingent, 21st century agenda. And that's what Plato is doing with its own contingent fourth century political agenda." (36:10) – Aber es gibt ein großes Problem mit dieser Interpretation: Die literarischen Gattungen zu Platons Zeit waren recht begrenzt. Der historische Roman wurde erst Jahrhunderte nach Platon entwickelt. Platons Zeitgenossen hätten es nicht verstanden, die Geschichte als historischen Roman zu interpretieren, so wie wir es aus unserer modernen Perspektive leichthin zu tun versucht sind. Es mag eine Erfindung sein, aber kein historischer Roman. Wenn es eine Erfindung war, dann war es eine Täuschung. Aber das ist nicht Halls Interpretation.

Seltsam ist auch Edith Halls Versuch, Platons Idealstaat und die Atlantisgeschichte in eine Diskussion über Demokratie einzubinden. Nachdem Platon in Sizilien war, sagt sie, "he comes back to Athens, which is still the democracy, (and) writes this down" (15:54), d.h. er schreibt die Atlantisgeschichte mit Wut über die Demokratie nieder. Für Hall ist die Atlantisgeschichte "Plato's response to what he thought was wrong with the democracy". (17:23) Sie ist eine "parable about democracy" (25:14) – Aber wie kann die Atlantis-Geschichte ein Kommentar zur Demokratie sein, wenn es in ihr keinen demokratischen Staat gibt? (Und als Platon aus Syrakus wiederkam, war er wohl eher wütend über den Tyrannen dort, und nicht über Demokratie?) Man kann sagen, dass die Politeia ein Versuch war, einen Ausweg aus dem Dilemma zwischen Monarchie, Oligarchie und (direkter) Demokratie zu finden. Dasselbe gilt für die Nomoi. Aber die Geschichte von Atlantis hat den idealen Staat als Voraussetzung, und es gibt keinen Vergleich mit einer Demokratie. Der eigentliche Sinn der Atlantisgeschichte liegt vielmehr in dem Vergleich der beiden Staaten, dem vorzeitlichen Athen und Atlantis, und dabei geht es um die Frage, wie man die Weisheit im Staat über Generationen hinweg aufrechterhalten kann. Dies ist der entscheidende Punkt, in dem sich die beiden Staaten unterscheiden.

Alternative Deutungen

Edith Hall räumt ein, dass es unter den Wissenschaftlern Meinungsverschiedenheiten gibt. Über ihre Interpretation von Atlantis als doppeltes Athen sagt sie, dass "probably about half of classical scholars would agree with me, that it's a parable about [Athens]" (19:57) Die andere Hälfte würde eine Interpretation als "a much more general parable" vorziehen: "It isn't tied to the Athenian experience in that way. It's about, it's got bits of, say, the Persian Empire, and it's got bits of the islands of the Blessed in it, it's got the Phaeacaeans, ... and it's got bits of ancient Egypt in it, ... every constitution deprecated in literature before, right, has fed into it. And of course, I would agree with that's in a way with the descriptive writing, but I still think it's more." (25:14) – Hier äußert Edith Hall eine sehr wertvolle Kritik an Interpretationen, die in Platons Atlantis sozusagen eine Kombination von fast allem sehen wollen, nur um das Eingeständnis zu vermeiden, dass es eine einzige Vorlage für Atlantis geben könnte, sei es ein Modell für eine Erfindung oder sei es eine verzerrte historische Überlieferung. Eine ähnliche Kritik wurde z.B. von Gunnar Rudberg geäußert, der Syrakus als Modell für eine Erfindung im Sinn hatte.

Zur Frage, ob Atlantis ein realer Ort ist, sagt Edith Hall: "A few archaeologists, archaeologically minded classicists, are still trying to find the real Atlantis. I'm trying to pin it on. I mean, there were a considerable number of floods and tsunamis and earthquakes in the period between the early Bronze Age, in fact even earlier than that, we know. So it's very possible that there are traces, of course, in Plato's writing of folk memory of islands that literally disappear. I mean, that does happen in the Mediterranean." (26:45) Und: "I'm absolutely sure that several islands ... sank beneath the waves, in tsunamis, 9000 years before. It's not implausible" (36:53) – Aber Edith Hall bleibt stur bei der wörtlichen Interpretation der 9.000 Jahre und ignoriert völlig jede Art von historisch-kritischem Ansatz, wie er z.B. von John V. Luce vertreten wurde. Daher fällt es ihr leicht, das Urteil zu fällen, dass "trying to find a specific location for Atlantis is really to misunderstand Plato's project, fundamentally." (26:45)

Auf der Grundlage dieser Perspektive ist es Edith Hall natürlich nicht möglich, eine gute Antwort auf die Frage zu finden, warum Atlantis immer noch so faszinierend ist. Sie flüchtet sich in Antworten, die recht esoterisch anmuten, z.B. "There's something about a lost civilization which just seems to be endlessly fascinating to the human race. The human race wants its cultural ancestors." (39:29) – Aber wenn das wahr wäre, dann gäbe es ein riesiges Interesse an der gesamten Geschichte. Aber es gibt keins. Es gibt eine alternative Antwort, die Edith Hall nicht liefert: Der Grund, warum die Geschichte von Atlantis immer noch faszinierend ist, liegt einfach darin, dass sie einer realen Geschichte über einen realen Ort sehr ähnlich sieht. Vielleicht ist es ja auch eine?

Rezeptionsgeschichte

Wahrscheinlich deshalb, weil Edith Hall sich stark auf Pierre Vidal-Naquet stützt, wiederholt sie viele seiner Fehler in der Rezeptionsgeschichte. Der auffälligste Fehler in dieser Hinsicht besteht darin, immer noch anzunehmen, Aristoteles habe explizit gesagt, dass Platon Atlantis erfunden habe. Edith Hall: "Well, we know he did because Aristotle mentions that. He actually says, Aristotle ... says, the great Plato invented this in order to teach political philosophy." (16:36) Edith Hall wiederholt: Aristoteles "was unequivocal that it was a myth through which he thought about political philosophy. That, he was unequivocal about that." (28:49) – Wir wissen heute, dass dies falsch ist. Das angebliche Wort des Aristoteles gegen die Existenz von Atlantis ist kein Wort des Aristoteles. Diese Fehlinterpretation kam erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf und wurde 2010 durch das Buch "Aristoteles und Atlantis – Was dachte der Philosoph wirklich über das Inselreich des Platon?" widerlegt. Seitdem haben immer mehr Wissenschaftler ihre Argumentation in dieser Hinsicht verändert, und einige haben sogar damit begonnen, nach anderen möglichen Autoren des Wortes gegen Platons Existenz zu suchen, da es sich nicht um Aristoteles handelt.

Edith Hall scheint übrigens mehr von Aristoteles als von Platon fasziniert zu sein. Sie sagt z.B. "I always believe Aristotle" (16:36), oder "It's not the case that the rest of philosophy is a footnote to Plato, as sometimes has been said. I would say that to Aristotle" (01:03:42) oder "his most brilliant student by far, was the unbelievably great thinker Aristotle" (02:11).

Was die Lokalisierungshypothesen in der Antike betrifft, so vermasselt Edith Hall die Sache völlig: "But the other people in later antiquity, you know, suggested all kinds of things that it was somewhere in the mouth of the River Nile, because Egypt is a phenomenon in the story. ... sometimes it's located around the Sardinia, western Mediterranean sort of island areas. The Greeks seem to have been aware that there were different levels of depth and shallowness in the Mediterranean, so they suggested some places." (28:49) – Das ist nicht wahr. Plato äußerst sich ziemlich genau über die Lage von Atlantis, das angeblich direkt westlich der Meerenge von Gibraltar lag, weil die versinkende Insel angeblich so viel Schlamm hinterließ, dass es nicht mehr möglich war, in den Atlantik hinauszufahren. Das sagt Edith Hall selbst (05:07). Auch Aristoteles glaubte an die Existenz dieses Schlamms. Niemand in der Antike oder im Mittelalter dachte an einen anderen Ort. Es stimmt auch nicht, dass Atlantis von einigen Christen am Berg Ararat lokalisiert wurde (28:49). Es ist einfach nicht wahr, wenn Edith Hall sagt: "It wasn't until the Renaissance that people actually started focusing on the Atlantic." (29:55)

Wie Pierre Vidal-Naquet geht auch Edith Hall davon aus, dass im Mittelalter niemand über Atlantis gesprochen hat. Doch das ist falsch. Zahlreiche Gelehrte haben im Mittelalter über Atlantis geschrieben, und Platons Dialog Timaios war im lateinischen Mittelalter immer verfügbar. Ein Beispiel dafür ist Bernhard von Chartres, der Gründer der so genannten Schule von Chartres. Erst 1984 konnte ein Kommentar zu Platons Timaios, der auch die Atlantisgeschichte umfasste, Bernard als Autor zugeschrieben werden. Und Bernard tat genau das, was Edith Hall sagte, ohne Namen zu nennen: "Some people have compared the Athens of the Atlantis stories to a sort of a prelapsarian Adam and Eve Garden of Eden." (48:59) Für Bernard von Chartres bezog sich die Beschreibung Platons auf den Garten Eden, der für ihn als gläubigen Christen ein realer Ort war.

Es ist also nicht ganz richtig, wenn Edith Hall sagt: "People were blown away by this story. I mean, you can imagine it ... They'd had not known about it because it's not in the Roman sources that had come up through the Latin way." (29:55) – Schon richtiger ist diese Beobachtung: "People were reading this exactly the same time as people are founding colonies in the New World. So it blew their mind and everybody said it has to be in America." (29:55) Allerdings waren die Meinungen geteilt, ob Amerika Atlantis war, oder "nur" das in Platons Atlantisgeschichte erwähnte gegenüberliegende Festland.

Richtig ist auch, dass "it wasn't the case 100 years ago", dass die Altertumswissenschaftler "all completely in agreement" waren, dass "it's completely untrue" (05:07) Aber vor 100 Jahren, von der Zeit des Podcasts an gerechnet, wäre erst 1920. Der Umschwung hin zu einer gemeinsamen Meinung gegen die Existenz von Atlantis fand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts statt, als klar wurde, dass die wortwörtliche Lesart der Atlantis-Geschichte zu keinen realistischen Ergebnissen führt (und man bis heute keine historisch-kritischen Methoden anwendet, was man stattdessen hätte tun können). Es ist also eher 150 Jahre her als 100 Jahre.

Schluss

Wieder einmal sind wir Zeuge, wie eine seriöse Wissenschaftlerin, Edith Hall, Opfer des schlechten Zustandes der Wissenschaft bezüglich der Interpretation von Platons Atlantis geworden ist. Es ist ein Irrglaube, dass Atlantis ein klarer Fall sei und man deshalb leicht darüber reden könnte. Es ist nicht einfach. Sich auf ein oder zwei bekannte wissenschaftliche Autoren zu diesem Thema zu verlassen, wie z.B. Pierre Vidal-Naquet, ist nicht ausreichend. Die Wissenschaft ist zu Platons Atlantis noch zu keinem endgültigen Ergebnis gekommen. Die derzeit vorherrschende Erfindungshypothese ist brüchiger als viele denken.

Es ist sehr wertvoll, dass Edith Hall auf Meinungsverschiedenheiten in der Wissenschaft eingegangen ist und Kritik an Interpretationen von Atlantis geäußert hat, die von einer Art Patchworkkombination aus tausenden von literarischen Traditionen ausgehen. Auch ihre mehr aufs Allgemeine zielenden Einsichten sind durchaus zutreffend: "Sometimes when we like to think that we've made so much progress: we have technologically, but intellectually? No. Apart from applied science and all that entails, which is, of course, amazing, I agree, can sometimes not believe what I'm reading that it was written 2500 years ago." (01:03:42)



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