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Deutsche Übersetzungen von Platons Atlantisdialogen

Verfügbare deutsche Übersetzungen von Platons Timaios und Kritias:

Synopse verschiedener Übersetzungen:

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TIMAIOS

Übersetzt von Franz Susemihl 1856.


Sokrates – Timaios – Hermokrates – Kritias

[Der Unbekannte Vierte]

(17a) SOKRATES    Eins, Zwei, Drei – wo aber bleibt uns denn der Vierte, mein lieber Timaios, von denen, welche gestern bewirtet wurden, jetzt aber (selber) bewirten sollen?

TIMAIOS    Es hat ihn (gewiß) irgend eine Unpäßlichkeit befallen, lieber Sokrates, denn aus freien Stücken würde er wohl nicht aus dieser Gesellschaft wegbleiben.

SOKRATES    Demnach dürfte es denn deine Aufgabe und die der Übrigen sein, hier auch die Stelle des Abwesenden auszufüllen?

(17b) TIMAIOS    Gewiß, und wir werden es in nichts daran fehlen lassen, soweit es in unseren Kräften steht. Denn nachdem wir gestern von dir mit Allem, was sich geziemt, gastfreundlich bewirtet worden sind, wäre es nicht recht, wenn wir Anderen dich nicht bereitwillig wiederbewirten wollten.

[Die Rekapitulation des Gesprächs vom Vortag]

SOKRATES    Nun denn, erinnert ihr euch noch, wie viel und worüber ich euch zu sprechen aufgab?

TIMAIOS    Zum Teil erinnern wir uns dessen noch; was uns aber entfallen ist, an das uns wieder zu erinnern bist du ja da. Oder lieber, wenn es dir nicht lästig ist, wiederhole es uns von Anfang an in der Kürze noch einmal, damit es sich besser in uns befestige.

(17c) SOKRATES    Das soll geschehen. Der Hauptinhalt meiner gestrigen Erörterungen über den Staat war ungefähr dieser, wie und aus was für Männern sich derselbe nach meiner Meinung am besten gestalten würde.

TIMAIOS    Ja, und zwar ganz nach unser Aller Sinne stelltest du ihn dar.

SOKRATES    Schieden wir nun nicht zuerst in ihm den Beruf der Landbauer und alle andern Gewerbe von der Klasse derer, denen die Kriegführung für Alle obliegen sollte?

TIMAIOS    Ja.

SOKRATES    Und indem wir je nach seiner Naturbeschaffenheit einem Jeden nur die eine, (17d) ihm allein angemessene Beschäftigung [und einem Jeden nach seiner Art sein Gewerbe] zuerteilten, erklärten wir, daß diejenigen, welche für alle (Andern) in den Krieg ziehen sollten, auch Nichts weiter als Wächter des Staates sein dürften, wenn etwa Einer von außen her oder auch Einer von den Einwohnenden käme, um ihm zu schaden, und zwar so, daß sie (dabei) die von ihnen Beherrschten (18a) als ihre natürlichen Freunde milde richten, denen aber, welche ihnen in den Schlachten als Feinde begegneten, hart zusetzen sollten.

TIMAIOS    Allerdings.

SOKRATES    Denn die Seelen der Wächter müßten – so, denke ich, sagten wir – eine gewisse zugleich willenskräftige, zugleich aber auch ganz vorzüglich zur richtigen Erkenntnis hinstrebende Natur besitzen, damit sie gegen jeden von beiden Teilen mild oder hart zu sein vermöchten.

TIMAIOS    Ja wohl.

SOKRATES    Und dann, was ihre Erziehung anlangte, sagten wir da nicht, daß sie im Turnen und in der Tonkunst und in allen für sie erforderlichen Zweigen des Wissens gebildet werden müßten?

TIMAIOS    Freilich.

(18b) SOKRATES    Und wenn sie dann so gebildet wären – so etwa fuhren wir fort –, sollten sie weder Gold noch Silber noch überhaupt irgend etwas Anderes jemals als ihr ausschließliches Eigentum ansehen dürfen, sondern als Beschützer von ihren Schützlingen für deren Bewachung einen Sold von der Größe empfangen, wie sie zu einem mäßigen Leben hinreicht, und sollten denselben dann gemeinsam mit einander verzehren und (so) zusammenspeisend mit einander leben und ihr Streben durchaus allein auf die Tugend richten, von allen andern Geschäften aber befreit sein.

TIMAIOS    Auch das ward so festgesetzt.

(18c) SOKRATES    Und was dann ferner ihre Frauen anbetrifft, so gedachten wir doch auch dessen, daß man (nur) solche von ähnlicher Beschaffenheit ihnen zugesellen dürfe, und daß man denselben in Bezug auf den Krieg so wie auf die übrige Lebensweise allen ganz die nämlichen Beschäftigungen zuerteilen müßte.

TIMAIOS    In dieser Weise ward auch dieses ausgemacht.

SOKRATES    Was stellten wir denn ferner hinsichtlich der Kinderzeugung fest? Doch das ist wohl schon wegen der Ungewöhnlichkeit dessen, was darüber angeordnet ward, leicht zu behalten, daß wir nämlich Alles, was Ehen und Kinder anlangt, Allen insgesamt gemeinschaftlich machten, indem wir Anstalten dafür treffen ließen, daß Keiner jemals seine Abkömmlinge vor denen der Andern heraus erkennen könnte, (18d) sondern Alle sie insgesamt als von gleicher Abkunft betrachten würden, nämlich als Schwestern und Brüder, soweit sie innerhalb des (hiezu) passenden Alters geboren wären, die aber (ein Menschenalter) vorher und noch weiter zurück Gebornen als Eltern und Großeltern, und (ebenso) die in absteigender Linie Gebornen als Kinder und Kindeskinder.

TIMAIOS    Ja, und es ist dies, wie du sagst, leicht zu behalten.

SOKRATES    Damit sie nun aber gleich mit so vortrefflicher Naturanlage als möglich geboren würden – erinnern wir uns nicht, daß wir (zu diesem Zwecke) festsetzten, es müßten die Vorsteher und Vorsteherinnen (des Staates) für die Schließung der Ehen (18e) vermittelst gewisser Lose die Einrichtung treffen, daß die Guten und die Schlechten gesondert von einander beide mit Weibern von gleicher Beschaffenheit zusammenkämen und daß so deswegen keine Feindschaft unter ihnen entstände, indem sie vielmehr den Zufall als die Ursache der (jedesmaligen) Verbindung ansähen?

TIMAIOS    Wir erinnern uns dessen.

(19a) SOKRATES    Und doch wohl auch dessen, daß wir feststellten, daß die Kinder der Guten aufgezogen, die der Schlechten aber heimlich unter die übrigen Angehörigen des Staates verteilt werden müßten, und wie die Staatsvorsteher dann die Heranwachsenden zu beobachten und die Würdigen von ihnen wieder in ihren Geburtsstand zurückzuversetzen, die Unwürdigen innerhalb dieses letzteren selbst aber in den Platz dieser Wiederhinaufgerückten einzustellen hätten?

TIMAIOS    Freilich.

SOKRATES    Nun hätten wir denn wohl alles ebenso, wie gestern bereits wieder durchgegangen, so weit dies für eine Wiederholung in den Hauptzügen erforderlich, oder vermissen wir, mein lieber Timaios, noch irgend Etwas von dem Gesagten, was wir etwa übergangen hätten?

(19b) TIMAIOS    Nein, sondern gerade dies war der Inhalt desselben.

[Die Aufgabe des Sokrates]

SOKRATES    Hört nun ferner, wie es mir in Bezug auf diesen Staat, wie wir ihn entwickelt haben, geht. Ich habe nämlich ungefähr dieselbe Empfindung dabei, wie wenn Einer schöne Tiere sieht, sei es (bloß) gemalte, sei es auch wirklich lebende, die sich aber in Ruhe verhalten, und ihn dann das Verlangen ankommt, sie auch in Bewegung zu erblicken und Etwas von den Eigenschaften, welche belebten Körpern zukommen, (19c) im Kampfe erproben zu sehen. Ebenso also geht es mir mit dem von uns entwickelten Staate. Denn gerne möchte ich Jemanden darstellen hören, wie er diejenigen Kämpfe, welche einem Staate zukommen, gegen andere Staaten bestehen würde, indem er auf eine würdige Weise zum Kriege geschritten wäre und nunmehr während desselben das der in ihm herrschenden Erziehung und Bildung Entsprechende sowohl in der Ausführung durch Taten als in der Verhandlung in Worten dem jedesmaligen anderen Staate gegenüber leisten würde.

[Wer hat die Fähigkeiten zur Erfüllung der Aufgabe?]

Hierin nun, mein Kritias und Hermokrates, (19d) bin ich mir selber bewußt, daß ich niemals imstande sein werde, den Staat und die Männer gebührend zu verherrlichen. Und was mich betrifft, so ist das kein Wunder, aber ich habe dieselbe Meinung auch von den vormaligen, so wie von den jetzt lebenden Dichtern gewonnen: nicht als ob ich damit das Geschlecht der Dichter herabsetzen wollte; vielmehr ist es Jedem klar, daß Alles, was zu der Klasse der nachahmenden Künstler gehört, dasjenige am Leichtesten und Besten nachahmen wird, worin ein Jeder auferzogen ward, und daß es dagegen für einen Jeden schwer ist, dasjenige, was außerhalb seines Bildungskreises liegt, (19e) in den Taten, noch schwerer aber in den Worten gut nachzuahmen. Das Geschlecht der Sophisten aber wiederum halte ich zwar für sehr erfahren in Reden und vielen anderen schönen Dingen, fürchte aber, weil es in den Staaten umherzieht und nirgends eigene Wohnsitze hat, daß es unfähig sei, das Richtige zu treffen, wenn es sich darum handelt, wieviel und welcherlei wissenschaftliche und zugleich staatskluge Männer in Kampf und Schlachten, so wie in der jedesmaligen Unterhandlung, in Tat und Wort zur Ausführung bringen dürften.

So bleiben denn nur noch die Leute eures Schlages übrig, welche Beides zugleich, und zwar durch Anlage und durch Bildung, sind. (20a) Denn Timaios hier ist aus dem italischen Lokris gebürtig, welches sich der vortrefflichsten Verfassung erfreut, steht keinem von seinen Landsleuten an Vermögen und Herkunft nach, und hat dabei einerseits die höchsten Ämter und Ehrenstellen im Staate bekleidet, andererseits in Allem, was nur wissenschaftliches Streben heißt, nach meinem Dafürhalten das Höchste erreicht. Von dem Kritias aber wissen wir Athener es ja alle, daß ihn Nichts von den Dingen, um welche es hier sich handelt, fremd ist, und ebenso darf man es von der Naturanlage wie der Bildung des Hermokrates glauben, daß sie ihnen allen gewachsen sei, da dies von so vielen Seiten bezeugt wird.

(20b) Dies erwog ich auch schon gestern, und als ihr mich daher batet, das Wesen des Staates zu erörtern, so ging ich gerne darauf ein, weil ich wußte, daß Niemand geschickter als ihr, wenn ihr wolltet, dazu sein würde, die Fortsetzung hiezu zu liefern; denn darzustellen, wie der Staat zu einem seiner würdigen Kriege schreiten und sodann in Allem auf die ihm zukommende Weise handeln würde, dürftet ihr allein von Allen, die jetzt leben, geeignet sein. Nachdem ich mich daher dessen entledigt, was ihr mir aufgetragen, trug ich euch denn hinwiederum das eben Erwähnte auf. Ihr nun setztet nach gemeinschaftlicher Beratung auf heute meine Gegenbewirtung durch Reden fest, (20c) und da bin ich denn nun, gerüstet und ganz gewärtig sie zu empfangen.

[Überraschung: Eine reale Geschichte als Grundlage zur Erfüllung der Aufgabe]

HERMOKRATES    Und wir unsererseits, lieber Sokrates, wie es schon unser Timaios hier sagte, werden es gewiß an gutem Willen nicht fehlen lassen; auch haben wir so wenig einen Vorwand, uns dem zu entziehen, daß wir schon gestern, gleich als wir von hier in das Gastzimmer beim Kritias, wo wir wohnen, eingetreten waren, und noch vorher auf dem Wege dahin, eben den betreffenden Gegenstand mit einander betrachtet haben. (20d) Da trug uns denn nun unser Wirt eine Geschichte aus alter Überlieferung vor, und – dieselbe, lieber Kritias, könntest du nun auch dem Sokrates mitteilen, auf daß auch er mit uns prüfe, ob sie zur Erfüllung des uns Aufgetragenen etwas Geeignetes enthält oder nicht.

KRITIAS    Das mag geschehen, wenn es auch den Timaios, als unsern dritten Gesprächsgenossen, also gut dünkt.

TIMAIOS    Ich bin damit einverstanden.

[Die mündliche Überlieferung von Solon bis Kritias]

KRITIAS    So höre denn, Sokrates, eine gar seltsame, aber durchaus wahre Geschichte, wie sie einst Solon, der Weiseste unter den Sieben, erzählt hat. (20e) Er war nämlich, wie bekannt, ein Verwandter und vertrauter Freund meines Urgroßvaters Dropides, wie er auch selber wiederholt in seinen Gedichten sagt; meinem Großvater Kritias aber erzählte er bei irgend einer Gelegenheit, wie es dieser als Greis wiederum mir mitteilte, daß es viele vor Alters von unserem Staat vollbrachte bewunderungswürdige Taten gäbe, welche durch die Länge der Zeit und den Untergang der Menschen in Vergessenheit geraten wären; (21a) von allen aber sei eine die größte; (und diese ist es) deren Andenken mir jetzt zu erneuern geziemt, um sowohl dir meinen Dank abzutragen, als auch zugleich die Göttin an ihrem (gegenwärtigen) Feste auf eine echte und gebührende Weise wie durch einen Lobgesang zu verherrlichen.

SOKRATES    Wohlgesprochen. Aber was für eine Tat ist denn das, die Kritias, obgleich sie der Überlieferung unbekannt ist, dir dennoch als eine in Wahrheit vor Alters von dieser Stadt vollbrachte nach dem Berichte des Solon mitteilte?

KRITIAS    So will ich denn diese alte Geschichte erzählen, die ich von einem nicht (mehr) jungen Manne vernommen. (21b) Es war nämlich damals Kritias, wie er sagte, schon beinahe neunzig Jahre, ich aber so ungefähr zehn alt. Nun war gerade der Knabentag der Apaturien, und was sonst jedesmal an diesem Feste gebräuchlich ist, geschah auch diesmal mit den Kindern: Preise setzten uns nämlich die Väter für den besten Vortrag von Gedichten aus. So wurden denn viele Gedichte von vielen anderen Dichtern hergesagt; namentlich aber trugen viele von uns Kindern (manche) von denen des Solon vor, weil diese zu jener Zeit noch etwas Neues waren.

Da äußerte nun einer von den Genossen unserer Phratrie, sei es, daß dies damals wirklich seine Ansicht war, sei es, um dem Kritias etwas Angenehmes zu sagen, es scheine ihm Solon sowohl in allen anderen Stücken der Weiseste (21c) als auch in Bezug auf die Dichtkunst unter allen Dichtern der edelste zu sein. Der Greis nun – denn ich erinnere mich dessen noch sehr wohl – ward sehr erfreut und erwiderte lächelnd: Wenigstens, Amynandros, wenn er die Dichtkunst nicht bloß als Nebensache betrieben, sondern, wie Andere, seinen ganzen Fleiß auf sie verwandt und die Erzählung, welche er aus Ägypten mit hieher brachte, vollendet und nicht wegen der Unruhen und durch alle anderen Schäden, welche er hier bei seiner Rückkehr vorfand, (21d) sich gezwungen gesehen hätte, sie liegen zu lassen, dann wäre, wenigstens nach meinem Dafürhalten, weder Homeros noch Hesiodos noch irgend ein anderer Dichter je berühmter geworden als er.

Aber was für eine Geschichte war denn dies? fragte jener.

Traun von der größten und mit vollem Rechte ruhmwürdigsten Tat von allen, welche diese Stadt vollbracht, von welcher aber wegen der Länge der Zeit und des Unterganges derer, die sie vollbracht haben, die Überlieferung sich nicht bis auf uns erhalten hat.

So erzähle mir denn vom Anfange an, versetzte der andere, was und wie und von wem Solon hierüber Beglaubigtes gehört und es darnach berichtet hat.

[Solon in Ägypten]

(21e) Es gibt in Ägypten, versetzte Kritias, in dem Delta, um dessen Spitze herum der Nilstrom sich spaltet, einen Gau, welcher der saïtische heißt, und die größte Stadt dieses Gau’s ist Saïs, von wo ja auch der König Amasis gebürtig war. Die Einwohner nun halten für die Gründerin ihrer Stadt eine Gottheit, deren Name auf ägyptisch Neith, auf griechisch aber, wie sie angeben, Athene ist; sie behaupten daher, große Freunde der Athener und gewissermaßen mit ihnen stammverwandt zu sein.

Als daher Solon dorthin kam, so wurde er, wie er erzählte, von ihnen mit Ehren überhäuft, (22a) und da er Erkundigungen über die Vorzeit bei denjenigen Priestern einzog, welche hierin vorzugsweise erfahren waren, so war er nahe daran zu finden, daß weder er selbst noch irgend ein anderer Grieche, fast möchte man sagen, auch nur irgend Etwas von diesen Dingen wisse. Und einst habe er, um sie zu einer Mitteilung über die Urzeit zu veranlassen, begonnen, ihnen die ältesten Geschichten Griechenlands zu erzählen, ihnen vom Phoroneus, welcher für den ersten (Menschen) gilt, und von der Niobe, und wie nach der Flut Deukalion und Pyrra übrig blieben, zu berichten (22b) und das Geschlechtsregister ihrer Abkömmlinge aufzuzählen und habe versucht, mit Anführung der Jahre, welche auf jedes Einzelne kamen, wovon er sprach, die Zeiten zu bestimmen.

[Wiederkehrende Naturkatastrophen verschonen Ägypten]

Da aber habe einer der Priester, ein sehr bejahrter Mann, ausgerufen: o Solon, Solon, ihr Hellenen bleibt doch immer Kinder, und einen alten Hellenen gibt es nicht!

Als nun Solon dies vernommen, habe er gefragt: wie so? wie meinst du das?

Ihr seid alle jung an Geiste, erwiderte der Priester, denn ihr tragt in ihm keine Anschauung, welche aus alter Überlieferung stammt, und keine mit der Zeit ergraute Kunde. Der Grund hievon aber ist folgender. (22c) Es haben schon viele und vielerlei Vertilgungen der Menschen Statt gefunden und werden auch fernerhin noch Statt finden, die umfänglichsten durch Feuer und Wasser, andere, geringere aber durch unzählige andere Ursachen. Denn was auch bei euch erzählt wird, daß einst Phaethon, der Sohn des Helios, den Wagen seines Vaters bestieg und, weil er es nicht verstand, auf dem Wege seines Vaters zu fahren, Alles auf der Erde verbrannte und selber vom Blitze erschlagen ward, das klingt zwar wie eine Fabel, (22d) doch ist das Wahre daran die veränderte Bewegung der die Erde umkreisenden Himmelskörper und die Vernichtung von Allem, was auf der Erde befindlich ist, durch vieles Feuer, welche nach dem Verlauf (gewisser) großer Zeiträume eintritt.

Von derselben werden dann die, welche auf Gebirgen und in hochgelegenen und wasserlosen Gegenden wohnen, stärker betroffen als die Anwohner der Flüsse und des Meeres, und so rettet auch uns der Nil, wie aus allen anderen Nöten, so auch alsdann, indem er uns auch aus dieser befreit. Wenn aber wiederum die Götter die Erde, um sie zu reinigen, mit Wasser überschwemmen, dann bleiben die, so auf den Bergen wohnen, Rinder- und Schafhirten, erhalten; die aber, welche bei euch in den Städten leben, werden von den Flüssen ins Meer geschwemmt, (22e) dagegen in unserem Lande strömt weder dann noch sonst das Wasser vom Himmel herab auf die Fluren, sondern es ist so eingerichtet, daß alles von unten her über sie aufsteigt. Daher und aus diesen Gründen bleibt Alles bei uns erhalten und gilt deshalb für das Älteste. In Wahrheit jedoch gibt es in allen Gegenden, wo nicht übermäßige Kälte oder Hitze es wehrt, (23a) stets ein bald mehr, bald minder zahlreiches Menschengeschlecht.

[Nur in Ägypten blieb das Wissen von Ur-Athen erhalten]

Nur aber liegt bei uns Alles, was bei euch oder in der Heimat oder in anderen Gegenden vorgeht, von denen wir durch Hörensagen wissen, sofern es irgendwie etwas Treffliches oder Großes ist oder irgend eine andere Bedeutsamkeit hat, insgesamt von Alters her in den Tempeln aufgezeichnet und bleibt also erhalten. Ihr dagegen und die übrigen Staaten seid hinsichtlich der Schrift und alles Anderen, was zum staatlichen Leben gehört, immer eben erst eingerichtet, wenn schon wiederum nach dem Ablauf der gewöhnlichen Frist wie eine Krankheit die Regenflut des Himmels über euch hereinbricht und nur die der Schrift Unkundigen und Ungebildeten bei euch übrig läßt, (23b) so daß ihr immer von Neuem gleichsam wieder jung werdet und der Vorgänge bei uns und bei euch unkundig bleibt, so viel ihrer in alten Zeiten sich ereigneten.

Wenigstens eure jetzigen Geschlechtsverzeichnisse, wie du sie (eben) durchgingst, unterscheiden sich nur wenig von Kindermärchen. Denn erstens erinnert ihr euch nur Einer Überschwemmung der Erde, während doch so viele schon vorhergegangen sind, sodann aber wißt ihr nicht, daß das trefflichste und edelste Geschlecht unter den Menschen in eurem Lande gelebt hat, von denen du und alle Bürger eures jetzigen Staates herstammt, (23c) indem einst ein geringer Stamm von ihnen übrig blieb; sondern alles dies blieb euch verborgen, weil die Übriggebliebenen viele Geschlechter hindurch ohne die Sprache der Schrift ihr ganzes Leben hinbrachten. Denn es war einst, mein Solon, vor der größten Zerstörung durch Wasser der Staat, welcher jetzt der athenische heißt, der beste im Kriege und mit der in allen Stücken ausgezeichnetsten Verfassung ausgerüstet, wie denn die herrlichsten Taten und öffentlichen Einrichtungen von allen unter der Sonne, deren Ruf wir vernommen haben, ihm zugeschrieben werden.

[Ur-Athen]

(23d) Als nun Solon dies hörte, da habe er, wie er erzählte, sein Erstaunen bezeugt und angelegentlichst die Priester gebeten, ihm die ganze Geschichte der alten Bürger seines Staates in genauer Reihenfolge wiederzugeben.

Der Priester aber habe erwidert: Ich will dir Nichts vorenthalten, mein Solon, sondern dir Alles mitteilen, sowohl dir als eurem Staate, vor Allem aber der Göttin zu Liebe, welche euren so wie unseren Staat gleichmäßig zum Eigentume erhielt und beide erzog und bildete, und zwar den euren tausend Jahre früher aus dem Samen, den sie dazu (23e) von der (Erdgöttin) Ge und dem Hephästos empfangen hatte, und später eben so den unsrigen. Die Zahl der Jahre aber, seitdem die Einrichtung des letzteren besteht, ist in unseren heiligen Büchern auf achttausend angegeben. Von euren Mitbürgern, die vor neuntausend Jahren entstanden, will ich dir also jetzt in Kurzem berichten, welches ihre Staatsverfassung und welches die herrlichste Tat war, die sie vollbrachten; das Genauere über dies alles aber wollen wir ein ander Mal (24a) mit Muße nach der Reihe durchgehen, indem wir die Bücher selber zur Hand nehmen.

Von ihrer Verfassung nun mache dir eine Vorstellung nach der hiesigen. Denn du wirst viele Proben von dem, was damals bei euch galt, in dem, was bei uns noch jetzt gilt, wiederfinden, zuerst eine Kaste der Priester, welche von allen andern gesondert ist, sodann die der Gewerbetreibenden, von denen wieder jede Klasse für sich arbeitet, und nicht mit den anderen zusammen, samt den Hirten, Jägern und Ackerleuten; (24b) endlich wirst du auch wohl bemerkt haben, daß die Kriegerkaste hier zu Lande von allen Anderen gesondert und daß ihr nichts Anderes, außer der Sorge für das Kriegswesen, vom Gesetze auferlegt ist.

Ihre Bewaffnung ferner besteht aus Spieß und Schild, mit denen wir zuerst unter den Völkern Asiens uns ausrüsteten, indem die Göttin es uns, ebenso wie in euren Gegenden euch zuerst, gelehrt hatte. Was sodann die Geistesbildung anlangt, so siehst du doch wohl, eine wie große Sorge das Gesetz bei uns gleich in seinen Grundlagen auf sie verwandt hat, (24c) indem es aus allen auf die Naturordnung bezüglichen Wissenschaften bis zu der Wahrsagekunst und der Heilkunst zur Sicherung der Gesundheit hin, welche alle göttlicher Natur sind, dasjenige, was zum Gebrauche der Menschen sich eignet, heraussuchte und sich dergestalt alle diese Wissenschaften und alle andern, welche mit ihnen zusammenhängen, aneignete.

Nach dieser ganzen Anordnung und Einrichtung gründete nun die Göttin zuerst euren Staat, indem sie den Ort eurer Geburt mit Rücksicht darauf erwählte, daß die dort herrschende glückliche Mischung der Jahreszeiten am Besten dazu geeignet sei, verständige Männer zu erzeugen. Weil also die Göttin zugleich den Krieg und die Weisheit liebt, (24d) so wählte sie den Ort aus, welcher am Meisten sich dazu eignete, Männer, wie sie ihr am Ähnlichsten sind, hervorzubringen, und gab diesem zuerst seine Bewohner. So wohntet ihr denn also dort im Besitze einer solchen Verfassung und noch viel anderer trefflicher Einrichtungen (24e) und übertraft alle anderen Menschen in jeglicher Tugend und Tüchtigkeit, wie es auch von Sprößlingen und Zöglingen der Götter nicht anders zu erwarten stand.

[Atlantis]

Viele andere große Taten eures Staates nun lesen wir in unseren Schriften mit Bewunderung, von allen jedoch ragt eine durch ihre Größe und Kühnheit hervor. Unsere Bücher erzählen nämlich, eine wie gewaltige Kriegsmacht einst euer Staat gebrochen hat, als sie übermütig gegen ganz Europa und Asien zugleich vom atlantischen Meere heranzog. Damals nämlich war das Meer dort fahrbar, denn vor der Mündung, welche ihr in eurer Sprache die Säulen des Herakles heißt, hatte es eine Insel, welche größer war als Asien und Libyen zusammen, und von ihr konnte man damals nach den übrigen Inseln hinübersetzen, und von den Inseln auf das ganze gegenüberliegende Festland, (25a) welches jenes recht eigentlich so zu nennende Meer umschließt. Denn alles Das, was sich innerhalb der eben genannten Mündung befindet, erscheint wie eine (bloße) Bucht mit einem engen Eingange, jenes Meer aber kann in Wahrheit also und das es umgebende Land mit vollem Fug und Recht Festland heißen.

Auf dieser Insel Atlantis nun bestand eine große und bewundernswürdige Königsherrschaft, welche nicht bloß die ganze Insel, sondern auch viele andere Inseln und Teile des Festlands unter ihrer Gewalt hatte. Außerdem beherrschte sie noch von den hier innerhalb liegenden Ländern (25b) Libyen bis nach Ägypten und Europa bis nach Tyrrenien hin.

[Krieg und Untergang von Ur-Athen und Atlantis]

Indem sich nun diese ganze Macht zu einer Heeresmasse vereinigte, unternahm sie es, unser und euer Land und überhaupt das ganze innerhalb der Mündung liegende Gebiet mit Einem Zuge zu unterjochen.

Da wurde nun, mein Solon, die Macht eures Staates in ihrer (vollen) Trefflichkeit und Stärke vor allen Menschen offenbar. Denn vor allen Andern an Mut und Kriegskünsten hervorragend, führte derselbe zuerst die Hellenen, (25c) dann aber ward er durch den Abfall der Anderen gezwungen, sich auf sich allein zu verlassen, und als er so in die äußerste Gefahr gekommen, da überwand er die Andringenden und stellte Siegeszeichen auf und verhinderte so die Unterjochung der noch nicht Unterjochten und gab den Andern von uns, die wir innerhalb der herakleischen Grenzen wohnen, mit edlem Sinne die Freiheit zurück.

Späterhin aber entstanden gewaltige Erdbeben und Überschwemmungen, und da versank während eines schlimmen Tages und einer schlimmen Nacht (25d) das ganze streitbare Geschlecht bei euch scharenweise unter die Erde, und ebenso verschwand die Insel Atlantis, indem sie im Meere unterging. Deshalb ist auch die dortige See jetzt unfahrbar und undurchforschbar, weil der sehr hoch aufgehäufte Schlamm im Wege ist, welchen die Insel durch ihr Untersinken hervorbrachte.

[Die Erinnerung des Kritias]

(25e) Da hast du nun, lieber Sokrates, was mir vom alten Kritias auf Solons Bericht hin erzählt wurde, so im Kurzem vernommen. Und so fiel mir denn auch, als du gestern über den Staat und seine Bürger, wie du sie schildertest, sprachst, (sogleich) eben Das, was ich jetzt mitgeteilt habe, dabei ein, und mit Erstaunen bemerkte ich, wie wunderbar du durch ein Spiel des Zufalls so überaus nahe in den meisten Stücken mit dem zusammentrafst, was Solon erzählt hatte.

Doch wollte ich es nicht sogleich sagen, (26a) denn nach so langer Zeit hatte ich es nicht mehr gehörig im Gedächtnisse, (und) ich merkte daher, daß es nötig wäre, bei mir selber zuvor gehörig Alles wieder zu überdenken und dann erst darüber zu sprechen. Darum war ich auch so rasch mit den Aufgaben, welche du gestern stelltest, einverstanden, indem ich glauben durfte, ich werde um das, was in allen solchen Fällen die meisten Schwierigkeiten macht, nämlich einen den Erwartungen (der Zuhörer) entsprechenden Stoff zu Grunde zu legen, eben nicht in Verlegenheit sein.

Deshalb nun rief ich es mir denn auch ins Gedächtnis zurück, indem ich es gestern gleich, wie auch Hermokrates schon bemerkt hat, als ich von hier fortging, (26b) unseren beiden Fremden mitteilte, und ebenso sann ich, nachdem ich sie verlassen hatte, während der Nacht darüber nach und habe mir dadurch so ziemlich Alles wieder zur vollen Erinnerung gebracht. Und in der Tat, es ist wahr, was das Sprichwort sagt: was man als Knabe lernt, das merkt sich wunderbar. Ich meinerseits wenigstens weiß es nicht, ob ich, was ich gestern hörte, mir so Alles im Gedächtnis wieder vergegenwärtigen könnte, von dem eben Erzählten aber, was ich vor so langer Zeit gehört habe, sollte es gar sehr mich Wunder nehmen, wenn mir irgend Etwas davon entschwunden wäre. Ich hatte aber auch (schon) damals, (26c) als ich es hörte, nach Kinderart viel Freude daran, weshalb ich denn den Alten, der auch stets bereit war, mir Rede zu stehen, wiederholt immer von Neuem darnach fragte, so daß es wie mit unauslöschlichen Zügen sich mir eingebrannt hat. Daher teilte ich denn auch den Gastfreunden gleich heute morgen früh eben dies mit, damit es auch ihnen gleich mir nicht an Stoffe zu Reden gebräche.

[Wie die Überlieferung zur Erfüllung der Aufgabe des Sokrates verwendet wird]

Jetzt also, um auf das zurückzukommen, weswegen dies Alles bemerkt worden ist, bin ich bereit, lieber Sokrates, nicht bloß im Ganzen und Großen, sondern auch in den einzelnen Zügen Alles, wie ich es gehört habe, vorzutragen, und die Bürger und den Staat, welche du gestern uns gleichsam nur wie in einer Dichtung geschildert hast, werde ich jetzt in die Wirklichkeit, und zwar hieher (nach Athen), versetzen, (26d) indem ich annehme, daß jener Staat der unsrige gewesen ist, und werde behaupten, daß die Bürger, wie du sie dir dachtest, jene unsere leibhaftigen Voreltern gewesen sind, von welchen der Priester sprach. Sie werden ganz dazu stimmen, und wir werden durchaus das Richtige treffen, wenn wir sagen, daß sie die seien, welche in der damaligen Zeit lebten. Wir werden uns jedoch in die Aufgabe, welche du uns gestellt hast, teilen und so alle (mit vereinten Kräften) dieselbe nach Vermögen gebührend zu lösen versuchen, und es ist eben deshalb (vorher) zuzusehen, lieber Sokrates, ob dieser Stoff nach unserem Sinne ist, (26e) oder ob wir noch erst einen anderen an seiner Stelle zu suchen haben.

SOKRATES    Und welchen anderen, mein Kritias, sollten wir wohl lieber an seiner Stelle nehmen, welcher zu dem gegenwärtigen Opferfest der Göttin wegen der nahen Beziehung zu ihr so gut paßte? Und dazu ist auch wohl noch das an ihm ein großer Vorzug, daß er kein bloß erdichtetes Märchen, sondern eine wahre Geschichte enthält. Denn wie und woher sollten wir denn andere Stoffe nehmen, wenn wir diesen verschmähen wollten? Wir würden vergebens suchen; vielmehr – und ich wünsche euch guten Erfolg dazu – müßt ihr jetzt reden, ich aber zum Entgelt dafür, daß ich gestern gesprochen habe, (27a) nunmehr in Ruhe zuhören.

[Arrangement der Reden Timaios-Kritias]

KRITIAS    So betrachte denn, lieber Sokrates, wie wir die Anordnung der Gastgeschenke für dich getroffen haben. Wir haben nämlich beschlossen, daß Timaios, weil er sich unter uns am meisten auf die Sternkunde versteht und es sich am meisten zur Aufgabe gemacht hat, über die Natur des Alls zur Erkenntnis zu gelangen, zuerst reden solle, und zwar so, daß er mit der Entstehung der Welt beginnt und mit der Erzeugung der Menschen aufhört, ich aber nach ihm, nachdem ich von ihm die Menschen als entstandene, gemäß seiner Darstellung, von dir aber einen Teil derselben als ganz vorzüglich gebildet in Empfang genommen (27b) und diese Letzteren (zur Beurteilung) nach der Erzählung und dem Gesetze des Solon gleichsam vor unseren Richterstuhl geführt habe, dieselben, indem ich davon ausgehe, daß dies die damaligen Athener sind, welche die Überlieferung der heiligen Bücher aus ihrer Verborgenheit an’s Licht gezogen hat, zu Bürgern unseres Staates machen und das Weitere über sie sodann als über Bürger und Athener vortragen solle.

SOKRATES    Recht vollständig und glänzend scheint ja meine Gegenbewirtung durch (eure) Reden ausfallen zu sollen. Deine Aufgabe, wie ich denke, Timaios, wäre es denn also hiernach, jetzt zunächst zu sprechen, nachdem du zuvor, wie der Brauch es fordert, die Götter angerufen hast.

[Der eikos mythos des Timaios]

(27c) TIMAIOS    [...]




KRITIAS

Übersetzt von Franz Susemihl 1857.


Sokrates – Timaios – Hermokrates – Kritias

[Timaios und Kritias bitten um Nachsicht]

(106a) TIMAIOS    Wie froh bin ich, mein Sokrates, daß ich nun, gleich als ob ich von einem langen Marsche ausruhte, den Weg meiner Erörterung glücklich zurückgelegt habe! Zu dem Gotte aber, der in der Tat schon lange vorher, in meiner Beschreibung aber soeben, entstanden ist, flehe ich, er möge von derselben alles das, was das Richtige trifft, (106b) uns zum Heile gedeihen lassen, wenn wir aber wider unsern Willen etwas Irriges über den betreffenden Gegenstand vorgebracht haben, uns dafür die gebührende Strafe auferlegen. Die rechte Strafe aber besteht darin, daß er aus Irrenden uns zu Kundigen mache. Damit wir also in Zukunft über die Entstehung der Götter die Wahrheit reden, so flehen wir ihn an, er möge uns als Heilmittel, und zwar als das vollkommenste und beste aller Heilmittel, die Erkenntnis verleihen, und nach dem wir also den Gott angerufen, überlassen wir unser Übereinkunft gemäß dem Kritias die Fortsetzung.

KRITIAS    Wohl mein Timaios, ich übernehme sie. Doch was auch du zu Anfang getan hast, (106c) daß du nämlich wegen der Schwierigkeit des zu behandelnden Gegenstandes dir Nachsicht erbatest, eben das erbitte auch ich mir (tun zu dürfen) (107a) und wünsche deshalb in noch weit höherem Grade in Bezug auf meine folgende Auseinandersetzung teilhaftig zu werden. Ja, obgleich es mir nicht so ganz entgeht, daß ich damit eine sehr anmaßende und mehr als billig unziemliche Bitte tun werde, so muß ich sie dennoch aussprechen. Denn daß Deine Darlegung nicht vortrefflich gewesen wäre, welcher Verständige dürfte das zu behaupten wagen!

[Warum die Aufgabe des Kritias schwieriger zu erfüllen ist]

Um so mehr aber muß ich es irgendwie dartun, daß die Erfüllung der von mir übernommenen Aufgabe größere Schwierigkeiten darbietet und daher auch größerer Nachsicht bedarf. Nämlich, lieber Timaios, es ist leichter zu genügen, wenn man über die Götter vor den Menschen, (107b) als wenn man über die Sterblichen vor uns spricht. Denn wenn man über Dasjenige reden soll, worin die Zuhörer unerfahren, ja gänzlich unwissend sind, so gewährt eben dieser ihr Zustand hiefür eine große Erleichterung. Wie wir uns nun (in dieser Beziehung) in Betreff der Götter verhalten, wißt ihr (selbst); damit ich euch aber noch deutlicher machen kann, wie ich es meine, so bitte ich euch meiner Erörterung hierüber zu folgen.

Als eine Nachahmung und Abbildung muß man nämlich doch wohl die einem Jeden von uns aufgetragene Auseinandersetzung bezeichnen. Betrachten wir nun aber einmal, mit welcher Leichtigkeit oder Schwierigkeit die Maler bei ihren Nachbildungen von Götter- und (andererseits) von Menschenkörpern es erreichen, (107c) daß sie den Beschauern dieselben hinlänglich ähnlich dargestellt zu haben scheinen, und wir werden sehen, daß, wenn Einer die Erde und (ihre) Berge, Flüsse und Wälder und das ganze Weltgebände, mit Allem, was sich innerhalb seines Umkreises befindet und bewegt, auch nur einigermaßen der Ähnlichkeit entsprechend darzustellen im Stande ist, wir zunächst hiemit schon zufrieden sind, und daß wir überdies noch, da wir doch über jene Dinge selbst keine genauen Kenntnisse haben, auch die Zeichnungen nicht näher untersuchen und prüfen, (107d) vielmehr uns bei ihnen eine ungenaue und auf Täuschung berechnete Perspektivmalerei gefallen lassen, daß dagegen, wenn jemand unsere Körper abzumalen versucht, wir in Folge unserer natürlichen oft wiederholten Beobachtung derselben genau darauf merken, ob irgend Etwas mangelt, und strenge Richter sind, wenn wir nicht alle Ähnlichkeiten in allen Stücken wiedergegeben sehen.

Eben dasselbe wird sich daher auch bei der mündlichen Darstellung wahrnehmen lassen, daß wir nämlich hinsichtlich der himmlischen und göttlichen Dinge mit einer auch nur annähernden Wahrscheinlichkeit derselben zufrieden sind, hinsichtlich des Sterblichen und Menschlichen aber eine genaue Prüfung mit ihr anstellen. Deshalb müßt Ihr rücksichtlich dessen, was ich nunmehr ohne weitere Vorbereitung schildern werde, (107e) Nachsicht mit mir haben, wenn ich nicht ganz das Geziemende wiederzugeben im Stande sein werde; denn ihr müßt erwägen, daß es nicht leicht, sondern schwierig ist, menschliche Verhältnisse so abzuschildern, daß man der Erwartung entspricht. Um Euch nun hierauf aufmerksam zu machen (108a) und mir nicht weniger, sondern mehr Nachsicht für das von mir zu Erörternde zu erbitten, habe ich dies Alles angeführt, mein Sokrates. Wenn ich euch also mit Recht diese Gabe zu erbitten scheine, so gewährt sie mir aus freiem Antriebe.

[Vorausblick auf die Rede des Hermokrates]

SOKRATES    Warum sollten wir sie dir nicht gewähren, mein Kritias! Und eben so mag das Gleiche auch (sofort) dem Hermokrates als dem Dritten von uns gewährt werden. Denn es lässt sich voraussehen, daß er gleich hernach, wenn er sprechen soll, (108b) sich dieselbe Gunst, wie ihr, erbitten wird. Damit er also einen anderen Anfang ausfindig mache und nicht sich gezwungen sehe, eben denselben vorzubringen, so mag er reden wie Einer, der dieser Nachsicht bereits zuvor versichert ist. Ich eröffne dir jedoch, lieber Kritias, im Voraus die Ansicht deiner Zuhörerschaft, daß die Dichtung deines Vorgängers einen so außerordentlichen Ruhm bei ihr eingelegt hat, daß die Nachsicht dir (in der Tat) in vollem Maße nötig sein wird, damit du die Fortsetzung derselben zu übernehmen im Stande seiest.

HERMOKRATES    Damit kündigst du denn auch mir das Gleiche an, mein Sokrates, wie dem Kritias. (108c) Indessen mutlose Männer haben noch nie ein Siegeszeichen errichtet, lieber Kritias, und so ziemt es dir denn, mutig zur Sache zu schreiten und nach Anrufung des Päan und der Musen die Vortrefflichkeit der alten Staatsbürger darzutun und zu verherrlichen.

[Anrufung der Mnemosyne]

KRITIAS    Mein lieber Hermokrates, du bist noch guten Mutes, weil erst hinterher die Reihe an dich kommt und du noch einen Andern zum Vordermann hast. Wie es daher (in Wahrheit) mit diesem deinem Mut bestellt ist, wird schon die Sache selber dich lehren; wie dem aber auch sein mag, so ziemt es sich doch deinem Zuspruch und deiner Ermutigung Folge zu leisten (108d) und neben den genannten Göttern auch alle anderen anzurufen, vor allem aber die Mnemosyne. Ruht doch der Haupterfolg meiner Rede ganz in der Macht dieser Göttin; denn wenn ich nur hinlänglich mich dessen zu erinnern und es hiernach zu berichten weiß, was einst von den Priestern dem Solon mitgeteilt und von ihm hieher mitgebracht wurde, so glaube ich zu wissen, daß ich meiner Zuhörerschaft hier meine Aufgabe so ziemlich werde gelöst zu haben scheinen. So mag es denn nun geschehen, und ich will nicht länger mehr zaudern.

[Rekapitulation der historischen Überlieferung]

(108e) Vor Allem nun wollen wir uns zunächst das ins Gedächtnis zurückrufen, daß es im Ganzen neuntausend Jahre her sind, seitdem, wie angegeben worden, der Krieg zwischen denen, welche jenseits der Säulen des Herakles und allen denen, welche innerhalb derselben wohnten, entstand, welchen ich jetzt vollständig zu erzählen habe. Nun wurde schon angeführt, daß an der Spitze der Letzteren unsere Stadt stand und den ganzen Krieg zu Ende führte, während über die Ersteren die Könige der Insel Atlantis herrschten, welche, wie ich bemerkt habe, einst größer war als Libyen und Asien (zusammen), jetzt aber durch Erderschütterungen untergegangen ist und dabei einen undurchdringlichen Schlamm zurückgelassen hat, (109a) welcher sich Denen, die in das jenseitige Meer hinausschiffen wollen, als Hindernis ihres weiteren Vordringens entgegenstellt. Ein Bild nun der vielen (übrigen) ungriechischen Völker und sämtlicher Hellenenstämme, welche es damals gab, wird der Verfolg unserer Erzählung im Einzelnen, wie es gerade die Gelegenheit mit sich bringt, entrollen; die Verhältnisse der alten Athener und ihrer Gegner, mit denen sie Krieg führten, das heißt die Macht und Staateinrichtungen von Beiden, dagegen ist es nötig sogleich voraufzuschicken. Unter ihnen selber aber verdient die Schilderung der hiesigen Zustände den Vorrang.

[Verteilung der Erde unter den Göttern ohne Streit]

(109b) Die Götter nämlich verteilten einst die ganze Erde nach ihren einzelnen Gegenden unter sich, und zwar ohne Streit, denn es würde keinen vernünftigen Sinn haben anzunehmen, daß die Götter nicht gewußt haben sollten, was einem jeden von ihnen zukäme, oder aber, daß einige von ihnen das, was sie vielmehr als anderen zustehend erkannt, dennoch diesen abzustreiten und in ihren eigenen Besitz zu bringen versucht hätten. Durch rechtlich bestimmte Verteilung also erhielten sie was ihnen lieb war, und wählten hiernach ihre Wohnsitze, und nachdem dies geschehen war, so zogen sie uns als ihre Besitztümer und Pfleglinge auf wie die Hirten ihre Herden, nicht so jedoch, daß sie mit körperlicher Gewalt unsere Körper lenkten, (109c) wie die Hirten ihr Vieh mit Schlägen, sondern sie führten und leiteten das ganze Menschengeschlecht, als das lenksamste aller lebendigen Wesen, gleichsam nur wie mit einem Steuerruder vom Schiffshinterteile aus, indem sie sich vermöge ihrer (höheren) Einsicht durch Überredung der Seelen bemächtigten.

[Ur-Athen: Pflanzung durch Hephaistos und Athene]

So nahmen denn nun, was andere Gegenden anlangt, andere Götter dieselben in Besitz und statteten sie aus, Hephästos aber und Athene hatten, so wie sie von Natur zusammengehören, teils als Geschwister von väterlicher Seite her, teils wegen ihrer gleichen Liebe zur Wissenschaft und Kunst, so auch beide unser Land zum gemeinsamen Eigentume empfangen, weil dasselbe von Natur eine ihnen verwandte und angemessene Tüchtigkeit und Einsicht hervorzubringen geeignet war, (109d) und sie pflanzten daher wohlgeartete Männer als Eingeborene auf diesen Boden und legten darauf in ihren Geist die Anordnung der Staatsverfassung.

[Ur-Athen: Nur die Namen von Kriegern und Kriegerinnen überdauerten]

Von diesen sind die Namen erhalten, ihre Taten aber wegen des Unterganges Derer, die sie von ihnen überkamen, und der Länge der Zeit in Vergessenheit geraten. Denn das jedesmal übrig bleibende Geschlecht pflegt, wie schon früher bemerkt wurde, das auf den Bergen lebende und der Schrift unkundige zu sein, welches bloß die Namen der Herrscher im Lande gehört hat und dazu etwas Weniges von ihren Taten. Sie mußten sich daher damit begnügen, ihren Nachkommen diese Namen zu überliefern; (109e) die Tugenden und die Staatseinrichtungen ihrer Vorfahren aber kannten sie nicht, es sei denn einige dunkle Gerüchte über Einzelnes, und da sie überdies zusamt ihren Abkömmlingen viele Geschlechter hindurch an dem Notwendigen Mangel litten (110a) und daher vielmehr auf die Ausfüllung dieses Mangels ihren Sinn richten mußten, so sprachen sie auch vielmehr hierüber mit einander und vernachlässigten das einst bei ihren Vorfahren und vor Alters Geschehene. Denn die Erzählung alter Sagen und die Erforschung der Vorzeit tritt erst mit der Muße in den Staaten ein, wenn sie die Sorge um die Notduft des Lebens bei Manchen als eine schon überwundene vorfindet, und nicht früher. Darum also sind uns die Namen der Alten ohne ihre Taten erhalten geblieben.

Dies aber nehme ich daraus ab, weil Solon erzählte, die Priester hätten über den damaligen Krieg dergestalt berichtet, daß sie jene alten Athener meistens mit allen denjenigen Namen benannten, – nämlich mit dem des Kekrops, Erechtheus, Erichthonios, Erysichthon und den meisten anderen – (110b) wie ein jeder auch wirklich von den Vorgängern des Theseus im Umlauf ist, und eben so sei es mit denen der Frauen gewesen.

[Ur-Athen: Athene als Kriegerin, Klassenwesen und Kriegerklasse]

Und eben so ist auch die Gestalt und das Bild der Göttin – denn wie damals die Geschäfte des Krieges Frauen und Männern gemeinsam waren, so sollen diesem Brauche entsprechend die damaligen Athener die gewappnete Göttin als Tempelbild geweiht haben – ein Beweis dafür, daß alle lebendigen Wesen, welche sich paarweise finden, weiblich und männlich, (110c) von Natur im Stande dazu sind, die beiden Geschlechtern zukommende Tüchtigkeit auch beiderseits gemeinschaftlich in Ausübung zu bringen.

Es wohnten nun damals in diesem Lande (mit einander) die übrigen Klassen der Bürger, welche sich mit den Gewerben und mit dem Gewinne von den Früchten der Erde beschäftigten; das Geschlecht der Krieger aber, welches durch gottbegeisterte Männer gleich im Anfang von ihnen ausgesondert war, wohnte getrennt von ihnen, ausgerüstet mit Allem, was zur Erziehung und Bildung erforderlich ist, und keiner von ihnen hatte ein ausschließliches Eigentum, sondern alle sahen das Aller als ihnen gemeinsam an, (110d) so wie sie denn auch über den erforderlichen Unterhalt hinaus irgend Etwas von den übrigen Bürgern anzunehmen verschmähten, und überhaupt alle diejenigen Bestrebungen (wirklich) verfolgten, welche gestern den (bloß) vorausgesetzten Wächtern zugeschrieben wurden.

[Ur-Athen: Landesgrenzen und Fruchtbarkeit des Landes]

Aber auch was sodann in Betreff unseres Landes erzählt wurde, ist glaubwürdig und wahr, zuerst, daß sich damals seine Grenzen bis an den Isthmos und gegen das übrige Festland bis zu den Höhen des Kitäron und Parnes ausgedehnt, (110e) und daß sich diese Grenzen dergestalt abwärts gezogen hätten, daß sie das Gebiet von Oropos zur Rechten hatten, zur Linken aber den Asopos vom Meere abgrenzten; sodann aber, daß an Fruchtbarkeit die ganze Erde von unserem Lande übertroffen wurde, weshalb denn dasselbe auch im Stande gewesen wäre, ein großes Heer von Einwohnern zu ernähren.

[Ur-Athen: Bodenerosion durch wiederkehrende Naturkatastrophen]

Ein bedeutender Beweis aber für diese Güte des Bodens ist der Umstand, daß auch der gegenwärtige Überrest desselben in Ergiebigkeit an jeglicher Frucht und an Nahrung für jede Art (lebender) Wesen es noch mit allen anderen Ländern aufnimmt; (111a) damals aber gar trug er dies Alles in Schönheit und reichlicher Fülle.

Wie nun aber möchte dies (noch näher) als glaubwürdig erscheinen, nämlich in wie fern dies gegenwärtige Land mit Recht ein Überrest des damaligen heißen? Das Ganze, so wie es vom übrigen Festlande ab sich langhin in das Meer erstreckt, liegt da, wie ein Vorgebirge, denn das Meeresbecken, welches dasselbe umgibt, ist hart an feinen Gestaden überall von großer Tiefe; und da nun viele bedeutende Überschwemmungen während der neuntausend Jahre Statt gefunden haben – denn so viele sind ja deren seit jener Zeit bis auf die gegenwärtige verstrichen – (111b) so hat die Erde, welche während dieser Zeit und unter diesen Einwirkungen von den Höhen herabgeflossen ist, nicht, wie in anderen Gegenden, einen Damm, welcher der Rede wert wäre, aufgeworfen, sondern ist jedes Mal im Kreise herumgeflossen und so in der Tiefe verschwunden. So sind denn, wie es auch bei kleinen Inseln zu geschehen pflegt, im Vergleich zu dem damaligen Lande in dem gegenwärtigen gleichsam wie von einem durch Krankheit dahingeschwundenen Körper nur noch die Knochen übrig geblieben, indem die Erde, so weit sie fett und weich war, rings herum abgeflossen und nur das magere Gerippe des Landes zurückgelassen ist.

[Ur-Athen: Wälder und Quellen]

Damals aber, als es noch unversehrt war, (111c) waren seine Berge hoch und mit Erde bedeckt, und eben so waren seine Ebenen, welche jetzt als Steinboden bezeichnet werden, voll fetter Erde; auch trug es vieles Gehölz auf den Bergen, von welchem es auch jetzt noch deutliche Spuren gibt. Denn von den Bergen bieten zwar einige jetzt nur noch den Bienen Nahrung dar, es ist aber noch nicht gar lange Zeit her, als noch Dächer, welche aus den Bäumen verfertigt waren, die man dort als Sparrenholz für die größten Gebäude fällte, unversehrt dastanden. Es gab aber auch noch viel andere hohe Bäume, und zwar Fruchtbäume, und für die Herden brachte das Land unglaublich reiche Weide hervor.

Ferner genoß es einer jährlichen Bewässerung vom Zeus, (111d) und verlor dieselbe auch nicht wieder, wie jetzt, wo sie von dem dünnen Fruchtboden ins Meer abfließt, sondern wie es damals denselben reichlich besaß, so sog es auch den Regen in ihn ein und bewahrte denselben in einer Umschließung von Tonerde auf, indem es das eingesogene Wasser von den Höhen in die Tiefen hinabfließen ließ, und bereitete so an allen Orten reichhaltige Quellen und Flüsse, von denen auch noch jetzt da, wo einst ihre Ursprünge waren, heilige Merkzeichen für die Wahrheit meiner gegenwärtigen Erzählung über unser Land geblieben sind.

[Ur-Athen: Die Klasse der Ackerleute]

(111e) Also war nun das übrige Land von Natur beschaffen und ward auch in gehöriger Weise angebaut von Ackerleuten, die in Wahrheit diesen Namen verdienten und sich eben nur hiemit beschäftigten und dabei pflichteifrig und von tüchtigem Schlage waren, so wie ihnen denn auch der schönste Boden und Wasser in reicher Fülle und in der Luft die trefflichste Mischung der Jahreszeiten zu Teil geworden war.

[Ur-Athen: Die Akropolis vor der Bodenerosion]

Die Stadt aber war in der damaligen Zeit auf folgende Weise angelegt. Die Burg zuvörderst befand sich damals in anderen Umgebungen als jetzt. (112a) Denn jetzt hat eine besonders regnerische Nacht die Erde rings herum aufgelockert und von ihr weggespült, indem zugleich Erdbeben und eine gewaltige Wasserflut, die dritte vor der Zerstörung zu Deukalions Zeit, entstanden waren. Sodann zog sich ihre Ausdehnung in früherer Zeit bis zum Eridanos und Ilissos hinab, faßte die Pnyx in sich und hatte der Pnyx gegenüber den Berg Lykabettos zur Grenze; auch war die ganze Höhe mit Erde bedeckt und mit wenigen Ausnahmen eben auf ihrer Oberfläche.

[Ur-Athen: Wohnungen, Heiligtümer, Speisesäle, Gärten, Übungsplätze, Quelle]

(112b) Es wurde aber die Gegend außerhalb derselben, unmittelbar unter ihren Abhängen, von den Handwerkern und denjenigen Landleuten, welche den nahe gelegenen Acker bebauten, bewohnt; die Höhe selbst aber war um das Heiligtum der Athene und des Hephästos herum von dem Geschlecht der Krieger gesondert für sich in Besitz genommen, indem sie dasselbe wie den Garten eines gemeinsamen Hauses mit einer einzigen Mauer umgeben hatten.

Sie bewohnten nämlich den nördlichen Teil der Burg, wo sie mit gemeinschaftlichen Häusern und Speisesälen für den Winter und überhaupt mit Allem, was in ihrem Gemeinwesen zur Einrichtung von Gebäuden (112c) für sie selbst und die Priester erforderlich war, ausgerüstet waren, jedoch nicht mit Gold und Silber, denn dessen bedienten sie sich niemals in irgend welcher Art; und wie sie vielmehr überhaupt zwischen Übermut und unfreiem Sinne die Mittelstraße verfolgten, so waren auch ihre Wohnungen von mäßig guter Einrichtung, in denen sie selbst und noch ihre Kindeskinder alt wurden, und wie das eine Geschlecht stets dem anderen ähnlich war, so übergab es ihm dieselben auch immer in dem gleichen Zustande. Was aber den südlichen Teil (der Burg) anlangt, so gebrauchten sie denselben zu dem gleichen Zwecke, wenn sie, wie dies im Sommer zu geschehen pflegte, ihre (besonders dazu eingerichteten) Gärten, Übungsplätze und Speisesäle verließen.

Es gab ferner damals nur einen einzigen Born an dem Punkte, wo jetzt die Burg steht, nach dessen Versiegen in Folge von Erdbeben (112d) noch die kleinen Wässerchen von ihm übrig geblieben sind, welche sich rings um sie herumziehen, er gewährte aber eine völlig zureichende Wassermenge für Alle, die damals lebten, und besaß im Winter wie im Sommer das richtige Wärmeverhältnis.

[Ur-Athen: Die zwanzigtausend Männer und Frauen der Kriegerklasse]

In dieser Weise also wohnten sie dort, als Beschützer ihrer eignen Mitbürger, so wie frei gewählte Führer aller andern Hellenen, und wachten nach Möglichkeit dafür, daß die Zahl ihrer eigenen kriegstüchtigen Mitglieder – an Männern und Weibern – für ewige Zeiten dieselbe bleibe, (112e) welche auch damals bereits sich auf ungefähr zwanzigtausend belief.

Da sie nun also von solcher Beschaffenheit waren und etwa in der beschriebenen Weise ihren eigenen Staat, so wie ganz Griechenland, mit Gerechtigkeit lenkten, so waren sie in ganz Europa und Asien sowohl wegen ihrer Körperschönheit als auch ihrer mannigfachen geistigen Vorzüge angesehen, ja die namhaftesten unter allen damals lebenden Völkern.

[Atlantis: Die Übersetzung der Namen in den Aufzeichnungen des Solon]

Doch nun will ich auch die Verhältnisse ans Licht stellen, wie sei bei ihren Gegner bestanden und wie sie sich von Anfang an bei denselben entwickelten – wenn anders mich mein Gedächtnis nicht bei dem, was ich bereits als Knabe gehört habe, im Stiche läßt – um auch euch, meinen Freunden, die Kunde hiervon mitzuteilen.

(113a) Indessen muß ich meinen Berichte noch die Bemerkung unmittelbar voraufschicken, daß ihr euch nicht etwa wundern möget, wenn ihr ungriechischen Männern griechische Namen geben hört, denn ihr sollt den Grund davon erfahren. Da nämlich Solon ja diese Erzählung zu einem Gedichte zu verwenden bezweckte, so forschte er nach der Bedeutung der Namen, und da fand er nun, daß jene (alten) Ägypter, welche sie zuerst aufgezeichnet, sie in ihre eigene Sprache übersetzt hatten, und so nahm er seinerseits (gleichfalls) wieder den Sinn jedes Namens vor und schrieb ihn so nieder, wie er, in unsere Sprache übertragen, lautete. (113b) Und diese Aufzeichnungen befanden sich denn auch bei meinem Großvater, und ich besitze sie noch, und sie sind von mir in meinen Knabenjahren sorgfältig durchgelesen worden. Wenn ihr daher eben solche Namen hört, wie hier zu Lande, so laßt euch das nicht Wunder nehmen, denn ihr wisst jetzt die Ursache davon.

[Atlantis: Pflanzung durch Poseidon auf dem Hügel der Kleito nahe der Ebene]

Von der langen Erzählung lautete der Anfang nun damals ungefähr folgendermaßen.

Wie (schon) im Obigen erzählt wurde, daß die Götter die ganze Erde unter sich teils in größere, teils in kleinere Teile verteilt (113c) und sich selber ihre Heiligtümer und Opferstätten gegründet hätten, so fiel auch dem Poseidon die Insel Atlantis zu, und er verpflanzte seine Sprößlinge, die er mit einem sterblichen Weibe erzeugt hatte, auf einen Ort der Insel von ungefähr folgender Beschaffenheit.

Ziemlich in der Mitte der ganzen Insel, jedoch so, daß sie an das Meer stieß, lag eine Ebene, welche von allen Ebenen die schönste und von ganz vorzüglicher Güte (des Bodens) gewesen sein soll. Am Rande dieser Ebene aber lag wiederum, und zwar etwa sechzig Stadien vom Meer entfernt, ein nach allen Seiten niedriger Berg. Auf demselben nun wohnte einer von den daselbst im Anfange aus der Erde entsprossenen Männern, (113d) Namens Euenor, zusamt seiner Gattin Leukippe, und sie hatten eine einzige Tochter, Kleito, erzeugt. Als nun dies Mädchen in das Alter der Mannbarkeit gekommen war, starben ihr Mutter und Vater, Poseidon aber ward von Liebe zu ihr ergriffen und verband sich mit ihr.

[Atlantis: Die Abtrennung durch Wasserringe und die zwei Quellen]

Er trennte (deshalb) auch den Hügel, auf welchem sie wohnte, rings herum durch eine starke Umhegung ab, indem er mehrere kleinere und größere Ringe abwechselnd von Wasser und von Erde um einander fügte, und zwar ihrer zwei von Erde und drei von Wasser, und mitten aus der Insel gleichsam herauszirkelte, so daß ein jeder in allen seinen Teilen gleichmäßig von den anderen entfernt war; (113e) wodurch denn der Hügel für Menschen unzugänglich ward, denn Schiffe und Schiffahrt gab es damals noch nicht. Für seine Zwecke aber stattete er die in der Mitte liegende Insel, wie es ihm als einem Gotte nicht schwer ward, mit allem Nötigen aus, indem er zwei Wassersprudel, den einen warm und den anderen kalt, dergestalt, daß sie aus einer gemeinsamen Quelle flossen, aus der Erde emporsteigen und mannigfache und reichliche Frucht aus ihr hervorgehen ließ.

[Atlantis: Die fünf Zwillingspaare]

An männlicher Nachkommenschaft aber erzeugte er fünf Zwillingspaare und zog sie auf, zerlegte sodann die ganze Insel Atlantis in zehn Landgebiete und teilte von ihnen dem Erstgeborenen des ältesten Paares (114a) den Wohnsitz seiner Mutter und das umliegende Gebiet, als das größte und beste, zu und bestellte ihn auch zum König über die anderen (Söhne); aber auch diese machte er zu Herrschern, indem er einem jeden die Herrschaft über viele Menschen und vieles Land verlieh. Auch legte er allen Namen bei, und zwar dem ältesten und Könige den, von welchen auch die ganze Insel und das Meer, welches ja das atlantische heißt, ihre Benennungen empfingen; nämlich Atlas ward dieser erste damals herrschende König geheißen. (114b) Dem nach ihm geborenen Zwillingsbruder ferner, welcher den äußersten Teil der Insel, von den Säulen des Herakles bis zu der Gegend welche jetzt die gadeirische heißt und von der damals so genannten diese Bezeichnung empfangen hat, als seinen Anteil erhielt, gab er in der Landessprache den Namen Gadeiros, welcher auf griechisch Eumelos lauten würde und auch jene Benennung des Landes hervorrufen sollte. Von dem zweiten Paare sodann nannte er den Einen Ampheres und den Andern Euämon, von dem dritten Erstgebornen Mnaseas und den folgenden Autochthon, (114c) von dem vierten den Ersten Elasippos und den Zweiten Mestor, von dem fünften endlich empfing der Frühergeborene den Namen Azaёs und der Letztgeborne den Namen Diaprepes.

[Atlantis: Herrschaftsbereich und Ansehen]

Diese Alle nun samt ihren Abkömmlingen wohnten hier viele Geschlechter hindurch und beherrschten auch noch viele andere Inseln des Meeres, überdies aber, wie schon vorhin bemerkt wurde, auch noch die hier innerhalb Wohnenden bis nach Ägypten und Tyrrenien hin.

(114d) Vom Atlas nun stammte ein zahlreiches Geschlecht, welches auch in seinen übrigen Gliedern hochgeehrt war, namentlich aber dadurch, daß der jedesmalige König die königliche Gewalt immer den ältesten seiner Söhne überlieferte, viele Geschlechter hindurch sich den Besitz dieser Gewalt und damit eines Reichtums von solcher Fülle bewahrte, wie er wohl weder zuvor in irgend einem Königreiche bestanden hat, noch so leicht künftig wieder bestehen wird, und war mit Allem versehen, was in der Stadt und im übrigen Lande herbeizuschaffen nötig war.

[Atlantis: Importe und natürliche Ressourcen der Insel]

Denn Vieles ward diesen Königen von auswärtigen Ländern her in Folge ihrer Herrschaft (über dieselben) zugeführt, das Meiste aber bot die Insel selbst für die Bedürfnisse des Lebens dar, (114e) zunächst Alles, was durch den Bergbau gediegen oder in schmelzbaren Erzen hervorgegraben wird, darunter auch die Gattung, welche jetzt nur noch ein Name ist, damals aber mehr als dies war, nämlich die des Goldkupfererzes, welches an vielen Stellen der Insel aus der Erde gefördert und unter den damals lebenden Menschen nächst dem Golde am höchsten geschätzt ward.

Ferner brachte sie Alles, was der Wald zu den Arbeiten der Handwerker darbietet, in reichen Maße hervor und nährte reichlich wilde und zahme Tiere. Sogar die Gattung der Elephanten war auf ihr sehr zahlreich, denn nicht bloß für die übrigen Tiere insgesamt, welche in Sümpfen, Teichen und Flüssen, (115a) so wie die, welche auf den Bergen und welche in den Ebenen leben, war reichliches Futter vorhanden, sondern in gleichen Maße (auch selbst) für diese Tiergattung, welche die größte und gefräßigste von allen ist.

Was überdem die Erde jetzt nur irgend an Wohlgerüchen nährt, sei es von Wurzeln oder Gras oder Hölzern oder hervorquellenden Säften oder Blumen oder Früchten, das Alles trug und hegte die Insel vielfältig; nicht minder die „milde Frucht“ und die trockene, deren wir zur Nahrung bedürfen, und alle, deren wir uns sonst zur Speise bedienen und deren Arten wir mit dem (gemeinsamen) Namen der Gemüse bezeichnen; (115b) ferner die, welche baumartig wächst und Trank und Speise und Salböl (zugleich) liefert; ferner die schwer aufzubewahrende Frucht der Obstbäume, welche uns zur Freude und zur Erheiterung geschaffen ist, und was wir zum Nachtisch aufzutragen pflegen als erwünschte (neue) Reizmittel des angefüllten Magens für die Übersättigten – dies Alles brachte die Insel, die damals durchweg den Einwirkungen der Sonne zugänglich war, in vortrefflicher und bewundernswerter Gestalt und in der reichsten Fülle hervor.

[Atlantis: Brücken, Kanal zum Meer, überbrückte Durchstiche, Maße]

Indem nun Atlas und seine Nachkommen dies Alles aus der Erde empfingen, gründeten sie Tempel, Königshäuser, (115c) Häfen und Schiffswerfte, und richteten auch das ganze übrige Land ein, wobei sie nach folgender Anordnung verfuhren.

Zuerst schlugen sie Brücken über die Ringe von Wasser, welche ihre alte Mutterstadt umgaben, um sich so einen Weg von und zu der Königsburg zu schaffen. Dieselbe errichteten sie nämlich gleich im Anfange eben auf jenem Wohnsitze des Gottes und ihrer Vorfahren, und so empfing sie der Eine von dem Anderen, indem ein Jeder ihre Ausstattung erweiterte und nach Kräften seinen Vorgänger darin überbot, (115d) bis sie denn endlich diesen ihren Wohnsitz durch die Größe und Schönheit ihrer Werke zu einem staunenswerten Anblicke gemacht hatten:

(Zuerst) nämlich gruben sie einen Kanal von drei Plethren Breite, hundert Fuß Tiefe und fünfzig Stadien Länge vom Meer aus bis zu dem äußersten Ringe hin, und machten so eine Einfahrt vor der See in denselben wie in einen Hafen möglich, indem sie die Einmündung in ihn weit genug zum Einlaufen für die größten Schiffe brachen. Sodann durchbrachen sie aber auch die Kreiswälle von Erde, welche die Wasserringe von einander trennten, unterhalb der Brücken in einer solchen Breite, (115e) daß für einen einzelnen Dreiruderer die Durchfahrt von dem einen durch den anderen möglich ward, und überbrückten dann wieder den Durchstich, so daß die Schiffahrt hier eine unterirdische war; die Ränder der Erdwälle hatten nämlich eine Höhe, welche hinlänglich über das Meer emporragte.

Es war aber der weiteste von den Ringen, welche einst aus dem Meere gebildet waren, drei Stadien breit, und eben so der zunächst auf ihn folgende Wallring, von den beiden nächsten Ringen aber der aus Wasser bestehende zwei, und eben so war ihm wiederum der aus Erde aufgehäufte an Breite gleich, endlich der unmittelbar um die Insel herumlaufende ein Stadium, (116a) und die Insel selbst, auf welcher die Königsburg stand, hatte fünf Stadien im Durchmesser.

[Atlantis: Mauern, Türme, Tore, Schiffsgaragen, Farben]

Diese selbst nun umgaben sie rings herum, und ebenso die Ringe und die Brücke, welche ein Plethron breit war, von beiden Seiten mit je einer steinernen Mauer, und errichteten bei den Brücken nach beiden Seiten hin Türme und Tore gegen die Durchfahrten vom Meere zu. Die Steine dazu aber, welche teils weiß, teils schwarz und teils rot waren, (116b) brachen sie unten an (den Abhängen) der in der Mitte gelegenen Insel rings herum, und ebenso unten an den Wallrändern nach außen und nach innen zu, und dadurch, daß sie sie dort herausschlugen, erlangten sie zugleich innerhalb derselben auf beiden Seiten Höhlungen zu Schiffsarsenalen, welche den Felsen selber zur Decke hatten.

Auch (andere) Gebäude errichteten sie (aus jenen Steinen), und zwar teils einfarbige, teils auch bunte, indem sie sie aus verschiedenfarbigen Steinen zum Genuß (für das Auge) zusammensetzten und denselben dadurch ihren (vollen) natürlichen Reiz gaben. Die Mauer endlich, welche um den äußeren Wall herumlief, fassten sie ihrem ganzen Umfange nach mit Erz ein, indem sie dasselbe gleichsam wie ein Salböl anwandten, die um den innern aber umschmolzen sie mit Zinn, (116c) endlich die Burg selbst mit Goldkupfererz, welches einen feuerähnlichen Glanz hatte.

[Atlantis: Zwei Tempel, Bildsäulen, Erntedankkult]

Die Königliche Wohnung innerhalb der Burg selbst aber war folgendermaßen eingerichtet. Inmitten der letzteren befand sich ein der Kleito und dem Poseidon geweihter Tempel, welcher nur von den Priestern betreten werden durfte und mit einer goldenen Mauer umgeben war, derselbe, in welchem sie einst das Geschlecht der zehn Fürsten erzeugt und hervorgebracht hatten. Dahin schickte man auch jedes Jahr aus allen zehn Landgebieten die Erstlinge als Opfer für einen jeden von diesen. Ferner stand dort ein besonderer Tempel des Poseidon, (116d) von einem Stadium Länge, drei Plethren an Breite und von einer Höhe, wie sie einen dem entsprechenden Anblick gewährte, hatte aber ein etwas barbarisches Ansehen. Den ganzen Tempel nun überzogen sie von außen mit Silber, mit Ausnahme der Zinnen, die Zinnen aber mit Gold. Was aber das Innere anbetrifft, so konnte man die elfenbeinerne Decke ganz mit Gold [und Silber] und Goldkupfererz verziert sehen, alles Andere an Mauern, Säulen und Estrichen überkleideten sie mit Goldkupfererz. Auch stellten sie goldene Bildsäulen darin auf, nämlich den Gott selber, wie er, auf seinem Wagen stehend, sechs geflügelte Rosse lenkt, (116e) und der seinerseits so groß gebildet war, daß er mit dem Haupte die Decke berührte, rings um ihn herum aber die hundert Nereiden auf Delphinen; denn so viel, glaubte man damals, daß ihrer seien; außerdem befanden sich aber auch noch viele andere Bildwerke als Weihgeschenke von Privatleuten im Tempel.

Außerhalb aber standen rings um denselben die Bildsäulen von Allen insgesamt, nämlich von den zehn Königen selbst und ihren Weibern und Allen, welche von ihnen entsprossen waren, und viele andere große Weihgeschenke von den Königen wie von Privatleuten teils aus der Stadt selbst, (117a) teils aus allen von ihnen beherrschten Gebieten außerhalb derselben. Auch der Altar entsprach an Größe so wie an Arbeit dieser Ausstattung, und eben so war auch die königliche Wohnung eben so sehr der Größe der Herrschaft, wie andererseits dem auf die Heiligtümer verwandten Schmuck angemessen.

[Atlantis: Zwei Quellen bewässern Gärten, Bäder, Hain des Poseidon, Wasserkanäle]

Von den beiden Quellen aber, sowohl der von kaltem als der von warmen Wasser, welche dessen eine reiche Fülle enthielten und beide dasselbe an Wohlgeschmack und Güte zum Gebrauche in ganz bewundernswerter Vortrefflichkeit darboten, zogen sie Nutzen, indem sie Gebäude und Baumpflanzungen, wie sie zu den Wassern sich schickten, rings umher anlegten (117b) und ferner Wasserbehälter teils unter freiem Himmel, teils zu warmen Bädern für den Winter in bedeckten Räumen in der Umgebung einrichteten, und zwar deren besondere für die Könige und besondere für die Untertanen, ferner noch andere für die Weiber und wieder für die Pferde und die übrigen Zugtiere, und einem jeden von diesen allen die ihm angemessene Ausstattung gaben. Das abfließende Wasser aber leiteten sie in den Hain des Poseidon, welcher Bäume von mannigfacher Art und von ganz vorzüglicher Höhe und Schönheit in Folge der Güte des Bodens umfasste, teils aber auch durch Kanäle über die Brücken weg in die äußeren Ringe hinein.

[Atlantis: Heiligtümer, Gärten, Übungsplätze, Pferderennbahn]

(117c) In der Nähe dieser Wasserleitungen wurden denn auch Heiligtümer vieler Götter, ferner viele Gärten und Übungsplätze angelegt, und zwar besondere für die auf den menschlichen Körper beschränkten Übungen und besondere für die mit dem Wagengespann aus jeder von beiden aus den Wällen bestehenden Inseln, und überdies besaßen sie auch in der Mitte der größeren Insel eine ausgesuchte Rennbahn, welche ein Stadium breit und deren Länge im ganzen Umkreis zum Wettkampfe für die Rosse eingerichtet war.

[Atlantis: Wohnungen der Leibwächter, Dreiruderer]

Um dieselbe herum lagen auf beiden Seiten die Wohnungen (117d) für die Mehrzahl der Trabanten. Die zuverlässigeren unter ihnen aber hatten ihre Wache auf dem kleineren und näher an der Burg gelegenen Wallring, den vor allen anderen an Zuverlässigkeit Ausgezeichneten endlich waren ihre Wohnungen auf der Burg selber um den Königspalast herum gegeben. Die Schiffsarsenale aber waren voll von Dreiruderern und von Allem, was zu der Ausrüstung von Dreiruderern gehört, wovon Alles in reichem Maße in Bereitschaft gehalten wurde.

Solches war nun also die Ausrüstung der königlichen Wohnung.

[Atlantis: Stadtmauer und Stadt, Hafengewimmel]

Wenn man aber die drei außerhalb derselben befindlichen Häfen hinter sich hatte, (117e) so traf man auf eine Mauer, welche vom Meere begann und im Kreis herumlief, von dem größten Ringe und zugleich Hafen aber überall fünfzig Stadien entfernt war und an derselben Stelle bei der Mündung des Kanals in das Meer wieder abschloss. Dieses Ganze aber war mit vielen und dichtgedrängten Wohnungen umgeben, und die Ausfahrt so wie der größte Hafen wimmelten von Schiffen und Kaufleuten, welche aus allen Gegenden hieher kamen und bei Tage wie bei Nacht Geschrei, Getümmel und Getöse mannigfacher Art wegen ihrer Menge verursachten.

Über die Stadt und jenen einstigen Wohnsitz (der Könige) habe ich nun so ziemlich das, was mir damals erzählt wurde, mitgeteilt;

[Atlantis: Ebene und Berge]

nun muß ich aber auch noch versuchen, (118a) über die natürliche Beschaffenheit des übrigen Landes und die Art seiner Verwaltung zu berichten.

Zunächst nun wurde mir das Land im Ganzen als sehr hochgelegen und steil aus dem Meere aufsteigend geschildert, die Gegend um die Stadt her dagegen durchweg als eine Ebene, welche dieselbe umschloß, ihrerseits aber wieder rings herum von Bergen eingeschlossen wurde, die sich bis zum Meere hinabzogen, und zwar als eine ganz glatte und gleichmäßige Fläche, die in ihrer Gesamtausdehnung eine längliche Gestalt hatte, indem dieselbe nach der Seite zu dreitausend Stadien, in der Mitte aber vom Meere aufwärts (nur) zweitausend betrug. (118b) Von der ganzen Insel nämlich lag dieser Teil nach der Südseite zu, indem er sich von Norden nach Süden erstreckte.

Die Berge aber, welche ihn umgaben, wurden damals als solche gepriesen, welche an Menge, Größe und Schönheit alle jetzt vorhandenen übertrafen, indem sie viele Flecken mit einer reichen Zahl von Bewohnern, ferner Flüsse, Seen und Auen, welche allen möglichen zahmen und wilden Tieren hinreichendes Futter darboten, so wie endlich Waldungen in sich faßten, welche in bunter Menge und in der größten Mannigfaltigkeit aller Gattungen einen reichhaltigen Stoff zu den Arbeiten jeder Art, im Großen und Kleinen, lieferten.

[Atlantis: Kanäle um und in Ebene, Transport zu Wasser, zwei Ernten im Jahr]

(118c) Auf diese Weise war die Ebene von der Natur ausgestattet, und viele Könige hatten (nicht minder) an ihrer weiteren Ausstattung gearbeitet. Zum größten Teile bildete sie nämlich (wirklich) bereits ein vollständiges Rechteck; wo es aber noch an der vollen Regelmäßigkeit dieser Gestalt fehlte, war ihr dieselbe dadurch gegeben worden, daß sie auf allen Seiten einen Graben herumgezogen hatten. Was mir nun von dessen Tiefe, Breite und Länge erzählt ward, das könnte unglaublich erscheinen für ein von Menschenhänden gearbeitetes Werk; es könnte unglaublich erscheinen, daß sie zu ihren vielen anderen Arbeiten auch noch diese von so gewaltiger Ausdehnung unternommen hätten; dennoch muß ich darüber berichten, wie ich es gehört habe. Nämlich ein Plethron tief ward er gegraben (118d) und überall ein Stadion breit, und als er nun die ganze Ebene herumgezogen war, da ergab sich für ihn eine Länge von zehntausend Stadien. Er nahm auch die von den Bergen herabfließenden Wasser auf, und da er rings um die Ebene herumgeführt war und die Stadt auf beiden Seiten berührte, so ließ er dieselben auf folgende Weise ins Meer abfließen. Von seinem oberen Teile her wurden nämlich von ihm ungefähr hundert Fuß breite Kanäle in gerader Linie in die Ebene geleitet, welche wieder in den (großen) vom Meere aus gezogenen Kanal einmündeten und von einander hundert Stadien entfernt waren.

(118e) Auf ihnen brachten sie denn auch das Holz von den Bergen in die Stadt, aber auch alle anderen Landeserzeugnisse holten sie zu Wasser heran, indem sie wieder Überfahrten aus den Kanälen in einander nach der Quere zu und eben so nach der Stadt hin gruben. Auch ernteten sie in Folge dessen zweimal des Jahres ein, indem ihnen im Winter der Regen des Zeus dazu verhalf, im Sommer aber die Bewässerung, welche das Land (selber) in sich trug, dadurch, daß sie sie aus den Kanälen herzuleiteten.

[Atlantis: Die Armee]

Was aber die Zahl (der Bewohner) anbetrifft, so Bestand die Anordnung, daß in der Ebene (selbst) an kriegstüchtigen Männern (119a) jedes Grundstück einen Anführer zu stellen hatte; die Größe eines jeden Grundstückes aber betrug gegen hundert (Quadrat-) Stadien und die Zahl von ihnen allen sechzigtausend; auf den Gebirgen dagegen und im übrigen Lande zählte man eine unsägliche Menschenmasse, alle jedoch waren nach ihren Ortschaften und Flecken je einem dieser Grundstücke und Führer zugeteilt.

Die Führer nun aber hatten die Verpflichtung zum Kriege ihrer sechs zusammen einen Kriegswagen zu stellen, so daß deren insgesamt zehntausend wurden, ferner ein jeder zwei Rosse und Reiter, (119b) dazu noch ein Zwiegespann ohne Sessel, welches mit einem Krieger bemannt war, der einen kleinen Schild trug und auch herabsteigend zu Fuße kämpfte; außer diesem Wagenkämpfer aber mit einem Lenker für die beiden Rosse, ferner zwei Schwerbewaffnete und an Bogen- und Schleuderschützen je zwei, und eben so an Stein- und Speerwerfern ohne Rüstung je drei; endlich vier Seeleute zur Bemannung von zwölfhundert Schiffen. So war das Kriegswesen in dem königlichen Staate angeordnet, in den anderen neun Staaten aber auf verschiedene Weise, deren Erörterung (zu) lange Zeit in Anspruch nehmen würde.

[Atlantis: Herrschaftssystem und Bundeskult]

(119c) Die Verhältnisse der obrigkeitlichen Gewalt und der Staatswürden aber waren vom Anbeginn her folgendermaßen geordnet. Von den zehn Königen herrschte ein jeder in dem ihm überkommenen Gebiete von seiner Stadt aus über die Bewohner und stand über den meisten Gesetzen dergestalt, daß er strafte und hinrichten ließ wen immer es ihm gut dünkte. Die Herrschaft über sie selbst aber ward gegenseitig und gemeinschaftlich geführt nach den Anordnungen des Poseidon, wie sie ein Gesetz ihnen überlieferte, welches von ihren Vorfahren auf eine Säule von Goldkupfererz eingegraben war, (119d) die in der Mitte der Insel, nämlich im Heiligtum des Poseidon, stand. Hieher kamen sie denn auch abwechselnd bald jedes fünfte und bald jedes sechste Jahr zusammen, um der geraden und der ungeraden Zahl ein gleiches Recht angedeihen zu lassen, und berieten sich auf diesen Zusammenkünften teils über die gemeinsamen Angelegenheiten, teils hielten sie Nachforschung darnach, ob Einer (von ihnen) irgend eine Übertretung begangen, und saßen darüber zu Gericht.

Wenn sie aber zum Gerichte schritten, so gaben sie einander zuvor folgendes Unterpfand der Treue. Sie stellten unter den Stieren, die da frei in Heiligtume des Poseidon weideten, ganz allein ihrer zehn, nachdem sie zu dem Gotte gebetet, daß es ihnen gelingen möge, das Opfertier, welches ihm genehm sei, zu fangen, (119e) eine Jagd ohne Eisen bloß mit Knitteln und Stricken an, und denjenigen von den Stieren, welchen sie fingen, brachten sie oben auf die Säule hinauf und schlachteten ihn dort (unmittelbar) über jener Inschrift. Auf der Säule befand sich aber außer dem Gesetze noch eine Schwurformel, welche gewaltige Verwünschungen über Diejenigen aussprach, welche ihm nicht gehorchten.

(120a) Wenn sie nun so nach ihren Bräuchen beim Opfer dem Gotte alle Glieder des Stieres geweiht hatten, so richteten sie einen Mischkessel zu und warfen in denselben für jeden einen Tropfen geronnenen Blutes, alles Übrige aber warfen sie ins Feuer, nachdem sie die Säule rings herum gereinigt hatten. Hierauf schöpften sie mit goldenen Trinkschalen aus dem Mischbecher, und während sie dann aus denselben die Spenden ins Feuer gossen, schwuren sie dabei, nach den Gesetzen auf der Säule zu richten und es zu strafen, wenn Einer von ihnen zuvor einen Frevel begangen, und eben so wiederum in Zukunft keine von jenen Vorschriften absichtlich zu verletzen und weder (anders) zu herrschen, noch einem andern Herrscher zu gehorchen, (120b) als dem, welcher nach den Gesetzen des Vaters regierte. Nachdem ein Jeder von ihnen dies für sich selbst und für sein Geschlecht gelobt hatte, trank er und weihte sodann die Becher (als Geschenk) für das Heiligtum des Gottes, und sodann wandten sie sich zum Mahle, um auch den Anforderungen ihres Körpers Genüge zu tun.

Sobald es aber dunkel ward, und das Opferfeuer verglomm, dann kleideten sich alle sofort in ein blaues Gewand von der allerhöchsten Schönheit und so, bei der Glut des Eidesopfer auf der Erde sitzend, (120c) indem sie gänzlich das Feuer im Heiligtume auslöschten, empfingen und sprachen sie Recht bei der Nacht, wenn etwa der eine von ihnen den andern irgend einer Übertretung anklagte. Nach vollzogenem Urteil aber schrieben sie die Richtersprüche, sobald es Tag ward, auf einer goldenen Tafel auf und weihten dieselbe samt jenen Gewändern zum Denkzeichen.

Es gab aber noch viele andere Gesetze, welche die Rechte der Könige für einen jeden im Besonderen bestimmten, über allen jedoch stand dies, daß sie niemals gegen einander die Waffen führen, vielmehr einander insgesamt Hülfe leisten, wenn etwa Einer von ihnen in irgend einer Stadt das königliche Geschlecht auszurotten versuchte, (120d) und nach gemeinsamer Beratung, gleich wie ihre Vorfahren, ihre Beschlüsse über den Krieg und alle anderen Angelegenheiten fassen und ausführen, den Vorsitz und Oberbefehl dabei aber dem Geschlechte des Atlas überlassen sollten. Die Vollmacht, einen seiner Verwandten hinrichten zu lassen, sollte ferner einem Könige nicht zu Gebote stehen, es sei denn, daß über die Hälfte von den Zehn es genehmigt hätte.

[Atlantis: Tugend und Dekadenz, Vorausblick auf Krieg gegen Ur-Athen]

Diese Macht von solcher Art und Ausdehnung, wie sie damals in jenen Gegenden bestand, führte der Gott, indem er sie zusammentreten ließ, nun auch gegen unser Land, wozu, wie es heißt, ungefähr folgende Verhältnisse Anlaß gaben. (120e) Viele Geschlechter hindurch, so lange noch irgend die Natur des Gottes in ihnen wirksam war, waren sie den Gesetzen gehorsam und zeigten ein befreundetes Verhalten gegen das ihnen verwandte Göttliche. Denn sie besaßen wahrhafte und durchgehends große Gesinnungen, indem sie eine mit Klugheit gepaarte Sanftmut allen etwaigen Wechselfällen des Schicksals gegenüber, so wie gegen einander an den Tag legten, und da sie eben deshalb alles Andere außer der Tugend für wertlos ansahen, so achteten sie alle vorhandenen Glücksgüter geringe (121a) und betrachteten mit Gleichmut und mehr wie eine Last die Masse ihres Goldes und ihrer übrigen Besitztümer und nicht kamen sie, berauscht von den Schwelgen in ihrem Reichtum, so daß sie durch ihn die Herrschaft über sich selbst verloren hätten, zu Falle, sondern erkannten mit nüchternem Scharfblick, daß dies Alles nur durch die gemeinsame Freundschaft im Verein mit der Tugend sein Gedeihen empfängt, durch den Eifer und das Streben nach ihm dagegen nicht bloß selber entschwindet, sondern auch jene mit sich zu Grunde richtet. In Folge dieser Grundsätze und der fortdauernden Wirksamkeit der göttlichen Natur in ihnen gedieh ihnen denn das Alles, was ich euch vorhin mitgeteilt habe.

Als aber ihr Anteil am Wesen des Gottes durch die vielfache und häufige Beimischung des Sterblichen in ihnen zu schwinden begann, und die menschliche Art überwog, (121b) da erst waren sie dem vorhandenen Reichtum nicht mehr gewachsen und entarteten und erschienen dem, welcher es zu erkennen vermochte, niedrig, indem sie von Allem, was in Ehren zu stehen verdient, gerade das Schönste zu Grunde richteten; denen aber, die ein wahrhaft zur Glückseligkeit führendes Leben nicht zu erkennen im Stande waren, schienen sie damals erst recht in aller Herrlichkeit und Seligkeit dazustehen, als sie ungerechten Gewinn und ungerecht erworbene Macht im Überflusse besaßen.

[Atlantis: Götterrat und Läuterungsstrafe]

Der Gott der Götter aber, Zeus, welcher nach den Gesetzen herrscht und solches wohl zu erkennen vermag, beschloß, als er ein treffliches Geschlecht (so) schmählich herunterkommen sah, ihnen Strafe dafür aufzuerlegen, (121c) damit sie, durch dieselbe zur Besinnung gebracht, zu einer edleren Lebensweise zurückkehrten. Er berief daher alle Götter in ihren ehrwürdigsten Wohnsitz zusammen, welcher in der Mitte des Weltalls liegt und eine Überschau aller Dinge gewährt, welche je des Werdens teilhaftig wurden, und nachdem er sie zusammenberufen hatte, sprach er - - - - - - - - - - -



TIMÄOS

Übersetzt von Hieronymus Müller 1857


Sokrates, Timäos, Kritias, Hermokrates.

[Der Unbekannte Vierte]

(17a) SOKRATES    Einer, zwei, drei! Wo aber, mein geliebter Timäos, blieb uns der vierte der gestrigen Gäste und heutigen Gastgeber?

TIMÄOS    Ein Unwohlsein befiel ihn, lieber Sokrates; denn aus freiem Entschluss blieb er wohl nicht von der heutigen Zusammenkunft zurück.

SOKRATES    Hast nun nicht du mit diesen Freunden da die Obliegenheit, den Abwesenden zu übertragen?

(17b) TIMÄOS    Allerdings; und wir wollen unser Möglichstes tun, es an nichts fehlen zu lassen. Denn es wäre wohl nicht recht, wollten wir noch Übrigen, nachdem du gestern mit anständigen Gastgeschenken uns empfingst, deine Gastlichkeit nicht erwidern.

[Die Rekapitulation des Gesprächs vom Vortag]

SOKRATES    Ist's euch also erinnerlich, über wie Wichtiges und über welche Gegenstände ich von euch Auskunft begehrte?

TIMÄOS    Einiges ist uns noch erinnerlich; was uns aber entfiel, wirst du selbst uns in das Gedächtnis zurückrufen. Oder wiederhole es uns lieber, wenn es dir nicht beschwerlich fällt, von Anfang an, in aller Kürze, damit es von uns noch fester begründet werde.

(17c) SOKRATES    Das soll geschehen. Der Hauptinhalt der gestern von mir berichteten Unterredung betraf wohl den Staat, wie mich bedünke, dass wohl der beste beschaffen sein und aus welchen Männern er bestehen müsse.

TIMÄOS    Und diese Darstellung war gar sehr nach unserm Sinne, lieber Sokrates.

SOKRATES    Schieden wir zuvörderst nicht die Klasse der Ackerbauenden oder irgend sonst eine Kunst in demselben Übenden von der den Krieg für die Andern Führenden?

TIMÄOS    Ja.

SOKRATES    Und indem wir Jedem nur eine seinen Naturanlagen angemessene Beschäftigung, (17d) nur eine Kunst zuteilten, erklärten wir, Diejenigen, welche die Verpflichtung hätten, für Alle in den Krieg zu ziehen, müssten demnach nichts weiter sein, als Wächter des Staats. Wenn nun ein Auswärtiger, oder auch Jemand von den Einheimischen sich anschicke, diesem Schaden zuzufügen, dann müssten sie ein mildes Gericht halten über die ihnen Unterworfenen, (18a) als von Natur ihnen Befreundete, in den Kämpfen gegen die Feinde aber, aus die sie träfen, streng verfahren.

TIMÄOS    Ei gewiss, durchaus.

SOKRATES    Denn die Wächter, behaupteten wir, denk' ich, müssen von Natur sowohl muterfülltes, als vorzüglich weisheitliebendes Sinnes sein, um gegen die Einen in geziemender Weise streng, gegen die Andern mild verfahren zu können.

TIMÄOS    Ja.

SOKRATES    Was aber ihre Erziehung anbetrifft? Nicht etwa, dass sie in Gymnastik, Musik und allem solchen Berufe angemessenen Wissen unterwiesen sein sollen?

TIMÄOS    Ja, allerdings.

(18b) SOKRATES    Nachdem sie eine solche Erziehung erhielten, wurde ja wohl behauptet, dass sie weder Gold noch Silber noch irgendein anderes Besitztum als ihr Eigentum ansehen dürfen, sondern als Helfer für ihr Wachhalten von den ihres Schutzes Genießenden einen für mäßige Bedürfnisse ausreichenden Lohn empfangen, den sie gemeinschaftlich und zusammenlebend, stets um die Tugend bemüht und durch andere Beschäftigungen nicht behindert, verzehren sollten.

TIMÄOS    Auch das wurde in dieser Weise behauptet.

(18c) SOKRATES    Wir erwähnten doch auch hinsichtlich der Frauen, dass verwandte Naturen den Männern zu verbinden und alle Beschäftigungen für den Krieg und das übrige Leben beiden Geschlechtern gemeinsam zuzuteilen seien.

TIMÄOS    So wurde auch das bestimmt.

SOKRATES    Was dann aber über das Kinderzeugen? Oder prägten sich nicht unsere dahin einschlagenden Anordnungen leicht, als mit dem Gewohnten im Widerspruch, dem Gedächtnisse ein, dass wir Heiraten und Kinder zu etwas Allem Gemeinsamen machten, und es dahin zu bringen suchten, dass Niemand das ihm insbesondere Geborene kenne, (18d) und alle sich untereinander als Verwandte ansehen, als Brüder und Schwestern, die in dem Dem angemessenen Alter stehenden, das jüngere oder ältere Geschlecht aber als dieser Eltern und Voreltern, und die ihnen nachgeborenen als deren Kinder und Kindeskinder?

TIMÄOS    Ja; und das ist aus dem von dir angeführten Grunde leicht zu behalten.

SOKRATES    Blieb uns nicht auch unsere Behauptung im Gedächtnis, damit soviel wie möglich sogleich der möglichst beste Schlag von Menschen erzeugt werde, müssen die Herrscher und Herrscherinnen (18e) durch gewisse Lose für das eheliche Zusammensein insgeheim es künstlich darauf anlegen, dass die Schlechten sowohl als die Besten beide mit ihresgleichen zusammengelost werden, und dass, damit jenen daraus keine Feindschaft erwachse, diese im Zufall den Grund ihrer Zusammenlosung suchen?

TIMÄOS    Das ist uns erinnerlich.

(19a) SOKRATES    Gewiss auch, dass wir behaupteten, die Nachkommenschaft der Guten müsse man sorgfältig erziehen, die der Schlechten aber unvermerkt im übrigen Staate verteilen; unter den Heranwachsenden aber, die man wohl beobachte, die Würdigen wieder zu einer höhern Klasse erheben, die unter dieser Klasse Unwürdigen dagegen die durch die Hinaufrückenden erledigte Stelle einnehmen lassen.

TIMÄOS    So ist's.

SOKRATES    Haben wir nun nicht ebenso wie gestern unsern Weg durchlaufen, so dass wir seine Hauptpunkte noch einmal kurz berührten, oder vermissen wir, mein geliebter Timäos, noch etwas von dem Gesagten, was wir übergingen?

(19b) TIMÄOS    Keineswegs, lieber Sokrates, sondern eben Das war es, was ausgesprochen wurde.

[Die Aufgabe des Sokrates]

SOKRATES    So höret denn nun, wie es mir mit dem Staate, den wir dargestellt haben, ergeht. Ich habe nämlich ein ähnliches Gefühl, wie etwa Jemand, der irgendwo schöne Tiere, ob nun von den Malern dargestellte, oder auch wirklich lebende, aber im Zustande der Ruhe, sah, den Wunsch hegen dürfte, sie in Bewegung und einen ihrem Äußern angemessen scheinenden (19c) Kampf bestehen zu sehen. Ebenso geht es mir mit dem von uns entworfenen Staate; denn gern wohl möcht' ich etwa von Jemandem mir erzählen lassen, wie unser Staat in geziemender Weise die Wettkämpfe mit andern Staaten besteht, und wie er, wenn er in Krieg gerät, auch im Kriege, sowohl im Kampfe durch die Tat als bei Verhandlungen durch das Wort, aus eine der ihm zuteil gewordenen Unterweisung und Erziehung würdige Weise gegen jeden andern Staat sich benimmt.

[Wer hat die Fähigkeiten zur Erfüllung der Aufgabe?]

An der eigenen Kraft, mein Kritias und Hermokrates, (19d) diese Männer und unsern Staat auf eine genügende Weise zu preisen, muss ich fürwahr wohl verzweifeln. Und bei mir ist Das nicht zu verwundern; aber ich habe dieselbe Meinung auch von den Dichtern sowohl alter Zeit, als den jetzt lebenden gefasst, ohne irgend die Dichtergebilde herabsetzen zu wollen, sondern weil Jeder begreift, dass der Nachbildenden Menge Das, worin sie erzogen ward, sehr leicht und gut nachbilden wird, dass es aber schwierig ist, das außerhalb der gewohnten Lebensweise eines Jeden Liegende (19e) durch die Tat und noch schwieriger in Worten treffend nachzubilden. Die Innung der Sophisten dagegen halte ich zwar für sehr kundig überfließender Rede und anderes Schönen, besorge aber, dass sie, als in verschiedenen Städten umherschweifend und des eigenen Wohnsitzes entbehrend, in Männer, die zugleich weisheitsliebend und staatskundig sind, sich nicht zu finden wissen, wie Schönes und Großes diese wohl im Krieg und in der Schlacht mit dem Schwerte, und im Verkehr mit Jedem durch die Rede auszuführen und auszusprechen vermochten.

So bleiben nur Männer eures Schlages übrig, denen vermöge ihrer Erziehung und Naturanlagen Beides zu teil ward. (20a) Denn unser Timäos da, aus Lokris, dem unter allen Staaten Italiens der besten Gesetzgebung sich erfreuenden, stammend, gelangte, an Reichtum und Herkunft keinem seiner Mitbürger nachstehend, zu den größten Würden und Ehrenbezeugungen im Staate; in der gesamten Weisheit aber hat er, meiner Meinung nach, das Höchste erreicht. Vom Kritias aber wissen wir hierzulande Alle, dass ihm von Dem, wovon wir sprechen, nichts fremd ist; und dass ferner Hermokrates durch Naturanlagen und Erziehung zu dem Allen vollkommen befähigt sei, zu diesem Glauben berechtigt uns das Zeugnis Vieler.

(20b) Diese Ansicht bewog mich auch gestern, euren Bitten, meine Gedanken über den Staat euch mitzuteilen, bereitwillig zu willfahren, da ich weiß, dass, wenn ihr wollt, Niemand geschickter ist, über das Weitere Auskunft zu erteilen; denn wenn ihr unsern Staat in einen seiner würdigen Kriege versetztet, möchtet ihr wohl allein unter den Jetztlebenden in Allem die geziemende Rolle dabei ihm zuerteilen. Nachdem ich nun euern Wunsch erfüllte, habe ich dagegen gegen euch den eben erwähnten ausgesprochen. Ihr sagtet mir demnach zu, nach gemeinsamer Beratung unter euch selbst, jetzt meiner Rede Gastgeschenk zu erwidern. (20c) So hab' ich wich also dazu auf das Schönste herausgeputzt und, bereitwilliger als irgend einer das eurige in Empfang zu nehmen, eingefunden.

[Überraschung: Eine reale Geschichte als Grundlage zur Erfüllung der Aufgabe]

HERMOKRATES    Gewiss, lieber Sokrates, bereitwillig wollen wir versuchen, es, wie Timäos da sagte, an nichts fehlen zu lassen, auch haben wir keine Ausflucht, Dem uns zu entziehen; so dass wir auch sogleich gestern, als wir von hier aus zum Kritias, unserer Einkehrwohnung, gelangten und noch früher unterwegs eben diesen Gegenstand in Betrachtung zogen. (20d) Dieser teilte uns nun eine Sage aus alter Überlieferung mit, welche du auch jetzt diesem Freunde berichten magst, lieber Kritias, damit er mit uns prüfe, ob sie unserer Aufgabe angemessen sei, oder nicht.

KRITIAS    Das muss ich wohl tun, wenn auch unser dritter Genosse, Timäos, derselben Meinung ist.

TIMÄOS    Ei gewiss.

[Die mündliche Überlieferung von Solon bis Kritias]

KRITIAS    So vernimm denn, lieber Sokrates, eine gar seltsame, aber durchaus in der Wahrheit begründete Sage, wie einst der weiseste unter den Sieben, Solon, erklärte. (20e) Dieser war nämlich, wie er selbst häufig in seinen Gedichten sagt, unserem Urgroßvater Dropides sehr vertraut und befreundet, der erzählte es wieder unserm Großvater Kritias, und der alte Mann pflegte wiederum uns zu berichten, dass gar große und bewunderungswürdige Heldentaten unserer Vaterstadt aus früher Vergangenheit durch die Zeit und das Dahinsterben der Menschen in Vergessenheit geraten seien, (21a) vor allem aber eine, die größte, durch deren Erzählung wir dir wohl uns auf eine angemessene Weise dankbar zu bezeigen, und zugleich die Göttin bei ihrem Feste, wie es sich gebührt und der Wahrheit gemäß, so gut wie durch einen Festgesang, zu verherrlichen vermöchten.

SOKRATES    Wohl gesprochen! Welches ist denn aber die Heldentat, von welcher Kritias (der Großvater) als von einer nicht bloß in einer Sage erhaltenen, sondern einst von unserer Vaterstadt wirklich, wie Solon vernommen hatte, vollbrachten, erzählte?

KRITIAS    Ich will eine alte Sage berichten, die ich aus dem Munde eines eben nicht jungen Mannes vernahm; (21b) denn Kritias war damals, wie er sagte, fast an die Neunzig heran, und ich stand etwa im zehnten Jahre; es war aber gerade der Einzeichnungstag des Täuschungsfestes. Die für uns Knaben herkömmliche Festfeier fand auch diesmal statt; unsere Väter setzten uns nämlich Preise beim Vortragen von Gesängen aus. Da wurden nun viele Gedichte vieler Dichter hergesagt, und als etwas zu jener Zeit Neues sangen viele von uns Knaben auch die Gedichte Solon's ab.

Da sagte denn einer der Gemeindenachbarn, ob nun damals das seine Ansicht war, oder ob er dem Kritias etwas Angenehmes sagen wollte: seinem Bedünken nach sei Solon nicht bloß im Übrigen der größte Weise, sondern auch unter allen Dichtern (21c) der großsinnigste gewesen. Den alten Mann, recht gut erinnere ich mich dessen, freute das höchlich, und lächelnd erwiderte er: Wenn er nur, Freund Amynandros, das Dichten nicht als Nebensache, sondern wie andere mit vollem Ernst betrieben, und die Sage, die er aus Ägypten mit hierher brachte, ausgeführt hätte, nicht aber durch Aufstände und anderes Ungehörige, was er bei seiner Rückkehr hier vorfand, (21d) das liegen zu lassen genötigt worden wäre; dann hätte wohl, meiner Meinung nach, weder Hesiodos, noch Homeros, noch sonst ein Dichter einen höhern Dichterruhm erlangt als er.

Was war denn das für eine Sage, lieber Kritias? fragte er.

Gewiss die größte und mit dem vollsten Rechte wohl vor allem gepriesenste Heldentat betreffend, die zwar unsere Stadt vollbrachte, von der jedoch die Kunde, wegen der Länge der Zeit und des Untergangs Derer, die sie vollführten, nicht bis zu uns gelangte.

Erzähle, bat ihn der andere, von Anbeginn an, was und wie und von wem hatte Das als eine wahre Begebenheit Solon vernommen, was er erzählte.

[Solon in Ägypten]

(21e) Es ist in Ägypten, entgegnete er, im Delta, an dessen Spitze der Neilos sich spaltet, ein Gau, der der Saïtische heißt und dessen größte Stadt Saïs ist, aus welcher auch der König Amásis stammte. Diese Stadt hat eine Schutzgöttin, in ägyptischer Sprache Neith, in hellenischer, wie jene sagen, Athene geheißen. Die Bewohner aber sagen, sie seien große Athenerfreunde und mit den hiesigen Bürgern gewissermaßen verwandt.

Dorthin, erzählte Solon, sei er gereist, habe da eine sehr ehrenvolle Aufnahme gefunden, (22a) und als er die der Sache am meisten kundigen Priester über die alten Zeiten befragt, erkannt, dass so ziemlich weder er noch sonst einer der Hellenen von dergleichen Dingen das geringste wisse. Einmal habe er aber, um sie zu Erzählungen von den alten Zeiten zu veranlassen, von den ältesten Geschichten hiesiges Landes zu berichten begonnen, vom Phoróneus, den man den Ersten nennt, und von der Niobe, ferner nach der Wasserflut die Sage von Deukalion und Pyrrha, wie sie glücklich durchkamen. (22b) Er habe ihre Nachkommenschaft aufgezählt, und, indem er der seit dem Erzählten verstrichenen Jahre gedachte, die Zeitangaben festzustellen versucht.

[Wiederkehrende Naturkatastrophen verschonen Ägypten]

Da habe ein hochbejahrter Priester gesagt: Ach, Solon, Solon! Ihr Hellenen bleibt doch Kinder für und für, zum Greise aber bringt es kein Hellene.

– Wieso? Wie meinst du das? habe er (Solon), als er das hörte, gefragt.

– Euer Aller Geist ist, habe jener erwidert, jugendlich unerfahren, er hegt keine alte, auf altertümliche Erzählungen gegründete Meinung, noch ein durch die Zeit ergrautes Wissen. Davon liegt aber darin der Grund. (22c) Viele und mannigfache Vernichtungen haben stattgefunden und werden stattfinden, die bedeutendsten durch Feuer und Wasser, andere von kürzerer Dauer durch durch tausend andere Zufälle. Das wenigstens, was auch bei euch erzählt wird, dass einst Pháëthon, der Sohn des Helios, der seines Vaters Wagen bestieg, die Oberfläche der Erde, weil er die Bahn des Vaters einzuhalten unvermögend war, durch Feuer zerstörte, selbst aber, vom Blitze getroffen, seinen Tod fand, das wird wie ein Märchen berichtet; (22d) das Wahre [daran] beruht aber auf der Abweichung der am Himmel und um die Erde kreisenden Sterne und der nach langen Zeiträumen stattfindenden Vernichtung des auf der Erde Befindlichen durch mächtiges Feuers Glut.

Dann pflegen demnach Diejenigen, welche Berge und hoch und trocken gelegene Gegenden bewohnen, eher als die an Flüssen und dem Meere Wohnenden unterzugehen, uns aber rettet der auch sonst uns Heil bringende Neilos durch sein Übertreten aus solcher Not. Wenn dagegen die Götter die Erde, [um] sie zu läutern, mit Wasser überschwemmen, dann kommen die Rinder- und Schafhirten auf den Bergen davon; die bei euch in den Städten Wohnenden dagegen werden von den Strömen nach dem Meere zu fortgerissen. (22e) Hierzulande aber ergießt sich weder dann noch bei andern Gelegenheiten Wasser von oben her über die Fluren, sondern alles pflegt von Natur von unten herauf sich zu erheben. Daher und aus diesen Gründen habe sich, sagt man, das hier Befindliche in uralter Zeit erhalten; das Wahre aber ist, allerorten, wo es nicht eine übermäßige Kälte oder Hitze verbietet, (23a) lebt eine bald größere, bald kleinere Zahl von Menschen;

[Nur in Ägypten blieb das Wissen von Ur-Athen erhalten]

was sich aber, sei es bei euch, oder hier oder in andern Gegenden, von denen uns Kunde ward, Schönes und Großes oder in einer andern Beziehung Merkwürdiges begab, das alles ist von alten Zeiten her hier in den Tempeln aufgezeichnet und (für die Erinnerung) aufbewahrt. Bei euch und andern Völkern dagegen ist man jedesmal eben erst mit der Schrift und allem Andern, dessen (dazu) die Staaten bedürfen, versehen, und dann brach, nach Ablauf der gewöhnlichen Frist, wie eine Krankheit eine Flut vom Himmel über sie herein und ließ von euch nur die der Schrift Unkundigen und Ungebildeten zurück, (23b) so dass ihr vom Anbeginn wiederum gewissermaßen zum Jugendalter zurückkehrt, ohne von Dem etwas zu wissen, was so hier wie bei euch zu alten Zeiten sich begab.

Was du daher eben von den alten Geschlechtern unter euch erzähltest, Freund Solon, unterscheidet sich nur wenig von Kindergeschichtchen, da ihr nur einer Überschwemmung, deren vorher viele stattfanden, euch erinnert. So wisst ihr ferner auch nicht, dass das unter Menschen schönste und trefflichste Geschlecht in euerm Lande entspross, dem du entstammst und euer gesamter jetzt bestehender Staat, (23c) indem einst ein winziger Same davon übrig blieb. Das blieb vielmehr euch verborgen, weil die am Leben Erhaltenen viele Menschengeschlechter hindurch der Sprache der Schrift ermangelten. Denn einst, o Solon, vor der größten Verheerung durch Überschwemmung, war der Staat, der jetzt der athenische heißt, der tapferste im Kriege und vor allen durch eine gute gesetzliche Verfassung ausgezeichnet; er soll unter allen unter der Sonne, von denen die Kunde zu uns gelangte, die schönsten Taten vollbracht, die schönsten Staatseinrichtungen getroffen haben.

[Ur-Athen]

(23d) Mit Verwunderung habe Solon, erzählte er selbst, das vernommen und inständigst die Priester gebeten, ihm der Reihe nach genau alles seine Mitbürger aus alter Zeit Betreffende zu berichten.

Diesen Bericht, habe der Priester gesagt, will ich dir nicht missgönnen, lieber Solon, sondern um deiner selbst und deiner Vaterstadt willen dir ihn mitteilen, vorzüglich aber der Göttin zuliebe, welcher euer Land und dieses hier zum Lose fiel und die beide gedeihen ließ und heranbildete, das euere um tausend Jahre früher, indem sie den Samen eures Volks (23e) vom Hephaistos und der Erde überkam, das hiesige später. Die Zahl der Jahre aber seit der hier bestehenden Einrichtung unsers Staats ist in der geweihten Schrift auf achttausend Jahre angegeben. Von deinen vor neuntausend Jahren lebenden Mitbürgern will ich dir ganz kurz die Gesetze und die schönste Heldentat, die von ihnen vollbracht ward, berichten; das Genauere über alles aber wollen wir später (24a) der Reihe nach, indem wir die Schriften selber zur Hand nehmen, erörtern.

Auf ihre Gesetze mache einen Schluss von den hier geltenden; denn viele den damals bei euch bestehenden ähnliche wirst du jetzt hier vorfinden, zuerst den von den übrigen getrennten Stand der Priester, dann den der Werkmeister, deren jeder, von dem andern getrennt, sein eigenes Geschäft betreibt, sowie den der Hirten und Jäger und Landwirte; (24b) auch den Stand der Krieger, dem vom Gesetze der Auftrag ward, um weiter nichts als um den Krieg sich zu kümmern, siehst du doch wohl von jedem andern geschieden.

Ferner ist auch die Art der Rüstung mit Schild und Speer dieselbe, deren wir unter den Bewohnern Asiens zuerst uns bedienten, indem die Göttin sie uns zuerst, wie euch in dortiger Gegend, lehrte. Was aber die Verstandesbildung anbetrifft, siehst du wohl, welche Sorgfalt die hiesige Gesetzgebung sogleich von Anbeginn an ihr widmete, (24c) in Bezug auf die Weltordnung bis auf die Seher- und Heilkunst, indem sie aus vielen göttlichen Wissenschaften das auf menschliche Angelegenheiten, wie Gesundheit, Bezügliche herleitete, und in den Besitz aller andern damit verbundenen Kenntnisse sich setzte.

Insofern also die Göttin euch zuerst diese gesamte Anordnung und Ausbildung verlieh, wies sie euch auch euern Wohnsitz an, und wählte die Stätte, der ihr entsprossen seid, dazu aus, weil sie in der Jahreszeiten günstigem Wechsel erkannte, dass sie die verständigsten Bewohner erzeugen werde. Als dem Kriege und der Weisheit hold, (24d) wählte die Göttin diejenige Stätte aus, die bestimmt war, die ihr zunächst kommenden Menschen zu erzeugen, und gründete da zuerst einen Staat. In diesem lebtet ihr also unter solchen Gesetzen und einer noch vollkommenern Verfassung, (24e) in jeder Tugend vor allen Menschen ausgezeichnet, wie es sich von euch, als Abkömmlingen und Zöglingen der Götter, erwarten ließ.

[Atlantis]

Demnach erregen viele und große von euch hier aufgezeichnete Heldentaten euerer Vaterstadt Bewunderung, vor allem aber zeichnet sich eine durch ihre Bedeutsamkeit und den dabei bewiesenen Heldenmut aus; denn das Aufgezeichnete berichtet, welche Heeresmacht dereinst euer Staat überwältigte, welche von dem Atlantischen Meere übermütig gegen ganz Europa und Asien heranzog. Damals war nämlich dieses Meer schiffbar; denn vor dem Eingange, der, wie ihr sagt, die Säulen des Herakles heißt, befand sich eine Insel, größer als Asien und Libyen zusammengenommen, von welcher den damals Reisenden der Zugang zu den übrigen Inseln, von diesen aber zu dem ganzen gegenüberliegenden, (25a) an jenem wahren Meere gelegenen Festland offenstand. Denn das innerhalb jenes Einganges, von dem wir sprechen, Befindliche erscheint als ein Hafen mit einer engen Einfahrt; jenes aber wäre wohl wirklich ein Meer, das es umgebende Land aber mit dem vollsten Rechte ein (unbegrenztes) Festland zu nennen.

Auf dieser Insel Atlantis vereinte sich auch eine große, wundervolle Macht von Königen, welcher die ganze Insel gehorchte, sowie viele andere Inseln und Teile des Festlandes; außerdem herrschten sie auch innerhalb, hier in (25b) Libyen bis Ägypten, in Europa aber bis Tyrrhenien.

[Krieg und Untergang von Ur-Athen und Atlantis]

Diese in eins verbundene Gesamtmacht unternahm es nun einmal, euer und unser Land, das gesamte diesseit[s] des Eingangs Belegene, durch einen Heereszug zu unterjochen.

Da nun, Freund Solon, wurde das Kriegsheer euerer Vaterstadt durch Tapferkeit und Mannhaftigkeit vor allen Menschen offenbar. Denn indem sie durch Mut und die im Kriege anwendbaren Kunstgriffe Alle übertraf, geriet sie, teils an der Spitze der Hellenen, (25c) teils, nach dem Abfalle der übrigen, notgedrungen auf sich allein hingewiesen, in die äußersten Gefahren, siegte aber und errichtete Siegeszeichen über die Heranziehenden, hinderte sie die noch nicht Unterjochten zu unterjochen, uns Übrigen insgesamt aber, die wir innerhalb der Heraklessäulen wohnen, gewährte sie eine uns nicht missgönnte Befreiung.

Indem aber in späterer Zeit Erdbeben und Überschwemmungen eintraten, versank, indem nur ein schlimmer Tag und eine schlimme Nacht hereinbrach, (25d) euere Heeresmacht insgesamt und mit einem Male unter die Erde, und in gleicher Weise wurde auch die Insel Atlantis durch Versinken in das Meer den Augen entzogen. Dadurch ist auch das dortige Meer ein unfahrbarbares geworden und undurchforscht geblieben, weil die großen Untiefen des Schlammes, den die untergehende Insel zurückließ, hinderlich wurden.

[Die Erinnerung des Kritias]

(25e) Was der alte Kritias Dem, was Solon gehört hatte, zufolge sagt, hast du, lieber Sokrates, in aller Kürze vernommen. Als du aber gestern vom Staate und von dessen Bürgern, wie du sie darstelltest, sprachest, bewunderte ich es, an das was ich eben erzählte mich erinnernd, wie du zufällig, als ob ein Dämon aus dir spräche, meistens nicht ungenau mit Dem, was Solon sagte, zusammenstimmtest.

Doch wollt' ich nicht sogleich das Wort ergreifen, (26a) denn wegen der Länge der Zeit war Jenes mir nicht zur Genüge erinnerlich; so erkannt' ich also, ich werde, bevor ich rede, mir selbst Alles hinreichend in das Gedächtnis zurückrufen müssen. Daher sagte ich sogleich bereitwillig, was du gestern begehrtest, dir zu, in der Meinung, wir würden, was bei solchen Aufgaben das Schwierigste ist, so ziemlich imstande sein, unserer Unterhaltung eine deinen Wünschen entsprechende Untersuchung zugrunde zu legen.

Darum berichtete ich sogleich gestern, wie unser Freund da (auf den Hermokrates zeigend) erzählte, (26b) diesen meine Erinnerungen; nach meiner Heimkehr aber wiederholte ich mir, so ziemlich Alles durchdenkend, das Ganze, da gewiss, wie man zu sagen pflegt, das vom Knaben Erlernte in bewundernswürdiger Weise im Gedächtnis haftet. Denn ich weiß nicht, ob ich wohl imstande sein würde, Alles, was ich gestern hörte, im Gedächtnis wieder aufzuspüren; dagegen sollte es mich sehr wundern, wenn mir etwas von Dem, was ich vor sehr langer Zeit genau hörte, entfallen wäre. Damals also (26c) vernahm ich es unter großer Lust und Kurzweil, indem der Greis auf meine oft wiederholten Fragen bereitwillig mich beschied, so dass es wie eingebrannte Schrift unauslöschbar in mir haftet. Auch diesen Freunden erzählte ich gleich am Morgen Dasselbe, damit es ihnen so wenig wie mir an Redestoff gebreche.

[Wie die Überlieferung zur Erfüllung der Aufgabe des Sokrates verwendet wird]

Jetzt also, lieber Sokrates, siehst du mich, und deshalb führte ich alles eben Gesagte an, bereit, es nicht bloß im Allgemeinen, sondern jedes einzeln, wie ich es vernahm, zu berichten. Wir wollen aber die Bürger und den Staat, den du gestern als ein Erdichtetes uns darstelltest, jetzt auf das wirklich Geschehene hier übertragen, (26d) und annehmen, jener sei derselbe mit diesem, und behaupten, die Bürger, wie du sie dir dachtest, seien in Wahrheit unsere Vorvordern, von denen der Priester erzählte. Sie werden durchaus mit diesen im Einklang stehen und wir keinen Missgriff tun, sagen wir, ebenso beschaffen waren die zu jener Zeit Lebenden. Indem wir aber Alle gemeinschaftlich die Sache vornehmen, wollen wir nach Kräften versuchen, die uns von dir gestellte Aufgabe auf eine angemessene Weise zu lösen. Darum hast du, lieber Sokrates, jetzt zu erwägen, ob der von uns einzuschlagende Weg nach deinem Sinne ist, (26e) oder ob wir vorher noch etwas Anderes zu erörtern haben.

SOKRATES    Welche Untersuchung könnten wir wohl lieber vornehmen, als diese, lieber Kritias, da sie ja wohl dem gegenwärtigen Opferfeste der Götter, des verwandten Gegenstandes wegen, am angemessensten ist; auch, dass es nicht eine erdichtete Sage, sondern eine wahrhafte Erzählung ist, ist etwas sehr Wichtiges. Denn wie und woher sollten wir, wollten wir diese nicht berücksichtigen, andere auffinden? Das ist nicht möglich; sondern euch kommt es jetzt zu, getrost das Wort zu nehmen, mir aber jetzt, zum Entgelt meines gestrigen Berichts, (27a) ruhig zuzuhören.

[Arrangement der Reden Timaios-Kritias]

KRITIAS    Erwäge aber, Sokrates, die von uns festgestellte Aufeinanderfolge der dir bestimmten Gastgeschenke. Es schien uns nämlich angemessen, dass Timäos, als der Sternkundigste unter uns und Derjenige, der es zur Hauptaufgabe seines Lebens machte, zur Kenntnis der Natur des Weltalls zu gelangen, zuerst rede und damit beginne über die Entstehung der Welt zu sprechen, mit der Natur des Menschen aber schließe. Nach ihm aber ich, nachdem ich von ihm die Menschen, seinen Vortrage zufolge, ins Dasein gerufen, von dir aber einige als in hohem Grade ausgebildet überkam, (27b) sie, der Erzählung und Gesetzgebung Solon's gemäß, als Richter uns vorführe, und als seien es die Athener jener Zeit, zu Bürgern unsers Staats mache, von denen die in den heiligen Schriften niedergelegte Sage verkündet, sie seien (von der Erde) verschwunden, und von ihnen hinfort als unsern Bürgern und Athenern spreche.

SOKRATES    So soll mir, scheint es, in vollkommener und glänzender Weise mein Redeschmaus vergolten werden! Demnach dürfte es also nun wohl, wie es scheint, an dir, lieber Timäos, sein, das Wort zu nehmen, nachdem du, der Sitte gemäß, der Götter Beistand dir erflehtest.

[Der eikos mythos des Timaios]

(27c) TIMÄOS    [...]



KRITIAS

Übersetzt von Hieronymus Müller 1857


Die Vorigen.

[Timaios und Kritias bitten um Nachsicht]

(106a) TIMÄOS    Wie froh, lieber Sokrates, gleich einem der von langer Wanderung ruht, sehe ich so mich jetzt, mit dem Gesagten mich begnügend, am Ziele der Irrfahrt meiner Rede. Zu dem Gotte aber, welcher in seiner Wirksamkeit schon längst bestand, aus meiner Rede dagegen soeben erst hervorging, flehe ich, Dasjenige, was von mir in angemessener Weise gesprochen wurde, (106b) selbst dauernd zu erhalten, kam ich dabei aber irgendwo wider meine Absicht aus dem Takte, dafür die solchem Fehltritt angemessene Buße mir aufzuerlegen. Die richtige Buße besteht aber darin, dass man den Taktvergessenen zum Taktfesten mache. Damit wir also über das Entstehen der Götter in Zukunft das Richtige vortragen, möge der Gott selbst das beste und vollkommenste aller Gegenmittel, das Wissen, uns verleihen. Mit diesem Gebete übergebe ich, unserer Übereinkunft gemäß, dem Kritias die Fortsetzung meiner Rede.

KRITIAS    Wohl übernehm' ich sie, Freund Timäos; die Vorbitte aber, mit der du beim Beginn deiner Rede anhubst, (106c) indem du als im Begriff von hochwichtigen Gegenständen zu sprechen, um Nachsicht batest, dieselbe tu' auch ich jetzt. (107a) Diese Nachsicht glaube aber ich in noch höherm Grade hinsichtlich des Vorzutragenden beanspruchen zu dürfen. Doch obgleich ich fast die Überzeugung hege, dass die Vorbitte, welche einzulegen ich im Begriff bin, eine ziemlich anmaßende und die Schranken der Bescheidenheit überschreitende sei, muss ich dennoch sie aussprechen. Denn welcher Verständige wollte wohl zu behaupten wagen, dass das von dir Vorgetragene nicht gut (zu heißen) sei?

[Warum die Aufgabe des Kritias schwieriger zu erfüllen ist]

Dass aber das von mir Vorzutragende, als schwieriger, größere Nachsicht erheische, das muss ich irgendwie nachzuweisen versuchen. Für dich, lieber Timäos, der du etwas über die Götter vor Menschen vortrugst, (107b) war es nämlich leichter diese zu befriedigen, als mir durch einen Vortrag über Sterbliche vor uns (Sterblichen). Denn die Unkunde und große Unwissenheit der Zuhörer über Gegenstände, von denen sie so wenig wissen, macht es Dem, welcher darüber sprechen will, sehr bequem; wie es aber um unsere Kenntnis von den Göttern stehe, das wisst ihr ja. Damit ich jedoch mich noch deutlicher gegen euch erkläre, so stellt mit mir folgende Betrachtung an.

Was nämlich irgend einer von uns sagt, muss wohl zu einer Nachahmung und Nachbildung sich gestalten. Betrachten wir aber die Kunst der Maler in der Nachbildung göttlicher und menschlicher Gestalten, inwiefern es ihnen leicht oder schwer wird, (107c) den Beschauenden durch ihre Nachahmung zu genügen, so werden wir sehen, dass wir erstens bei der Erde, den Bergen, den Flüssen, dem Walde, dem Himmel und Allem insgesamt, was an ihm sich findet und bewegt, zufrieden sind, hat Jemandes Nachbildung nur einige Ähnlichkeit mit diesen Gegenständen, sowie, dass wir außerdem, da wir von dergleichen Dingen keine genaue Kenntnis besitzen, das Gemalte weder prüfen, noch streng beurteilen, (107d) und mit einem ungenauen und täuschenden Schattenumrisse uns begnügen; versucht es dagegen Einer, unsere eigenen Gestalten abzuconterfeien, dann werden wir, vermöge der fortwährenden, täglich stattfindenden Beobachtung das Mangelhafte scharfsichtig wahrnehmend, zu strengen Richtern Desjenigen, welcher nicht durchaus alle Ähnlichkeiten wiedergibt.

Wir müssen nun fürwahr erkennen, dass dasselbe auch hinsichtlich der Vorträge geschieht, bei dem auf die Götter und den Himmel sich beziehenden begnügen wir uns sogar mit einer geringen Wahrscheinlichkeit; die Beleuchtung des Sterblichen und Menschlichen unterwerfen wir dagegen einer strengern Prüfung. Gewiss, sollte ich jetzt bei meinem Vortrage aus dem Stegreife nicht durch Angemessenes meine Schuld abzutragen vermögen, (107e) so verdient das Nachsicht. Denn das Sterbliche zur Zufriedenheit nachzubilden, muss man sich durchaus nicht als leicht, sondern als schwierig denken. Das Alles, lieber Sokrates, hab' ich vorausgeschickt, weil ich es euch in das Gedächtnis zurückzurufen wünsche, und auch für Das, was ich zu sagen gedenke, (108a) nicht um mindere, sondern um größere Nachsicht bitte. Erscheint aber meine Bitte um diese Gunst als eine gerechte, dann lasst bereitwillig sie mir angedeihen.

[Vorausblick auf die Rede des Hermokrates]

SOKRATES    Warum, Freund Kritias, sollten wir das nicht? Außerdem sei von uns Dasselbe auch dem Dritten von euch, dem Hermokrates, gewährt. Denn offenbar wird in Kurzem auch er, wenn er das Wort ergreifen muss, (108b) dieselbe Vorbitte tun, wie ihr. Damit er nun einen andern Eingang zum Besten gebe, und nicht eben denselben zu wiederholen sich genötigt sehe, beginne er, unserer Nachsicht für dieselbe gewiss, seine Rede. Doch dich, lieber Kritias, mache ich zum Voraus mit der Stimmung der Sitzreihe bekannt, dass der vor dir aufgetretene Dichter einen wundersamen Beifall sich errungen hat, so dass du einer ganz besondern Nachsicht bedürfen wirst, willst du mit ihm in die Schranken zu treten im Stande sein.

HERMOKRATES    Deine Aufforderung da, lieber Sokrates, gilt gewiss ebenso gut mir, wie diesem. Doch, lieber Kritias, (108c) zaghafte Streiter richteten noch nie ein Siegeszeichen auf; deshalb müssen wir mannhaft zu unserm Vortrage den Kampfplatz betreten und, unter Anrufung des Apollon und der Musen, unsere Mitbürger aus alter Zeit als wackere Männer darstellen und erheben.

[Anrufung der Mnemosyne]

KRITIAS    Noch bist du, mein guter Hermokrates, getrostes Mutes, da du, in der Nachhut aufgestellt, noch einen Vordermann hast; doch eigene Erfahrung wird dich bald von der Lage belehren, in der ich mich befinde; dennoch muss ich deiner Zusprache und deinem ermutigenden Zurufe Gehör geben, (108d) und neben den von dir genannten Göttern auch die übrigen anrufen, vor allen zumeist aber die Mnemosyne; denn in dieser Göttin Hand liegt wohl das Wichtigste unserer Rede. Rufen wir uns aber treu in das Gedächtnis zurück und teilen es mit, was einst von dem Priester verkündet, vom Solon hierher gebracht wurde, dann zweifle ich kaum, dass es dieser Sitzreihe bedünken wird, wir haben so ziemlich unserer Aufgabe genügt. Das soll also nun alsbald, ohne weitern Ausschub, geschehen.

[Rekapitulation der historischen Überlieferung]

(108e) Vor Allem zuerst wollen wir uns erinnern, dass zusammengenommen 9000 Jahre verstrichen sind, seitdem, wie erzählt wurde, der Krieg zwischen den außerhalb der Säulen des Herakles und allen innerhalb derselben Wohnenden stattfand, von dem wir jetzt vollständig zu berichten haben. Über die Einen soll unser Staat geherrscht und den ganzen Krieg durchgefochten haben, über die Andern aber die Könige der Insel Atlantis, von welcher wir behaupteten, dass sie einst, größer als Asien und Libyen, vorhanden war, jetzt aber, nachdem sie durch Erdbeben unterging, die von hier aus die Anker nach dem jenseitigen Meere Lichtenden durch eine undurchdringliche, kotige Untiefe (109a) fernerhin diese Fahrt zu unternehmen hindere. Von den vielen Barbarvölkern, sowie von den hellenischen Völkerstämmen, welche es damals gab, wird der Lauf unserer Erzählung, indem sie die einzelnen Ereignisse entwickelt, berichten. Doch zuvörderst müssen wir notwendig die Heeresmacht und die Verfassungen sowohl der damaligen Athener, als der Feinde, gegen die sie den Krieg hinausführten, darlegen. Es gebührt sich aber unter diesen von den Einheimischen anzuheben.

[Verteilung der Erde unter den Göttern ohne Streit]

(109b) Die Götter verteilten nämlich unter sich die ganze Erde, der Örtlichkeit nach, durch das Los, nicht in Hader. Denn unvernünftig wäre es wohl zu sagen, die Götter wüssten nicht das jedem von ihnen Zukommende, noch es suchten, wenn sie es wüssten, die einen das andern mehr Zukommende in Hader sich selbst zuzueignen. Sie bevölkerten vielmehr, nachdem ihnen durch rechtliche Verlosung der ihnen werte Anteil zu gefallen war, die Landstriche, und ernährten, nachdem sie das getan, uns als ihre Zucht und ihr Eigentum, (109c) wie die Hirten ihre Herden, nur dass sie nicht die Körper durch Körperkraft bändigten, wie die Hirten über ihr Vieh durch Schläge walten, sondern indem sie uns, als ein durch Überredung besonders lenksames Geschöpf, gleichsam durch das hinten am Schiffe befindliche Steuerruder auf die Seele einwirkend, nach ihrem Sinne leiteten und so über das gesammte Geschlecht der Menschen walteten.

[Ur-Athen: Pflanzung durch Hephaistos und Athene]

Indem nun dem einen der Götter dieses, dem andern ein anderes Land durch das Los anheimfiel, ordneten diese dasselbe; dem Hephästos und der Athene aber, deren Wesen ein gemeinsames war, da sie teils durch denselben Vater verschwistert waren, teils die Liebe zur Weisheit und zur Kunst teilten, wurde deshalb dieses Land, als von Natur für Weisheit und Tapferkeit gedeihlich und dazu geeignet, als gemeinschaftliches Los zugeteilt, (109d) welches sie mit wackern, ureingeborenen Männern bevölkerten, deren Sinn sie auf die Anordnung ihres Staats hinlenkten.

[Ur-Athen: Nur die Namen von Kriegern und Kriegerinnen überdauerten]

Von diesen haben die Namen sich erhalten, ihre Taten aber gerieten, durch den Untergang Derjenigen, welchen sie überliefert wurden, und die Länge der Zeit, in Vergessenheit. Denn die jedesmal am Leben bleibende Klasse von Bewohnern war, wie auch früher erzählt wurde, eine auf Bergen hausende, der Buchstabenschrift unkundige, welche höchstens die Namen der im Lande Herrschenden und daneben nur Weniges von ihren Taten gehört hatten. Diese begnügten sich daher, Jener Namen ihren Nachkommen beizulegen. Da sich aber, bis auf einige dunkle Gerüchte, (109e) die Heldentaten und Gesetze der früher Lebenden nicht kannten und selbst mit ihren Kindern, viele Menschenalter hindurch, an dem Notdürftigen Mangel litten, (110a) so richteten sie auf das ihnen Mangelnde ihren Sinn, und machten dies auch zum Gegenstande ihrer Reden, ohne um Das, was vor ihnen und in alter Zeit einmal sich begab, sich zu kümmern. Denn die Sagenkunde und die dem Altertümlichen zugewendete Forschbegierde finden sich in den Staaten zugleich mit dem Nachlassen des Arbeitsdranges ein, sobald sie erkennen, dass bei Manchen für die Lebensbedürfnisse bereits gesorgt sei, früher aber nicht. So geschah es, dass sich die Namen, nicht aber die Taten der alten Bewohner des Landes erhielten.

Für Das, was ich hier sage, führe ich aber als Beweis an, dass Solon berichtete, jene Priester haben die Namen eines Kekrops, Erechtheus, Erichthonios, Erysichthon und die meisten andern, (110b) was da an Namen vor Theseus erwähnt wird, häufig, indem sie den damals geführten Krieg erzählten, erwähnt, sowie desgleichen die der Frauen.

[Ur-Athen: Athene als Kriegerin, Klassenwesen und Kriegerklasse]

Insbesondere sei auch die Gestaltung und das Standbild der Göttin, dass dieselbe, weil damals Männer und Frauen alle auf den Krieg bezüglichen Beschäftigungen gemeinsam betrieben, dieser Einrichtung zufolge von den damals Lebenden in solcher Rüstung als Weihgeschenk aufgestellt wurde, ein Beleg, dass von allen Geschöpfen, bei denen das männliche und weibliche Geschlecht in Gemeinschaft lebt, (110c) jedes der beiden von Natur befähigt sei, Das, wozu jede Gattung bestimmt ist, gemeinsam zu üben.

Es bewohnten aber damals dieses Land teils die andern mit Gewerben und Ackerbau beschäftigten Klassen der Bürger, teils die streitbare, anfangs von gottähnlichen Männern von den übrigen geschieden, der es an nichts zum Unterhalt und zur Kindererziehung Erfoderlichem fehlte, von der aber Keiner etwas als Eigentum besaß, indem sie Alles als ein ihnen Allen Gemeinsames ansahen, (110d) und, ausreichenden Unterhalt ausgenommen, von ihren übrigen Mitbürgern nichts verlangten, sondern alle Beschäftigungen trieben, welche gestern den der Annahme nach das Geschäft der Wächter Versehenden zugeteilt wurden.

[Ur-Athen: Landesgrenzen und Fruchtbarkeit des Landes]

Insbesondere wurde auch von unserm Lande Glaubwürdiges und der Wahrheit Entsprechendes erzählt. Zuerst, dass dessen Grenzen zu damaliger Zeit bis an den Isthmos sich erstreckten, und nach dem andern Festlande hin bis zu den Höhen des Parnass und Kithäron. (110e) Diese Grenzhöhen aber senkten sich, indem Oropia ihnen zur Rechten, das Meer bis an die Quellen des Asópos zur Linken lag. An Trefflichkeit habe aber unser Land jedes andere übertroffen und sei deshalb damals auch im Stande gewesen, ein großes Heer von den Geschäften des Ackerbaues Befreiter zu unterhalten.

[Ur-Athen: Bodenerosion durch wiederkehrende Naturkatastrophen]

Das jetzt von ihm zurückgebliebene macht noch jedem andern Lande durch Allerträglichkeit, Fruchtbarkeit und die Weide, die es allen Herden beut, den Vorzug streitig; (111a) damals aber bot es, neben seiner Anmut, das Alles in großer Fülle.

Inwiefern verdient dieses nun Glauben, und in welcher Hinsicht darf ein solcher Landstrich mit Recht ein Überbleibsel des damaligen Bodens heißen? Das gesamte Land liegt, indem es vom übrigen Festlande aus weithin in das Meer sich erstreckt, wie ein Vorgebirge da, und das ganze es umschließende Meer ist an seinen Küsten sehr tief. Da nun in den neuntausend Jahren, denn so lange Zeit ist von damals bis jetzt verstrichen, viele und mächtige Überschwemmungen stattfanden, (111b) so dämmte sich die in so langer Zeit und bei solchen Naturereignissen von den Höhen herabgeschwemmte Erde nicht, wie anderwärts, hoch auf, sondern verschwand, immer ringsherum fortgeschwemmt, in die Tiefe. Es sind nun aber, wie bei kleinen Inseln, gleichsam, mit dem damaligen Zustande verglichen, die Knochen des erkrankten Körpers noch vorhanden, indem nach dem Herabschwemmen des fetten und lockern Bodens nur der hagere Leib des Landes zurückblieb.

[Ur-Athen: Wälder und Quellen]

In dem damaligen noch unversehrten Lande aber (111c) erschienen die Berge wie Erdhügel, die Talgründe des Phelleus waren mit fetter Erde bedeckt, und die Berge bekränzten dichte Waldungen, von denen noch jetzt augenfällige Spuren sich zeigen. Denn jetzt bieten einige der Berge nur den Bienen Nahrung; vor nicht gar langer Zeit aber standen noch die Bedachungen von zum Sparrwerk tauglichen, dort für die größten Bauten gefällten Bäumen unversehrt. Auch trug der Boden viele andere, hohe Fruchtbäume und bot den Herden höchst ergiebige Weide;

vorzüglich aber gab ihm das im Laufe des Jahres vom Zeus entsandte Wasser Gedeihen, (111d) welches ihm nicht, indem es wie jetzt bei dem kahlen Boden in das Meer sich ergoss, verloren ging; sondern indem er Vieles zurückbehielt und in sich aufnahm, verteilte er das auf den Höhen von dem tonhaltigen Grunde eingesogene in die Talgründe und gewährte allerwärtshin reichliche Bewässerung durch Flüsse und Quellen, von welchen auch noch jetzt an den ehemaligen Quellen geweihte Merkzeichen zurückgeblieben sind, dass Das wahr sei, was man (jetzt) davon erzählt.

[Ur-Athen: Die Klasse der Ackerleute]

(111e) So war die natürliche Beschaffenheit des übrigen Landes, verschönert, wie es sich erwarten lässt, von echten Landwirten, die das ausschließend betrieben, von dem Schönen nachstrebenden, wohlbegabten Männern, welche sich des trefflichsten Bodens, der reichlichsten Bewässerung und unter ihrem Himmel des angemessensten Wechsels der Jahreszeiten erfreuten.

[Ur-Athen: Die Akropolis vor der Bodenerosion]

Die Stadt aber war zu damaliger Zeit in folgender Weise auferbaut. Erstens war die Burg nicht so beschaffen wie jetzt. (112a) Jetzt nämlich hat Eine vorzüglich regenreiche Nacht diese durch Abschwemmung der Erde entblößt, indem zugleich Erdbeben und die plötzliche Überschwemmung, die dritte vor der Deukalionischen Verheerung, eintraten. Was aber den Umfang anbetrifft, den sie ehemals, zu einer andern Zeit, einnahm, so senkte sie sich nach dem Eridanos und Ilissos zu, und ihr Boden war, indem sie die Pnyx umschloss und von dem der Pnyx gegenüberliegenden Lykabétos begrenzt wurde, durchgängig krumig und bildete, mit wenigen Ausnahmen, eine Hochebene.

[Ur-Athen: Wohnungen, Heiligtümer, Speisesäle, Gärten, Übungsplätze, Quelle]

(112b) Ihre äußern Abhänge waren von Handwerkern bewohnt und von Landwirten, welche in ihrer Nähe ihr Geschäft betrieben. Aus den obern Teilen hatte bloß der Stand der Krieger für sich allein, um den Tempel der Athene und des Hephästos herum, seine Wohnungen, die sie, wie den Garten eines und desselben Hauses, noch mit einer Ringmauer umgeben hatten.

Denn die Nordseite bewohnten sie, wo sie gemeinsame Gebäude und Speisesäle für den Winter und alles dem gemeinschaftlichen Staatsleben an Wohnungen (112c) für sich und die Priester Zukommende aufgeführt hatten, doch ohne Anwendung von Gold und Silber, dessen sie durchaus in keinem Falle sich bedienten, sondern sich, die Mittelstraße zwischen stolzem Prunk und den Anstand verletzender Dürftigkeit haltend, schmucke Wohnhäuser bauten, die sie, indem sie selbst und ihre Nachkommen und die Nachkommen dieser in ihnen dem Greisenalter entgegenreiften, stets in demselben Zustande ihnen Gleichgesinnten hinterließen. Auch der Südseite bedienten sie sich, indem sie jedoch, als während des Sommers, Gärten, Übungshäuser und gemeinsame Speisesäle aufgaben, zu denselben Zwecken.

An der Stelle, wo jetzt die Burg steht, befand sich eine Quelle, von der, als sie durch Erdbeben versiegte, (112d) ringsherum die jetzigen Bächlein geblieben sind; für die gesamten damaligen Bewohner aber strömte sie, bei einem für den Winter und Sommer angemessenen Wärmegrade, in reichem Maße.

[Ur-Athen: Die zwanzigtausend Männer und Frauen der Kriegerklasse]

So eingerichtet wohnten sie als Wächter der eigenen Mitbürger und, mit Zustimmung derselben, an der Spitze der übrigen Hellenen stehend, und indem sie die Zahl der Männer und Frauen stets ziemlich dieselbe bleiben ließen, ausreichend für den Krieg, (112e) da sie schon damals ungesähr auf 20,000 sich beliefen.

Da sie selbst so wacker waren und in solcher, so ziemlich sich gleichbleibenden Weise gerecht ihr eigenes Vaterland und Hellas verwalteten, erwarben sie sich durch körperliche Schönheit und die allseitigen Vorzüge ihres Geistes durch ganz Europa und Asien einen Ruf, und waren unter allen damals Lebenden die gepriesensten.

[Atlantis: Die Übersetzung der Namen in den Aufzeichnungen des Solon]

Wie dagegen der Zustand der zum Kampfe gegen sie Austretenden beschaffen war und wie er von Anbeginn an sich gestaltete, das wollen wir euch jetzt, verlor sich uns nicht Das, was wir als Knaben hörten, in Vergessenheit, als ein Freunden zuständiges Gemeingut mitteilen.

(113a) Doch eine Kleinigkeit müssen wir noch unserer Erzählung vorausschicken, damit es euch nicht etwa Wunder nehme, wenn Barbaren hellenische Namen führen; sollt ihr doch den Grund davon vernehmen. Da nämlich Solon die Absicht hatte, diese Erzählung bei seinen Dichtungen zu benutzen, forschte er genau der Bedeutung der Eigennamen nach und fand, dass jene Ägyptier, welche zuerst sie aufzeichneten, dieselben in ihre Sprache übergetragen hatten; da nahm er selbst den Sinn jedes Eigennamens wieder vor und schrieb sie, indem er aus unsere Sprache sie zurückführte, nieder. (113b) Diese Auszeichnungen aber befanden sich in den Händen meines Großvaters, und befinden sich noch in den meinigen, und wurden schon in meinem Knabenalter von mir durchforscht. Demnach nehm' es euch nicht Wunder, wenn ihr auch dort Eigennamen wie hier zu Lande hört, wisst ihr doch nun den Grund davon.

[Atlantis: Pflanzung durch Poseidon auf dem Hügel der Kleito nahe der Ebene]

Folgendes war der Eingang zu einer langen Erzählung.

Wie im Vorigen von der von den Göttern angestellten Verlosung erzählt wurde, dass sie unter sich die ganze Erde in bald größere, bald kleinere Lose verteilten, (113c) und sich Tempel erbauen und Opfer darbringen ließen: so bevölkerte auch Poseidon, dem jene Insel Atlantis zum Lose fiel, dieselbe mit seinen eigenen Nachkommen, die er mit einem sterblichen Weibe an einer folgendergestalt beschaffenen Stelle der Insel erzeugte.

An der Seeküste, gegen die Mitte der ganzen Insel, lag eine Ebene, die schöner und fruchtbarer als irgend eine gewesen sein soll. In der Nähe dieser Ebene aber, wiederum nach der Mitte zu, befand sich, allerwärts in einer Entfernung von etwa 50 Stadien, ein kleiner Berg; auf diesem wohnte aber ein Mann, (113d) Namens Euenor, aus der Zahl der anfänglich der Erde Entwachsenen, welcher die Leukippe zur Frau hatte. Beide erzeugten eine einzige Tochter, Kleito. Als das Mägdlein bereits die Jahre der Mannbarkeit erreicht hatte, starben ihr die Mutter und auch der Vater; Poseidon aber genoss, von Liebe zu ihr ergriffen, ihrer Umarmung,

[Atlantis: Die Abtrennung durch Wasserringe und die zwei Quellen]

und machte den Hügel, den sie bewohnte, zu einem wohlbefestigten, indem er ihn durch größere und kleinere Gürtel abgrenzte, von denen er, zwei dem Lande, drei dem Meere angehörig, alle nach allen Richtungen hin gleichweit entfernt, gleichsam von der Mitte der Insel aus beschrieb, (113e) so dass der Hügel für Menschen unzugänglich war, da es damals noch ebenso wenig Schiffe als Schiffahrt gab. Er selbst verlieh, als ein Gott, ohne Schwierigkeit, der in der Mitte liegenden Insel fröhliches Gedeihen, indem er zwei Flüsse aus dem Schosse der Erde herausführte, deren einer seiner Quelle warm, der andere kalt entquoll und der Erde Nahrungsmittel aller Art zur Genüge entsprießen ließ.

[Atlantis: Die fünf Zwillingspaare]

Ferner zeugte er fünf männliche Zwillingspaare, ließ sie auferziehen und verlieh, indem er die ganze Insel Atlantis in zehn Teile teilte, dem bei der ersten Niederkunft zuerst Geborenen (114a) den Wohnsitz seiner Mutter und den diesen rings umgebenden Anteil, als den größten und vorzüglichsten, und machte ihn zum König der Übrigen, die Übrigen aber zu Statthaltern; Jedem derselben bestimmte er eine Statthalterschaft mit zahlreichen Bewohnern und einem weiten Gebiete. Allen gab er Namen, dem Ältesten und Könige aber denjenigen, nach welchem auch die ganze Insel und das Meer genannt wurde, welches deshalb das Atlantische hieß, weil damals der erste König den Namen Atlas führte. (114b) Dessen nachgeborenen Zwillingsbruder, dem das äußerste nach den Säulen des Herakles, dem Landstriche, der jetzt der Gadeirische heißt, Belegene der Insel zugefallen war, benamsete er in griechischer Sprache Eumelos, in der des Landes aber Gadeiros, ein Name, der wohl zu jener Benennung (des Landstrichs) führen konnte. Den Einen der zweiten Zwillingsgeburt nannte er Amphéres, den Zweiten Euamon; den Erstgeboreneil der dritten Mneseus, den nach diesem Geborenen Autochthon; (114c) den Ältern der vierten Elasippos, den Jüngern Mestor; dem Erstling der fünften wurde der Name Azaës, dessen jüngerm Bruder der Diáprepes beigelegt.

[Atlantis: Herrschaftsbereich und Ansehen]

Diese insgesamt nun, sowie ihre Nachkommen, beherrschten viele Menschenalter hindurch noch viele andere im (Atlantischen) Meere belegene Inseln und dehnten auch, wie schon früher berichtet wurde, ihre Herrschaft über die diesseitigen, nach uns zu belegenen, bis nach Ägypten und Tyrrhenien hin aus.

(114d) Die Nachkommenschast des Atlas aber wuchs nicht bloß im Übrigen an Zahl und Ansehen, sondern behauptete auch die Königswürde viele Menschenalter hindurch, indem der Älteste sie stets auf den Ältesten übertrug, da sie eine solche Fülle des Reichtums erworben hatten, wie weder vorher bei irgend einem Herrschergeschlecht in den Besitz von Königen gelangt war, noch in Zukunft so leicht gelangen dürfte, und da bei ihnen für Alles gesorgt war, wofür in Bezug auf Stadt und Land zu sorgen Not tut.

[Atlantis: Importe und natürliche Ressourcen der Insel]

Denn vermöge ihrer Herrschaft floß von außenher ihnen Vieles zu, das Meiste für den Lebensbedarf aber lieferte ihnen die Insel selbst. (114e) Zuerst, was da an Starrem und Schmelzbaren durch den Bergbau gewonnen wird, vorzüglich aber die jetzt nur dem Namen nach bekannte, damals dagegen an vielen Stellen der Insel, ja an mehren als ihr Name besagt, aus der Erde hervorgezogene Gattung des Bergharzes (Messing), welche unter den damals Lebenden, mit Ausnahme des Goldes, am höchsten geschätzt wurde.

Ferner brachte die Insel auch Alles in reicher Fülle hervor, was der Wald für die Werke der Bauverständigen liefert, und an Tieren eine ausreichende Menge wilder und zahmer. Denn zunächst war das Geschlecht der Elefanten hier sehr zahlreich; bot sie doch sowohl den übrigen Tieren insgesamt, was da in Seen, Sümpfen und Flüssen lebt (115a) und was aus Bergen und in der Ebene hauset, reichliche Nahrung, als auch in gleicher Weise diesem von Natur größten und gefräßigsten.

Was ferner jetzt irgendwo die Erde an Wohlgerüchen erzeugt, an Wurzeln, Gräsern, Holzarten, Harzen und Blumen oder Früchten entquellenden Säften, das erzeugte außerdem auch sie, und ließ es wohlgedeihen, sowie desgleichen die durch Pflege gewonnenen Früchte; die Feldfrüchte, die uns zur Nahrung dienen, und Das, was wir außerdem – wir bezeichnen die Gattungen desselben mit dem Namen der Hülsenfrüchte – zu unserm Unterhalt benutzen; (115b) was Sträucher und Bäume an Speisen, Getränken und Salben uns bieten, die uns zum Ergötzen und Wohlgeschmack bestimmten, schwer aufzubewahrenden Baumfrüchte und was wir als Nachtisch dem Übersättigten, eine willkommene Auffrischung des überfüllten Magens, vorsetzen; dieses Alles brachte die heilige, damals noch von der Sonne beschienene Insel schön und wunderbar und in unbegrenztem Maße hervor.

[Atlantis: Brücken, Kanal zum Meer, überbrückte Durchstiche, Maße]

Da ihnen nun ihr Land dieses Alles bot, waren sie auf die Aufführung von Tempeln und königlichen Palästen, (115c) von Häfen und Schiffswerften sowie andern Gebäuden im ganzen Lande bedacht und schmückten es in solcher Aufeinanderfolge aus.

Zuerst überbrückten sie die um den alten Hauptsitz laufenden Gürtel des Meeres, um außen herum und nach der Königsburg Straßen zu führen. Diese Königsburg erbauten sie aber sogleich vom Anbeginn in diesem Wohnsitze des Gottes und ihrer Ahnen; indem aber der Eine von dem Andern dieselbe überkam, suchte er durch jedesmalige Weiterausschmückung des Wohlausgeschmückten seinen Vorgänger nach Kräften zu übertreffen, (115d) bis sie ihre Wohnung zu einem durch Umfang und Schönheit Staunen erregenden Bau erhoben.

Denn vom Meere aus führten sie einen 300 Fuß breiten, 100 Fuß tiefen und 50 Stadien (30,000 Fuß) langen Durchstich nach dem äußersten Gürtel, durch welchen sie der Hinauffahrt vom Meere nach ihm, wie nach einem Hafen, den Weg bahnten und ihr einen für das Einlaufen der größten Schiffe ausreichenden Raum eröffneten. Auch durch die Erdgürtel, welche zwischen denen des Meeres hinliefen, führten sie, an den Brücken hin, Durchstiche, breit genug, (115e) um einem Dreiruderer die Durchfahrt von dem einen zu dem andern zu gestatten, und überdachten dieselben, damit man unter der Überdachung hindurchschiffen könne; denn die Erdgürtelränder waren hoch genug, um über das Meer sich zu erheben.

Des größten Gürtels, mit welchem das Meer durch den Graben verbunden war, Breite betrug 3 Stadien (1800 Fuß); ebenso breit wie dieser war der solgende Erdgürtel. Von den beiden nächsten hatte der flüssige eine Breite von 2 Stadien (1200 Fuß), und der feste war wieder ebenso breit als der ihm vorausgehende flüssige. Ein Stadion breit war endlich der um die in der Mitte liegende Insel selbst herumlaufende, (116a) aus welcher die Königsburg sich erhob und welche 5 Stadien im Durchmesser hatte.

[Atlantis: Mauern, Türme, Tore, Schiffsgaragen, Farben]

Diese Insel, sowie die Erdgürtel und die 100 Fuß breite Brücke umgaben sie von beiden Seiten mit einer steinernen Mauer, und errichteten aus der Brücke, jederwärts beim Eintritt der See, Türme und Tore. Die Steine dazu aber – teils weiße, teils schwarze, teils auch rote – (116b) wurden unter der in der Mitte liegenden Insel und unter der Innen- und Außenseite der Gürtel gehauen, und beim Aushauen zugleich doppelte Behälter für die vom Felsen selbst überdachten Schiffe ausgehöhlt.

Zu den Bauten benutzten sie teils Steine derselben Farbe, teils fügten sie zum Ergötzen, um ein von Natur damit verbundenes Wohlgefallen zu erzeugen, ein Mauerwerk aus verschiedenartigen zusammen. Den ganzen Umfang der den äußersten Gürtel umgebenden Mauer versahen sie mit einem Überzuge von Kupfer, übergossen den des innern mit Zinn, (116c) den um die Burg selbst ausgeführten aber mit wie Feuer glänzendem Messing.

[Atlantis: Zwei Tempel, Bildsäulen, Erntedankkult]

Der Königssitz war, innerhalb der Burg, folgendergestalt auferbaut. Inmitten desselben befand sich ein unzugängliches, der Kleito und dem Poseidon geweihtes Heiligtum, ebenda, wo einst das Geschlecht der zehn Herrscher erzeugt und geboren wurde. Dahin brachten sie aus den zehn Landschaften jedem derselben der Jahreszeit angemessene Opfer. Der Tempel des Poseidon selbst (116d) war ein Stadion (600 Fuß) lang, 300 Fuß breit und von einer entsprechenden Höhe, seine Bauart fremdländisch. Von außen hatten sie den ganzen Tempel mit Silber überzogen, mit Ausnahme der mit Gold überzogenen Zinnen. Im Innern war die Wölbung von Elfenbein, mit Verzierung von Gold und Messing; alles Übrige, als Wände, Säulen, Fußboden, bedeckten sie mit Messing. Hier stellten sie goldene Standbilder aus; den Gott stehend, als eines mit sechs Flügelrossen bespannten Wagens Lenker, (116e) der vermöge seiner Größe der Wölbung Giebel erreichte; um ihn herum aus Delphinen hundert Nereiden, denn soviel, glaubte man damals, seien ihrer. Auch viele andere, von Männern aus dem Volke geweihte Standbilder befanden sich darinnen;

außerhalb aber umstanden den Tempel die goldenen Bildsäulen aller von den zehn Königen abstammenden Frauen und Männer, sowie viele andere Weihgeschenke der Könige und ihrer Bürger aus der Stadt selbst (117a) und dem außerdem ihrer Herrschaft unterworfenen Lande. Auch der Altar entsprach, seinem Umfange und seiner Aufführung nach, dieser Pracht, und ebenso war der königliche Palast angemessen der Größe des Reichs und angemessen der Ausschmückung der Tempel.

[Atlantis: Zwei Quellen bewässern Gärten, Bäder, Hain des Poseidon, Wasserkanäle]

So benutzten sie auch die Quellen, die kalt und warm strömenden, die einen reichen Zufluss an Wasser, durch seine Annehmlichkeit und andere Vorzüge wundersam zu beiderlei Gebrauch geeignet, hatten, indem sie dieselben mit Gebäuden und am Wasser gedeihenden Baumpflanzungen umgaben, (117b) sowie mit teils unbedeckten, teils für die warmen Bäder im Winter überdeckten Baderäumen, den königlichen abgesondert von denen des Volks, sowie denen der Frauen, geschieden von den Schwemmen der Pferde und anderes Zugviehs, diese alle mit einer der Bestimmung eines jeden angemessenen Einrichtung. Von dem abfließenden Wasser aber leiteten sie einen Teil nach dem Haine Poseidon's, den, vermöge der Trefflichkeit des Bodens, Bäume aller Art, von überirdischer Schönheit und Höhe, umfassten; den andern aber, vermittels neben den Brücken hinlaufender Kanäle, nach den Gürteln außerhalb,

[Atlantis: Heiligtümer, Gärten, Übungsplätze, Pferderennbahn]

(117c) wo vielen Göttern viele Tempel auferbaut waren, sowie viele Gärten und, wie für Menschen, so, davon geschieden, für Pferde aus jeder der beiden Inseln eingerichtete Übungsplätze, für welche (Pferde) unter anderm mitten aus der größten Insel eine Rennbahn abgegrenzt war, deren Breite ein Stadion betrug und welche ihrer Länge nach, zum Wettrennen der Pferde bestimmt, die ganze Insel umkreiste.

[Atlantis: Wohnungen der Leibwächter, Dreiruderer]

Zu beiden Seiten dieser Rennbahn befanden sich den (117d) gemeinen Leibwächtern bestimmte Wohnungen; die betrautern aber waren auf dem kleinern, der Königsburg nähern Gürtel als Wachtposten verteilt, und denjenigen, die durch ihre Treue vor allen andern sich auszeichneten, Wohnungen in der Burg, um die Könige selbst herum, angewiesen. Die Schiffswerften waren mit Kriegsschiffen und allem in befriedigendem Zustande befindlichen Zubehör eines solchen Schiffes angefüllt.

Solche Einrichtungen waren im Umkreise des Königssitzes getroffen.

[Atlantis: Stadtmauer und Stadt, Hafengewimmel]

Hatte man aber nach außen die Häfen, deren drei waren, überschritten, (117e) dann lief vom Meere aus eine Mauer rings herum, welche allerwärts vom größten (äußersten) Hafen und Gürtel 50 Stadien entfernt war und welche den Eingang zum Durchstich mit dem vom Meere in Eins verband. Diesen ganzen Raum nahmen zahlreiche und dicht gereihte Wohnhäuser ein; die Ausfahrt und der größte Hafen aber waren mit allerwärtsher kommenden Fahrzeugen und Handelsleuten überfüllt, welche bei solcher Menge, bei Tag und Nacht, Geschrei, Lärm und Getümmel aller Art erhoben.

So ward also jetzt ziemlich Dasselbe wie früher über die Stadt und die Umgebung des ursprünglichen Wohnsitzes berichtet.

[Atlantis: Ebene und Berge]

Aber wir müssen auch zu berichten versuchen, (118a) wie die Natur und die Art der Einrichtung des übrigen Landes beschaffen war.

Erstens also war, der Sage nach, die ganze Gegend vom Meere aus sehr hoch und steil, das die Stadt Umschließende dagegen durchgängig eine ihrerseits von bis an das Meer herablaufenden Bergen rings umschlossene Fläche und gleichmäßige Ebene, durchaus mehr lang als breit, nach der einen Seite zu 3000 Stadien lang, vom Meere aufwärts aber im Durchschnitt deren 2000 breit. (118b) Dieser Strich der ganzen Insel lief, nordwärts gegen den Nordwind geschützt, nach Süden.

Von den ihn umgebenden Bergen rühmte der Erzähler"), dass sie an Menge, Größe und Anmut alle jetzt noch vorhandenen übertrafen. Sie umfassten viele reiche Ortschaften der Umwohnenden, sowie Flüsse, Seen, Wiesen zu ausreichendem Futter für alles wilde und zahme Vieh, desgleichen Waldungen durch ihren Umfang und der Gattungen Verschiedenheit für alle Bauwerke und andere Zwecke vollkommen ausreichend.

[Atlantis: Kanäle um und in Ebene, Transport zu Wasser, zwei Ernten im Jahr]

(118c) Diese Ebene hatte sich nun von Natur und durch die Bemühungen einer langen Reihe von Königen, in langer Zeit dermaßen gestaltet. Sie bildete ein größtenteils rechtwinkeliges und länglichtes Viereck; was aber daran fehlte, war durch einen ringsherum aufgeworfenen Graben ausgeglichen. Obgleich aber Das, was von seiner Tiefe, Länge und Breite erzählt wird, für ein Menschenwerk, mit andern mühsamen Schöpfungen verglichen, unglaublich klingt, muss ich dennoch es berichten. Der Graben war nämlich bis zu einer Tiefe von 100 Fuß ausgeworfen, (118d) seine Breite betrug allerwärts ein Stadion und, da er um die ganze Ebene herumgeführt war, seine Länge 10,000 Stadien. Indem derselbe aber, die Ebene umschließend, die von den Bergen herabströmenden Flüsse in sich aufnahm und der einen und andern Seite der Stadt sich näherte, so ward ihm da der Ausfluss in das Meer eröffnet. Von den Höhen über ihn herab wurden wieder gerade, gegen 100 Fuß breite Durchstiche durch die Ebene nach dem dem Meere zuliegenden Graben geführt, deren einer von dem andern 100 Stadien entfernt war.

(118e) Auf diesem Wege brachten sie zu Schiffe das Bauholz nach der Stadt und andere Erzeugnisse der Jahreszeiten herunter, indem sie Durchfahrten von einem Durchstiche zum andern in schiefer Richtung sowie nach der Stadt zu eröffneten. Zwei Ernten brachte ihnen jährlich der Boden, den im Winter der Regen des Zeus befruchtete, während man im Sommer den Erzeugnissen desselben, von den Durchstichen aus, Bewässerung zuführte.

[Atlantis: Die Armee]

Was die Streiterzahl betraf, so war angeordnet, dass von den zum Kriege tauglichen Bewohnern der Ebene (119a) jeder Bezirk, dessen Flächenraum sich aus 10 mal 10 Stadien belief und deren überhaupt 60,000 waren, einen Feldhauptmann stelle; die Anzahl der von den Bergen und anderweitigen Landesstrichen her Kommenden wurde als unermesslich angegeben, und alle insgesamt waren, ihren Wohnorten und deren Lage nach, diesen Bezirken und Feldhauptleuten zugeteilt.

Jeder Feldhauptmann musste nach Vorschrift in das Feld stellen: zu 10,000 Streitwagen den sechsten Teil eines Streitwagens, zwei berittene Streiter, (119b) ferner ein Zwiegespann, ohne Wagenstuhl, welches einen leichtbeschildeten Streiter und nächst ihm den Lenker der beiden Pferde trug; zwei Schwergerüstete, an Bogenschützen und Schleuderern zwei jeder Gattung, so auch an Leichtgerüsteten, nämlich Steinwerfern und Speerschleuderern, von jeder drei; endlich vier Seesoldaten zur Bemannung von 1200 Schiffen. So war die Kriegsrüstung für den Herrschersitz des Königs angeordnet, für die neun übrigen Anderes anders, was anzugeben zu viel Zeit erheischen würde.

[Atlantis: Herrschaftssystem und Bundeskult]

(119c) In Beziehung auf Herrsch- und Strafgewalt waren von Anbeginn an folgende Einrichtungen getroffen. Jeder einzelne der zehn Könige übte in seiner Stadt Gewalt über die Bewohner seines Gebiets und über die meisten Gesetze; er bestrafte und ließ hinrichten wen er wollte. Aber die untereinander geübte Herrschaft und ihren Wechselverkehr bestimmte Poseidon's Gebot, wie das Gesetz es ihnen überlieferte und eine Schrift, von den ersten Königen aufgezeichnet aus einer messingenen Säule, (119d) welche in der Mitte der Insel in einem Tempel Poseidon's sich befand, wo sie sich das eine mal im fünften, das andere im sechsten Jahre, um der geraden und ungeraden Zahl gleiche Ehre zu erweisen, versammelten. Bei diesen Zusammenkünsten berieten sie sich über gemeinsame Angelegenheiten, untersuchten, ob Jemand einem Gesetze zuwider handle, und fällten sein Urteil.

Waren sie im Begriff, Urteile zu fällen, dann verpflichteten sie sich zuvor gegeneinander in folgender Weise. Nachdem die zehn Könige alle Begleitung entlassen hatten, jagten sie den im Weihbezirk Poseidon's freigelassenen Stieren (119e) mit Knitteln und Schlingen, ohne eine Eisenwaffe, nach, den Gott anflehend, sie das ihm wohlgefällige Opfer einfangen zu lassen; den eingefangenen Stier aber führten sie zur Säule und opferten ihn, angesichts jener Schrift, aus dem Knaufe derselben. Aus der Säule aber befand sich, außer den Gesetzen, eine schwere Verwünschungen über den ihnen den Gehorsam Verweigernden aussprechende Eidessormel.

(120a) Wenn sie nun, nachdem sie ihren eigenen Vorschriften gemäß das Opfertier geschlachtet, die Weihung aller Glieder des Stiers vornahmen, dann füllten sie einen Mischkrug und schleuderten für jedes Glied ein Klümpchen Bluts hinein, das Übrige aber trugen sie, nachdem sie ringsum die Säule reinigten, in das Feuer. Darauf schöpften sie mit goldenen Trinkschalen aus dem Mischkruge, gossen ihr Trankopfer in das Feuer und schwuren dabei, ihre Urteile den auf der Säule aufgezeichneten Gesetzen gemäß zu fällen und, wenn Jemand in Etwas dieselben übertreten habe, ihn zu bestrafen, in Zukunft aber in keinem Punkte das Aufgezeichnete zu übertreten, (120b) sowie, weder einen den Geboten des Vaters zuwiderlaufenden Befehl zu geben, noch einem solchen zu gehorchen. Nachdem Jeder von ihnen feierlich Solches sich selbst und seinen Nachkommen angewünscht, getrunken und die Schale in dem Tempel des Gottes geweiht hatte, sorgte er für seine Abendmahlzeit und anderer Bedürfnisse Befriedigung.

Wurde es nun finster und war das Opferfeuer niedergebrannt, dann legten Alle ein sehr schönes meergrünes Gewand an, ließen sich an der Brandstätte des beim Eidschwur dargebrachten Opfers nieder, und empfingen während der Nacht, nachdem sie alle Feuer um den Tempel herum ausgelöscht, wenn etwa Einer den Andern einer Gesetzesübertretung beschuldigte, Urteilssprüche und fällten sie. Diese von ihnen gefällten Urteilssprüche verzeichneten sie, sobald der Tag anbrach, auf einer goldenen Tafel und weiheten dieselbe, zusammt ihren Gewändern, zur Erinnerung.

Über die Ehrenrechte der einzelnen Könige gab es manche besondere Gesetze, vor Allem aber, Keiner solle gegen den Andern die Waffen erheben und Alle Beistand leisten, wollte etwa Jemand unter ihnen versuchen, in irgend einem Staate dem Königshause den Untergang zu bereiten. (120d) Nachdem sie aber, wie ihre Vorgänger, gemeinsam sich beraten, zeichneten sie das von ihnen über Krieg oder andere Unternehmungen Beschlossene auf und räumten dabei dem Atlantischen Geschlechte den Vorrang ein. Jedoch einen seiner Anverwandten zum Tode zu verurteilen, das solle, ohne Zustimmung des größern Teils der Zehn, in keines Königs Gewalt stehen.

[Atlantis: Tugend und Dekadenz, Vorausblick auf Krieg gegen Ur-Athen]

Die damals in jenen Gegenden in solchem Umfange und so geübte Herrschgewalt versetzte dagegen der Gott in unsere Lande, durch Folgendes, wie die Sage geht, dazu veranlasst. (120e) Viele Menschenalter hindurch, solange noch die göttliche Abkunft bei ihnen vorhielt, waren sie den Gesetzen gehorsam und freundlich gegen ihre Sippschaft göttliches Ursprungs; denn ihre Gesinnung war aufrichtig und durchaus großherzig, indem sie bei allen sie betreffenden Begegnissen sowie gegeneinander Weisheit mit Milde gepaart bewiesen. So setzten sie auf jeden Besitz, den der Tugend ausgenommen, geringen Wert, (121a) und ertrugen sonder Beschwer, jedoch als eine Bürde, des Goldes und anderes Besitztums Fülle. Üppigkeit berauschte sie nicht, noch entzog ihnen ihr Reichtum die Herrschaft über sich selbst, oder verleitete sie zu Fehltritten; vielmehr erkannten sie nüchtern scharfes Blicks, dass selbst diese Güter insgesamt nur durch gegenseitige mit Tugend verbundene Liebe gedeihen, dass aber durch das eifrige Streben nach denselben und ihre Wertschätzung diese selbst sowie jene (die Tugend) mit ihnen zu Grunde gehe. Bei solchen Grundsätzen und solange noch die göttliche Natur vorhielt, befand sich bei ihnen alles früher Geschilderte im Wachstum;

als aber der von dem Gotte herrührende Bestandteil ihres Wesens, häufig mit häufigen, sterblichen Gebrechen versetzt, verkümmerte und das menschliche Gepräge die Oberhand gewann: (121b) da vermochten sie bereits nicht mehr ihr Glück zu ertragen, sondern entarteten und erschienen, indem sie des Schönsten unter allem Wertvollen sich entäußerten, Dem, der dies zu durchschauen vermochte, in schmachvoller Gestalt; dagegen hielten sie die des Lebens wahres Glück zu erkennen Unvermögenden gerade damals für hochherrlich und vielbeglückt, wo sie des Vollgenusses der Vorteile der Ungerechtigkeit und Machtvollkommenheit sich erfreuten.

[Atlantis: Götterrat und Läuterungsstrafe]

Aber Zeus, der nach (ewigen) Gesetzen waltende Gott der Götter, erkannte, Solches zu durchschauen vermögend, dass ein wackeres Geschlecht beklagenswertes Sinnes sei, und versammelte, in der Absicht, sie dafür büßen zu lassen, (121c) damit sie, zur Besonnenheit gebracht, verständiger würden, die Götter insgesamt an dem unter ihnen vor Allem in Ehren gehaltenen Wohnsitze, welcher im Mittelpunkte des gesammten Weltganzen sich erhebt und alles des Entstehens Teilhaftige zu überschauen vermag, und sprach zu ihnen . . . . . . .



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