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Die dunkle Seite der Atlantisskepsis

Ein vergessener Aspekt der Atlantisfrage

Thorwald C. Franke
© 07. Oktober 2021

In unseren Tagen herrscht die Deutung von Platons Atlantis als einer Erfindung von Platon in der akademischen Wissenschaft vor. Atlantisskepsis ist sozusagen die Wahl der "hellen" Seite des Lebens. Eng verbunden mit dem guten Gefühl, auf der "hellen" Seite zu stehen, ist die Darstellung der Atlantisgläubigkeit als dunkel und gefährlich. Atlantisgläubige werden für verrückt gehalten und haben im Lauf der Geschichte sogar zu schlimmen Ereignissen beigetragen: War da nicht am Übergang von der Spätantike zum Mittelalter dieser seltsame Christ namens Kosmas Indikopleustes, der die Erde für eine Scheibe hielt und glaubte, dass die Atlantisgeschichte die Bibel paraphrasiert? Und hat nicht das spanische Kolonialreich die Eroberung Amerikas mit Atlantis gerechtfertigt? Und schließlich die Nazis, die in Atlantis die verlorene Heimat der reinrassigen Arier sahen, nicht wahr?

Aber da gibt es eine andere Seite der Geschichte. Eine dunkle Seite der Atlantisskepsis, über die Ihnen noch niemand etwas erzählt hat. Bis jetzt.

Es beginnt in den allerersten Jahrhunderten nach Platon. Zwar sind ihre Namen nicht bekannt, doch gab es von Anfang an Antiplatoniker, d.h. Andersdenkende, Neider und Spötter, die gegen Platons Philosophie agitierten. In ihrem Eifer griffen sie nach jedem Strohhalm, um eine Schmutzkampagne gegen Platon zu schüren. Zum Beispiel warfen sie Platon vor, er hätte seine politische Theorie von Ägypten abgekupfert. Im Zuge dieses Argumentes meinten sie, dass auch die Atlantisgeschichte nur eine Erfindung sein kann. Es war diese Schmutzkampagne, die den tapfern Platonisten Krantor dazu veranlasste, nach Ägypten zu reisen, wo er angeblich Belege für die Realität der Atlantisgeschichte fand. Auf diese Weise wurde die Atlantisskepsis aus einer Schmutzkampagne gegen Platons Philosophie heraus geboren, also gegen jene Philosophie, die die Grundlage unserer modernen Welt mit allem ist, was wir daran schätzen: Rationalität, Humanismus, Wissenschaft, usw.

Dann kamen die Christen. Oder besser: Gewisse Christen. Sie glaubten an ein Alter der Welt von nicht mehr als 6000 Jahren, und wo immer sie diese Zahl mit dem angeblichen Alter von Atlantis von 9000 Jahren verglichen, schlossen sie daraus, dass Atlantis eine Erfindung sein muss. Die Platoniker von damals, d.h. die Vertreter von Rationalität und Wissenschaft, versuchten gegen diesen Aberglauben zu argumentieren. Am bekannesten der Philosoph Kelsos. Seine Argumente sind in dem Pamphlet Contra Celsum des christlichen Philosophen Origenes erhalten geblieben. Hier sehen wir also Atlantisskepsis im Dienste religiösen Aberglaubens.

Im Mittelalter begann der Atlantisglaube wieder zu blühen, zum Beispiel in der Schule von Chartres, die sich Platon verpflichtet fühlte. Man hielt sogar ein Alter der Welt von 15000 Jahren für möglich. Aber all das endete im 13. Jahrhundert. Nein, der Grund war nicht, dass Platon durch Aristoteles als dem führenden Philosophen des Mittelalters abgelöst wurde. Anders als viele immer noch glauben, sprach sich Aristoteles nicht gegen Atlantis aus. Es handelt sich um einen kollektiven Irrtum, der sich erst seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelte. Es war also etwas anderes. Es war die Verschärfung der kirchlichen Inquisition, die die Atlantisskepsis bevorzugte, erneut aus demselben Grund wie schon zuvor: Denn nach ihrer Deutung der Bibel war die Welt nur 6000 Jahre alt. Auf diese Weise war die Atlantisskepsis eng mit den Schrecken der Inquisition verbunden.

Als Kolumbus Amerika entdeckte, reklamierten die Spanier die Neue Welt schnell als ihren Besitz, denn es war eine Spanische Expedition, die sie zuerst entdeckt hatte. Das Recht des ersten Entdeckers war damals eine anerkannte Begründung für koloniale Ansprüche. Doch Spekulationen über Atlantis gefährdeten diese Ansprüche. Denn wenn Atlantis einst eine Brücke nach Amerika bildete, oder wenn Amerika selbst Atlantis war, dann war die Neue Welt schon vor der Entdeckung durch Kolumbus bekannt und die Ansprüche auf der Grundlage des Rechtes des Erstentdeckers wären gegenstandslos gewesen. Deshalb wies der offizielle Historiker der spanischen Eroberung der Neuen Welt, Antonio de Herrera y Tordesillas, die Idee, dass Amerika Atlantis war, im Jahr 1601 explizit zurück und degradierte Atlantis zu einer bloßen Fabel. Dasselbe tat der offizielle Spanische Kolonialjurist für Amerika Juan de Solórzano Pereira im Jahr 1629. Auf diese Weise wurde die Atlantisskepsis als die offizielle Doktrin des Spanischen Imperiums durchgeboxt, im Dienste kolonialer Ansprüche.

Mit dem Ende des Mittelalters erlebten Rationalität und Wissenschaft einen erneuten Aufstieg, und die Gelehrten begannen wieder dafür zu argumentieren, dass die Welt älter als nur 6000 Jahre ist. Unter diesen war auch Isaac La Peyrère, der im Jahr 1655 zu behaupten wagte, dass es auch schon vor Adam und Eva Menschen gegeben hätte. Eines seiner Argumente war das Alter von Platons Atlantis von 9000 Jahren. Sein Werk wurde umgehend durch die Kirche verurteilt und der Autor ins Gefängnis gesteckt. Kurz darauf musste La Peyrère seine Meinung widerrufen. Auf diese Weise hatte die Atlantisskepsis einmal mehr einen Sieg davongetragen.

Im Jahr 1680 argumentierte Carlos de Sigüenza, dass die amerikanischen Indianer gleichwertig wie die Europäer zu behandeln seien, weil sowohl Indianer als auch Europäer von gemeinsamen Vorfahren in Atlantis abstammen würden. Auch hätten die Indianer in der Neuen Welt Hochkulturen hervorgebracht, die denen in der Alten Welt nicht nachstünden. Als Beleg verwies er auf die Pyramiden in beiden Erdteilen. – Diese Hypothese war von einem klaren humanistischen Impuls geleitet, und sie war zu ihrer Zeit auch nicht pseudowissenschaftlich, denn die Wissenschaft erkannte erst sehr viel später, dass diese Hypothese falsch sein muss. Dennoch wird Sigüenza von modernen Atlantisskeptikern gerne als der Prototyp eines Spinners und Pseudowissenschaftlers dargestellt. Manche sehen in ihm sogar einen Rassisten. In ihrem Eifer übersehen diese Atlantisskeptiker vollkommen den humanistischen Impuls von Sigüenza, und auch, dass Sigüenza doch gar nicht so falsch lag: Denn natürlich haben Europäer und Indianer gemeinsame Vorfahren. Nur dass der gemeinsame Ursprungsort nicht Atlantis war. Auf diese Weise verdunkelt die Atlantisskepsis das Erbe eines großen Humanisten.

Am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert wurde der erste Schritt getan, um die Atlantisskepsis in der akademischen Wissenschaft als vorherrschende Doktrin zu etablieren. Denn bis dahin waren die Meinungen geteilt. Es waren die sogenannten Göttinger Empiristen und Materialisten, die die Grundlage für die akademische Atlantisskepsis legten. Unter ihnen waren Gelehrte wie Johann Georg Heinrich Feder, Christoph Meiners oder Michael Hißmann. Ihnen allen gemeinsam war ihre Tendenz zu Empirismus und Materialismus und ihre Zurückweisung von Rationalismus und Humanismus, die in einem rücksichtslosen Sozialdarwinismus gipfelte. Das bedeutete, dass sie Platon und Platons Philosophie klar ablehnten. Es handelte sich um Antiplatoniker, soviel steht fest. Diese Leute waren nicht die geeigneten Personen, um Platon richtig zu interpretieren. Auf diese Weise wurde die Atlantisskepsis erneut in einem engen Zusammenhang mit Antiplatonismus vorangetrieben.

In der Mitte des 19. Jahrhunderts setzte der deutsche klassische Philologe Franz Susemihl die Atlantisskepsis endgültig in der deutschen Wissenschaft durch. Er behauptete einfach, dass es angeblich eine Traditionslinie von Atlantisskeptikern, beginnend mit den Göttinger Empiristen und Materialisten, gegeben habe, die die Atlantisskepsis Schritt für Schritt etabliert hätten. Aber das stimmt nicht. Das behauptete er einfach. Und seine eigene Deutung von Platon war zutiefst romantisch. Für ihn war Platon nicht der Begründer des Rationalismus, sondern ein Künstler und Poet, der sich in Mythen ausdrückte, die immer ein Geheimnis verbargen. Die romantische Seele verlangt, dass Geheimnisse Geheimnisse bleiben, und Mythen Mythen. Genauso wie die berühmte "Blaue Blume" der Romantik, so musste auch Atlantis im Reich von Mythos und Geheimnis verbleiben. Der Gedanke, dass Atlantis ein realer Ort war, stellte für romantische Gefühle ein Sakrileg dar. Auf diese Weise stand die Atlantisskepsis im Dienst der anti-rationalen Romantik.

Im 19. Jahrhundert gab es verschiedene Hypothesen darüber, wer die Erbauer der indianischen Mounds in Amerika waren. Viele dieser Hypothesen glaubten nicht, dass die Indianer bzw. deren Vorfahren die "Mound builder" waren, sondern vermuteten eine Besiedlung Amerikas vor den Indianern. Manche dieser Hypothesen waren rassistisch motiviert bzw. wurden für rassistische Motive missbraucht, um den Indianern ihr Existenzrecht in Amerika streitig zu machen. Aber nur wenige glaubten, dass die "Mound Builder" von Atlantis bzw. über Atlantis als Landbrücke gekommen und nicht die Vorfahren der Indianer waren, so z.B. Josiah Priest 1833. Die meisten Rassisten missbrauchten nicht Atlantis, sondern andere Hypothesen. Im Gegenteil: Die meisten, die über Atlantis spekulierten, glaubten, dass die "Mound Builder" einst von Atlantis kamen und zugleich die Vorfahren der Indianer waren. So z.B. Rafinesque-Schmaltz 1836, David Baillie Warden 1836, Brasseur de Bourbourg 1862/1864, John Denison Baldwin 1869, Lafcadio Hearn 1876, John Thomas Short 1880 oder Ignatius Donnelly 1882. Auch wenn diese Idee natürlich völlig falsch ist, hatte sie doch einen humanistischen Aspekt: Denn damit wurde anerkannt, dass die "Mound Builder" tatsächlich die Indianer bzw. deren Vorfahren waren.

Doch leider werfen viele moderne Atlantisskeptiker alles in einen Topf. Ihnen genügt die Feststellung der Pseudowissenschaftlichkeit der These, um daraus direkt und ohne Umschweife auf alle nur erdenklichen rassistischen Motive zu schließen. Sie sehen keinen Unterschied zwischen dem Rassisten Josiah Priest und z.B. John Thomas Short ("... leads us to the truth that God 'hath made of one blood all nations of men.' ") oder Ignatius Donnelly, der zu seiner Zeit ein sehr progressiver Politiker war. Auf diese Weise zeichnet die Atlantisskepsis vor lauter Eifer einmal mehr ein viel zu schwarzes Bild der Wirklichkeit. Manche radikale Atlantisskeptiker gehen sogar soweit zu behaupten, dass das Thema Atlantis an sich – unabhängig von Kontext und Perspektive – rassistisch sei, um damit eine linksradikale politische Agenda zu befördern. Auf diese Weise ist es nun die radikale Atlantisskepsis selbst, die damit begonnen hat, politisch motivierte Pseudowissenschaft zu produzieren, obwohl das ursprüngliche Ziel die Bekämpfung der Pseudowissenschaft war.

Und schließlich waren da "die Nazis", diese späten Kinder der Romantik, deren Geisteshaltung starke Ähnlichkeiten zu vielen Ideen der Göttinger Empiristen und Materialisten aufweist. Jeder weiß, dass Heinrich Himmler an ein pseudowissenschaftliches Atlantis glaubte, als eine von vielen verrückten Ideen. Aber Himmlers private Lieblingstheorien repräsentierten den Nationalsozialismus nicht als solchen. Solange Adolf Hitler an der Macht war, fuhren deutsche klassische Philologen damit fort, Atlantis in ihren Publikationen zur Erfindung zu erklären. Auch Nazi-Karrieristen wie der Philosoph Kurt Hildebrandt taten das. Und die Lehrpläne der Schulen erwähnten Atlantis nicht. Und dann hielt Adolf Hitler im Jahr 1936 eine Rede, in der er Atlantisgläubige verspottete, und zwar im Zusammenhang mit dem Bauprojekt "Böttcherstraße" in Bremen, zu dem auch ein "Haus Atlantis" gehörte: "Wir haben nichts zu tun mit jenen Elementen, die den Nationalsozialismus nur vom Hören und Sagen her kennen und ihn daher nur zu leicht verwechseln mit undefinierbaren nordischen Phrasen, und die nun in irgendeinem sagenhaften atlantischen Kulturkreis ihre Motivforschungen beginnen. Der Nationalsozialismus lehnt diese Art von Boettcher-Straßen-Kultur schärfstens ab." Das Tonband gibt das Gelächter des nationalsozialistischen Publikums wieder. Atlantisskepsis war enger mit dem Nationalsozialismus verbunden als Sie vielleicht geglaubt haben.

Heute gibt es populärwissenschaftliche Bücher und TV-Dokumentationen über Atlantis, die sich von der gruseligen Faszination nähren, eine Verbindung "der Nazis" mit Atlantis zu ziehen. Indem sie den pseudowissenschaftlichen Fetisch eines angeblichen Atlantisglaubens hinter der NS-Ideologie schaffen, blenden diese Bücher und Dokumentationen die wahren Gründe für die Verbrechen des Nationalsozialismus aus, zu denen u.a. ein romantischer Anti-Rationalismus, ein pseudowissenschaftlicher Biologismus und ein rücksichtsloser Sozialdarwinismus gehören. Das Publikum über das wahre Wesen des Nationalsozialismus und die wahren Gründe seiner Verbrechen fehlzuleiten, ist geradezu unverantwortlich, und diese Verantwortungslosigkeit ist eng mit einer radikalen Atlantisskepsis verbunden, die "die Nazis" nur zu gerne als Atlantisgläubige sieht, obwohl sie es nicht waren.

Was können wir aus all dem lernen? Sicher nicht, dass Atlantisskepsis falsch ist oder dass sie verurteilt werden sollte, nur weil sie für dies und das missbraucht wurde und wird. Was wir lernen können ist, dass Differenzierung immer notwendig ist, und dass nichts sich von selbst versteht. Und vielleicht können wir auch lernen, dass der Gedanke von Atlantis als einem realen Ort weder so dunkel noch so dumm ist, wie es uns die üblichen Pauschalurteile glauben machen wollen. Es hat immer ernsthafte Gelehrte gegeben, die von der Realität von Platons Atlantis ausgingen. Jeder hat z.B. schon von der Hypothese gehört, dass die Minoische Kultur Atlantis gewesen sein könnte. Obwohl das falsch sein könnte, ist es doch weder dumm noch dunkel. Ohne Differenzierung gibt es keine Rationalität. Und es ist die rationale Methode, die uns "helle" sein lässt, nicht die Meinungen, die wir haben.

Offenlegung

Der Autor dieses Artikels ist ein Privatforscher ohne akademische Grade in antiker Philosophie, Philologie, Archäologie oder Geschichte. Er betrachtet Platons Atlantis als einen realen Ort im Mittelmeerraum um das Jahr 1200 v.Chr.

Bibliographie

Thorwald C. Franke, Kritische Geschichte der Meinungen und Hypothesen zu Platons Atlantis – von der Antike über das Mittelalter bis zur Moderne, 2. Aufl. in zwei Bänden, Verlag Books on Demand, Norderstedt 2021. Erste Auflage war 2016 in einem Band.
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