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Sir Desmond Lee argumentiert unvermutet
für die Realität von Atlantis

Thorwald C. Franke
© 17.-30. April 2014


Sir Desmond Lee (1908-1993) war ein englischer klassischer Philologe, der sich auf antike Philosophie spezialisiert hatte und an der Universität Cambridge lehrte. U.a. verteidigte er Platon gegen den Vorwurf, er befürworte durch seinen Täuschungsmythos die Manipulation der Massen durch Propaganda, was eine tiefere Einsicht Lees in Platons Denken zeigt. In einem Nachruf auf ihn heißt es, er hätte auf seine Mitmenschen "either intellectually stimulating or maddeningly remote" gewirkt.


Abb.: Erste Worte des Appendix on Atlantis

Eine qualitativ höherwertige Atlantisthese

1971 fügte Desmond Lee seiner Übersetzung von Platons Timaios-Kritias einen "Appendix on Atlantis" an, in dem er seine Auffassung über den Realitätsgehalt von Platons Atlantis darlegte. Diese 22 Seiten haben es in sich. Desmond Lee hat mehr gesehen und mehr verstanden als viele andere.

So ist es ihm z.B. nicht entgangen, dass auch Aristoteles von einem zyklischen Untergang und Wiederaufstieg der Kultur ausging, oder dass auch Aristoteles den Schlamm vor der Meerenge von Gibraltar erwähnt – ganz wie Platon in der Atlantiserzählung. Lee erkennt klar, dass der Vorgängerdialog des Timaios eine bearbeitete Version der Politeia sein sollte, und dass der fehlende Dialog Hermokrates den Wiederaufstieg der Kultur hätte beschreiben sollen. Lee wirft die heute leider aus der Mode gekommene Frage auf, ob der Abbruch des Kritias vielleicht etwas mit den Ereignissen auf Sizilien zu tun gehabt haben könnte. Nach Meinung von Lee könnte der Hermokrates auf Platons Freund Dion gemünzt gewesen sein. Unfundierten Zahlenspekulationen zur Deutung von Atlantis erteilt Lee eine gründliche Absage: "Such speculations are profitless, whether they come from the learned, with elaborate parallels from Plato's other dialogues, or merely from cranks."

Natürlich gibt es auch bei Lee einige Schwächen, von denen wir nur Beispiele nennen wollen: Die Erklärung der 9000 Jahre durch einen Faktor 10 ist natürlich zu einfach, hier hätte Lee besser auf den Vergleich zu den Irrtümern anderer griechischer Geschichtsschreiber zurückgegriffen. Auch trifft es nicht zu, dass es explizite Angaben über die Erstreckung der Insel Atlantis gibt; man weiß nur etwas über die Erstreckung der Ebene auf dieser Insel. Dass die Häuser von Atlantis an der äußeren Mauer entlang gebaut sind, wie Platon dies später in den Nomoi plant, ist ebenfalls unzutreffend.

Ein klarer historischer Kern wird zugestanden

Für Desmond Lee ist die Überlieferung der Atlantiserzählung über Solon aus Ägypten chronologisch grundsätzlich möglich. Auch stört er sich nicht daran, dass außer Platon niemand sonst von dieser Erzählung wusste: "Nor does it seem to me in the least surprising that the story should occur only in Plato. By his own account it had survived as, so to speak, a bit of family gossip in Critias' family."

Lee geht aber noch weiter: "And I am prepared to go so far as to say that there may be some foundation in fact in Plato's tale." Und: "But Solon might have heard a story of a powerful island people overwhelmed by some natural disaster; and perhaps of its involvement at one point in an unsuccessful war". Für Lee kann es sich dabei nur um irgendeine Katastrophe im Mittelmeerraum in historischer Zeit gehandelt haben. Über diese Argumentation kommt Desmond Lee schließlich auf die Minoische Kultur als Kandidaten für Atlantis. Das Opferritual hält er für möglich, aber er sieht in dem, was wir über das Opferritual der Minoer wissen, kein überzeugendes Detail.

Schließlich ist es die Entdeckung, dass es einst einen gewaltigen Ausbruch des Vulkans von Thera gab, die Lee überzeugt. Lee: "There was nothing in the Greek mind or memory to connect it with Crete, and all Plato did (if he did anything) was to pick it up as something he could incorporate in his latest account of early human history." Lee nennt sogar einen konkreten Ort, der Atlantis gewesen sein könnte: "It is tempting, as one stands on the site of Phaestos, looking over the plain of Messara, to suppose that this is the low hill on which the citadel of Atlantis was built, that Phaestos was Atlantis and the plain of Messara (with suitable irrigation works) the 'most beautiful of all plains' described by Plato."


Abb.: Blick von Phaistos in die Ebene von Messara

Dennoch ist Atlantis für Lee kein realer Ort

Anders als man nun vermuten könnte, meint Lee der Versuchung wiederstehen zu müssen, Atlantis z.B. in der minoischen Kultur als einen realen Ort zu erkennen. Für Lee ist die Atlantiserzählung trotz eines möglichen historischen Kerns "imaginary history" und "science fiction" in der Vergangenheit. Dafür gibt Lee folgende Gründe an:


Abb.: Die Akademie Platons

Lees Argumente gegen die Realität von Atlantis stechen nicht

Wir haben gesehen, dass Lee einen klaren historischen Hintergrund der Atlantiserzählung für möglich hält. Es geht ihm nur um die Frage, ob dieser historische Hintergrund es verdient, Atlantis genannt zu werden. Dass Lee diese Frage und diese Unterscheidung überhaupt in die Diskussion eingeführt hat, ist bereits aller Ehren wert. Die meisten Atlantisskeptiker übersehen dieses Problem. Doch Lees Argumente gegen die Realität von Atlantis stechen nicht:

Desmond Lee hat unvermutet für die Realität von Atlantis argumentiert

Wie wir sehen, erweisen sich alle interpretatorischen Argumente als hinfällig, die Lee angeblich oder tatsächlich daran hinderten, in einem möglichen historischen Hintergrund ein reales Atlantis zu erblicken. In der gleichzeitigen Akzeptanz eines möglichen historischen Hintergrundes und der übervorsichtigen Zurückweisung einer Realität von Atlantis trotz aller Realität ist Desmond Lee noch selbstwidersprüchlicher als der Österreicher Theodor Gomperz.

Damit können wir den verblüffenden Schluss ziehen, dass die Argumente von Desmond Lee für einen realen Hintergrund der Atlantiserzählung unerwarteterweise Argumente für Atlantis als einem realen Ort sind. Sogar die Möglichkeit eines überraschend konkreten historischen Hintergrundes hat Desmond Lee offeriert. Doch noch wichtiger als der konkrete Vorschlag der minoischen Kultur für den historischen Hintergrund ist die Öffnung des Denkens für Möglichkeit von Atlantis als einem realen Ort an sich.

        
Abb.: Alte und neue Ausgaben von 1977 and 2008

Im Jahre 2008 wurde Lees "Appendix on Atlantis" entfernt

Im Jahr 2008 überarbeitete Dr. Thomas Kjeller Johansen von der Universität Oxford Lees Übersetzung des Timaios-Kritias im Auftrag des Verlages Penguin Books/Penguin Classics. Im Rahmen dieser Überarbeitung entschied Dr Johansen, den "Appendix on Atlantis" zu entfernen. In einer e-mail vom 30.04.2014 begründete er das so:

"The new edition of the Timaeus and Critias was revised, not just in respect of omitting the Appendix, but also in offering a new introduction and explanatory notes. The translation was also extensively revised. While the translation remains essentially that of Lee, I don't think it is correct in this context to talk of dividing the author's work by separating translation and the Appendix. One objective in revising the edition was to bring it up to date in relation to contemporary scholarship, which means primarily Anglophone scholarship given Penguin's readership. It would not have been either appropriate or possible for me to try to update the Appendix. However, the thesis that Atlantis was somehow a historical reality is discussed in my introduction, and reference is made to work that follows this hypothesis, as well as the difficulties I see with it. There is nothing underhand (no 'censorship') therefore about the omission of the Appendix. The interested reader will in any case have no difficulty finding the old edition, which is still in wide circulation."

Der Verlag Penguin Books/Penguin Classics schrieb per e-mail, ebenfalls im April 2014:

"Should you wish to purchase an edition including the appendix, I suggest you try to locate a copy of the 1977 edition, which is, unfortunately, out of print, as we have replaced it with the revised 2008 edition." – Zum Vorschlag, Lees Appendix kostenlos im Internet zur Verfügung zu stellen, da er ja out-of-print ist: "As for making text still under copyright available on the internet, this is out of the question. It is not a matter of censorship, far from it, as the previous edition is still widely available, but I am not prepared to infringe the rights of the copyright holders, in this instance Lee's heirs."

Wer heute eine neues Exemplar von Lees Übersetzung im regulären Buchhandel kauft, erfährt nichts mehr von Lees Gedanken über Atlantis. Lees "Appendix on Atlantis" ist nur noch antiquarisch in alten Ausgaben von 1971 bzw. 1977 erhältlich. Die Anfertigung von Privatkopien für wissenschaftliche Zwecke ist jedoch erlaubt.



Literatur

Lee (1971/1977): Desmond Lee, Plato – Timaeus and Critias, Translated with an introduction and an Appendix on Atlantis by Desmond Lee, The Penguin Classics series, Penguin Books, Harmondsworth 1971; reprinted with revisions 1977; pp. 146-167.
       Nur noch antiquarisch erhältlich: abebooks.de - abebooks.co.uk - abebooks.com

Lee/Johansen (2008): Desmond Lee / Thomas Kjeller Johansen, Plato – Timaeus and Critias, Translated and annotated by Desmond Lee, Translation revised, introduced and further annotated by T.K. Johansen, The Penguin Classics series, Penguin Books, Harmondsworth 2008.
       Neu erhältlich (d.h. ohne Appendix on Atlantis): amazon.de - amazon.co.uk - amazon.com

Gomperz (1896/1902/1909): Theodor Gomperz, Griechische Denker – Eine Geschichte der antiken Philosophie, 3 Bände, Verlag von Veit & Co., Leipzig 1896/1902/1909.
       Die Auszüge über Atlantis siehe hier.

Franke (2010): Thorwald C. Franke, Aristoteles und Atlantis – Was dachte der Philosoph wirklich über das Inselreich des Platon?, Verlag BoD, Norderstedt 2010.
       Inhaltsübersicht siehe hier.


Links

https://en.wikipedia.org/wiki/Desmond_Lee
http://atlantipedia.ie/samples/lee-sir-henry-desmond-prichard/
http://www.independent.co.uk/news/people/obituary-sir-desmond-lee-1468791.html
https://de.wikipedia.org/wiki/Minoische_Eruption
https://de.wikipedia.org/wiki/Phaistos



Dank geht an Oliver D. Smith,
der meine Aufmerksamkeit auf Lees "Appendix on Atlantis" lenkte.


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