Wir alle kennen das Phänomen: Immer wieder werden neue Versuche unternommen, die Frage nach Atlantis endgültig zu klären, aber nur manchmal noch nehmen die Medien Notiz davon. Denn keiner dieser Versuche konnte bislang überzeugen. Ob ein Atlantis-Skeptiker die Erfindung von Atlantis durch Platon endgültig bewiesen bzw. ob ein Atlantis-Sucher Atlantis irgendwo gefunden haben will – die Rechnung geht nie ganz auf, und die Suche nach der Lösung des Atlantis-Rätsels scheint ewig weiterzugehen. Ein Grund dafür scheinen gewisse typische Irrtümer und Denkfehler zu sein, die den Atlantis-Forschern immer wieder unterlaufen. Das Atlantis-Problem entpuppt sich als ein wahres Labyrinth von verschlungenen Denkwegen, gespickt mit den subtilsten Denkfallen.
Die naheliegendsten Interpretationsfehler ergeben sich, wenn man Platons Atlantis-Dialoge „Timaios“ und „Kritias“ Wort für Wort für bare Münze nimmt. Demzufolge wäre Atlantis ein zivilisierter Kleinkontinent im Atlantik gewesen, der dort um 10000 v. Chr. existiert hätte [1]. Die Unmöglichkeit dieser Annahme ist leicht gezeigt: 10000 v. Chr. wäre eine Zivilisation wie das von Platon beschriebene Atlantis auch nicht ansatzweise denkbar gewesen, und die modernen Erkenntnisse über geologische Vorgänge und die Beschaffenheit des Meeresboden schließen einen versunkenen Kleinkontinent kategorisch aus.
Doch schon lauert der nächste Denkfehler: Wenn der Atlantis-Bericht in diesen nicht unwichtigen Punkten nicht stimmen kann, dann muss er eben als ganzes falsch sein, meinen viele [2]. Doch hier belehrt uns die überlieferte antike Literatur eines besseren: Die Angaben Platons bewegen sich nämlich durchaus im damals üblichen Maß des Irrtums. So hält z.B. Herodot die ägyptische Kultur für älter als 11000 Jahre, was die 9000 Jahre von Atlantis plötzlich ganz gewöhnlich erscheinen lässt. Bis jetzt ist jedenfalls noch niemand auf die Idee gekommen, Ägypten für komplett inexistent zu erklären, nur, weil Herodot sich im Alter Ägyptens geirrt hat.
Auch die geographischen Angaben Platons sind raffinierter, als es auf den ersten Blick scheint. So schreibt Platon nicht direkt, dass Atlantis westlich der Meerenge von Gibraltar gelegen habe, die zu seiner Zeit „Säulen des Herakles“ hieß. Vielmehr lässt Platon den ägyptischen Priester eine wörtlich nicht wiedergegebene Ortsangabe im ägyptischen Atlantis-Bericht in den griechischen Begriff „Säulen des Herakles“ übersetzen [3]. Doch wer weiß schon, wie der geographische Horizont der Menschen aussah, die den Atlantis-Bericht – so Platon – einstmals in die ägyptischen Annalen hineingeschrieben haben?
Gewiss: Ein Beweis für die Existenz von Atlantis ist das noch lange nicht, doch können wir eines daraus lernen: Die Atlantis-Frage ist nicht im Handumdrehen zu lösen. Zurückhaltung ist angesagt, die Atlantis-Frage ist eine offene Frage.
Leider haben für solche Feinheiten oft weder Atlantis-Sucher noch Atlantis-Skeptiker ein Gespür. Statt dessen flüchten sie sich in Argumentationen, die ihre vorgefassten Meinungen stützen. Atlantis-Sucher erfinden meist Dinge hinzu, die sich im platonischen Urtext gar nicht finden lassen. Häufig glauben sie, sich auf andere Quellen stützen zu können, ohne einen Bezug dieser anderen Quellen zu Platons Atlantis-Dialogen nachzuweisen. So tauchen dann plötzlich vom Himmel stürzende Planetoiden, Flugmaschinen, Energiekristalle, goldene Kuppeln, Pyramiden, Außerirdische und dergleichen auf [4].
Aber auch Atlantis-Skeptiker lesen aus Platons Dialogen Dinge heraus, die dort gar nicht vorhanden sind. So versuchen sie z.B. zu zeigen, dass Atlantis von Platon als eine Art antikes Schlaraffenland beschrieben wird. Sie sind davon überzeugt, dass Platon einfach so dick aufgetragen hat, dass die Erfindung gar nicht zu übersehen sei. Doch hilft hier wieder ein Vergleich zu Herodot: Platons Atlantis ist zwar ein recht gut ausgestattetes Gemeinwesen, doch ragt es nicht über die damaligen Verhältnisse hinaus. Was Herodot über die Länder seiner Zeit schreibt, übertrifft den Atlantis-Bericht sogar vielfach [5].
Andere Atlantis-Skeptiker wollen in Atlantis eine Anspielung auf das Perserreich sehen. Sie stützen diese Auffassung z.B. auf die Streitwagenarmee und die Stadtanlage von Atlantis. Doch auch hier haben sie Dinge gesehen, die nicht vorhanden sind. So fehlen originär persische Streitwagen in Herodots Beschreibungen der Perserkriege völlig. Lediglich die Völker von den äußersten Rändern des Perserreiches, Inder und Libyer, bringen einige zahlenmäßig unbedeutende Streitwagen mit, die in sämtlichen Schlachtbeschreibungen Herodots nicht die geringste Erwähnung finden. Die später bei Xenophon erwähnten Sichelstreitwagen finden sich hingegen in Platons Atlantis-Bericht nicht wieder, obwohl Platon sogar nicht nur von einem, sondern gleich von zwei Typen von Streitwagen in Atlantis schreibt.
Statt einer Streitwagenarmee hätte man bei einer von Platon gewollten Anspielung auf Persien eher einen Hinweis auf die Elitetruppe der sogenannten „Unsterblichen“ erwarten können. Die Wahrnehmung der persischen Armee zur Zeit der Perserkriege wurde maßgeblich durch die „Unsterblichen“ bestimmt. Doch ein solcher Hinweis fehlt.
Auch bei Betrachtung der Stadtanlagen versagt der Vergleich von Atlantis mit dem Perserreich völlig. Gerne versucht man die sieben Mauerringe von Ekbatana mit den drei Land- und Wasserringen von Atlantis zu vergleichen. Doch sieben Mauerringe und drei Land- und Wasserringe sind nun einmal überhaupt nicht dasselbe. Vor allem, wenn die Farben der Mauern – anders, als vielfach behauptet – ganz und gar nicht übereinstimmen, ebenso, wie auch die Beschreibung des Stadtzentrums nicht übereinstimmt. Eine gewisse, erkennbare Übereinstimmung sollte man schon erwarten können, wenn man von einer Anspielung ausgeht.
Dasselbe gilt für Babylon: Hier gibt es sogar nur einen Mauerring, und das Stadtzentrum ist – wenn wir Herodot folgen – zweigeteilt, während sich in Atlantis alles in der Mitte der Stadt konzentriert. Wesentliche charakteristische Eigenschaften der Stadt Babylon fehlen im Atlantis-Bericht völlig, so z.B. die hundert erzenen Tore oder das besondere Aussehen des babylonischen Stufentempels. Auch im Falle Babylons kann eine Entsprechung zu Atlantis sicher ausgeschlossen werden.
Um alle Eigenschaften von Platons Atlantis abdecken zu können, ziehen manche Atlantis-Skeptiker immer mehr und mehr Städte zum Vergleich heran, bis man am Ende in Atlantis so ziemlich jede antike Stadt erkennen können soll: Ekbatana, Babylon, Karthago, Syrakus, Troja, Scheria, Athen, Tartessos usw. usf. [6] Es liegt auf der Hand, dass dies eine Sackgasse im Atlantis-Labyrinth ist.
Ein besonders beliebter Irrtum auf Seiten der Atlantis-Sucher ergibt sich durch die Gleichsetzung des Titans Atlas aus der griechischen Mythologie mit dem König Atlas von Atlantis, sowie der Erwähnung eines Volkes der „Atlanten“ bei Herodot. Was auf den ersten Blick einleuchtend erscheint, ist in Wahrheit völlig abwegig. Es gibt keine erkennbare Verbindungslinie zwischen beiden Sachverhalten. Gehen wir ins Detail:
Wir haben es einerseits zu tun mit dem König Atlas eines im Westen gelegenen Inselreiches, einem Sohn des Poseidon, einer Person, die in einem Dialog Platons als reale und geschichtliche Person beschrieben wird. Die geschichtliche Fassbarkeit dieses Inselreich wird durch den Eroberungsfeldzug gegen Ägypten und die saitische Überlieferung zusätzlich unterstrichen. Der Name Atlas ist dabei unsicher, da er von Solon aus dem ägyptischen oder gar direkt der Sprache dieses Inselreiches ins Griechische übertragen (übersetzt?) wurde. Nach diesem König Atlas wird dessen Inselreich und das es umgebende Meer benannt (Atlantis = „des Atlas“). Weder werden bei Platon die Bewohner des Inselreiches des Atlas „Atlanter“ oder „Atlanten“ genannt. Die wirklichen Namen von Insel, Stadt und Volk des Königs Atlas sind uns völlig unbekannt. Soweit zu Platons König Atlas.[*]
Andererseits haben wir es zu tun mit dem Titanen und Himmelsträger Atlas im äußersten Westen der Welt, Sohn eines Titanen und einer Okeanide, eine mythologische Person, deren Mythos keinerlei geschichtliche Anknüpfungspunkte erkennen lässt, wie es z.B. der Sagenkreis um Herakles vielleicht noch zuließe. Von einem „Reich“ des Titanen Atlas ist nirgendwo die Rede. Der Titan Atlas ist vielmehr zur Strafe in seine Position als Himmelsträger gekommen und kann nicht als Herrscher gedacht werden.
Nach diesem Titanen Atlas ist später sowohl das Atlas-Gebirge als auch der Atlantik benannt worden. Beide Ersterwähnungen dieser Bezeichnungen finden sich bei Herodot [7]. Beim Meer ist dies einfach zu zeigen: Es wird als das Meer „des Atlas“ apostrophiert, ohne dass „Atlas“ näher bezeichnet würde; dies muss zwangsläufig auf den Titanen hinweisen, denn nur dieser und nichts anderes ist jedem griechischen Leser geläufig. Auch beim Atlas-Gebirge verhält es sich so.
Wie bei Herodot üblich werden die Berichte über Völker immer mythischer, je näher seine Beschreibungen sich den Enden der Erde nähern. Dies ist auch bei der Auflistung der Völker Nordafrikas von Ost nach West der Fall, wie zahlreiche Attributierungen (Berge stets wolkenverhangen, keine Träume) klar zeigen, sowie die sich an eine örtliche Gegebenheit anlehnende, funktionale Benennung des Volkes der Atlas-Bewohner. Nach dem Gebirge also, das seinen Namen vom Titanen Atlas bezieht, sind die Atlanten bei Herodot benannt, es sind schlicht die Bewohner des Atlas, so wie die „Älpler“ die Bewohner der Alpen sind.
Herodot weiß um die Unsicherheit seiner Informationen zu fernen Ländern und versieht sie hie und da mit generellen Warnhinweisen. Die funktionale Interpretation des Berges als „Himmelssäule“ und die dazu passende Benennung „Atlas“ sind wohl der mythischen Erwartungshaltung der griechischen Denkwelt geschuldet; vermutlich hat hier das Phänomen des blumenreich plaudernden Fremdenführers Platz gegriffen: Herodot bekam eine Geschichte aufgetischt, passend zugeschnitten für einen Griechen.
Während sich die Atlantis-Forscher an solchen sprachlichen Oberflächlichkeiten aufhalten, ist ihnen ein geographischer Selbstwiderspruch in Platons Atlantis-Dialogen völlig entgangen: An manchen Stellen geht der Text von einem zu Platons Zeiten bereits veralteten zweigliedrigen Weltbild aus, d.h. die Welt wird in die beiden Kontinente Europa und Asien geteilt, wobei Afrika zu Asien gezählt wird. An anderen Stellen hingegen steht ein dreigliedriges Weltbild im Hintergrund, in dem Afrika als eigenständiger Kontinent gezählt wird (Atlantis sei „größer als Asien und Libyen zusammen“). Es scheint also doch so zu sein, dass der Atlantis-Bericht auf eine ältere Quelle zurückgeht und damit keine reine Erfindung von Platon ist.
Doch meinen die Befürworter der Erfindungshypothese, den Atlantis-Bericht als einen sogenannten „Platonischen Mythos“ einordnen zu können [8]. Damit meinen sie einen von Platon erfundenen Kunstmythos, der dessen Philosophie allegorisch illustrieren soll. Aber der Atlantis-Bericht will nach Form und Inhalt so gar nicht einem allegorisch-illustrativen Kunstmythos entsprechen. Auch stützt sich die Argumentation der Atlantis-Dialoge zu direkt auf den Wahrheitsgehalt des Atlantis-Berichtes, so dass es schwer fällt, ihn für eine unwahre Erfindung zu halten [9].
Was völlig verwundert ist die Tatsache, dass Atlantis-Forscher in aller Regel keine genaueren Vorstellungen von der ägyptischen Kultur zu haben scheinen, soll doch der Atlantis-Bericht laut Platon aus Ägypten stammen. Statt dessen haben Atlantis-Sucher häufig sehr schwärmerische Begriffe von Ägypten, während Atlantis-Skeptiker eine Beschäftigung mit Ägypten für überflüssig halten, weil ja ohnehin alles nur eine Erfindung Platons sei [10].
Was läge also näher, als den Atlantis-Bericht und seinen Überlieferungsweg über Solon vor dem Hintergrund ägyptologischer Erkenntnisse zu überprüfen? So ist z.B. die Zeit der saitischen Pharaonen gut erforscht, in der Solon den Atlantis-Bericht angeblich erhalten haben soll [11]. Herodot ist eine der besten geschichtlichen Quellen für diese Epoche. Tatsächlich fügt sich der Bericht vom Besuch Solons in Sais gut in das Schema der damaligen Zeit ein. Könnte Platon das alles so erstaunlich gut erfunden haben?
Aber auch die Altersangabe von 9000 Jahren steht in einer besonderen Beziehung zu Ägypten, wie wir oben bereits gesehen haben. Was Herodot über ägyptische Annalen berichtet und was moderne Forschung davon bestätigen kann, liefert wichtige Beiträge zur Klärung des Atlantis-Problems.
Eine der „ägyptischen“ Fragen wollen wir noch etwas näher betrachten: Bekanntlich war auch Herodot in der Stadt Sais, aus deren Neith-Tempel der Atlantis-Bericht angeblich stammen soll. Und auch Herodot sprach dort mit einem Priester. Doch er erfuhr nichts über Atlantis. Manche schließen daraus, dass in Sais nichts über Atlantis zu erfahren gewesen wäre. Doch ist dies wieder ein viel zu kurzer Schluss.
Herodot kam nicht als Staatsgast wie Solon nach Sais und hatte einen sichtlich wenig kompetenten Priester als Gesprächspartner. Zudem fragte Herodot diesen Priester nicht nach geschichtlichen Dingen, sondern nach den Quellen des Nils. Darüber hinaus sollte man bedenken, dass Herodot auch von vielen anderen wichtigen Ereignissen der ägyptischen Geschichte nichts erfährt, so z.B. kein Wort über die Seevölkerkriege. Da verliert sich dann die Aussagekraft der Erkenntnis, dass Herodot in Sais nichts über Atlantis erfährt, schnell.
Wir haben nun einige prominente Winkel des Labyrinths der Atlantis-Problematik ausgeleuchtet. Wir konnten dabei sehen, dass sich der Atlantis-Bericht allzu geradlinigen Interpretationen hartnäckig entzieht. Was fehlt ist eine echte Lösung des Atlantis-Rätsels. Doch haben wir einige wichtige Schritte auf dem Weg zu einer solchen Lösung getan: Je mehr Irrwege und Sackgassen verworfen werden können, desto mehr könnte sich am Ende der wahre Weg durch das Atlantis-Labyrinth hin zu einer Antwort auf die Frage nach Atlantis herausschälen. Wir dürfen gespannt sein!
[1] Vgl. z.B. Otto H. Muck, Atlantis – gefunden – Kritik und Lösung des Atlantis-Problems, 1954; und Charles Berlitz, The Mystery of Atlantis, 1976.
[2] So z.B. Heinz-Günther Nesselrath, Platon und die Erfindung von Atlantis, 2002.
[3] Timaios 24e.
[4] Vgl. z.B. Murry Hope, Atlantis – Myth or Reality?, 1991.
[5] Vgl. z.B. Th. C. Franke, Mit Herodot auf den Spuren von Atlantis, 2006.
[6] Vgl. z.B. Pierre Vidal-Naquet, L’Atlantide – Petite histoire d’un mythe platonicien, 2005.
[7] Herodot I 202 und IV 184.
[8] Vgl. z.B. Nesselrath und Vidal-Naquet a.a.O.
[9] Vgl. z.B. Wilhelm Brandenstein, Atlantis – Größe und Untergang eines geheimnisvollen Inselreiches, 1951; und Massimo Pallottino, Atlantide, Archeologia Classica Nr. 4/1952, S. 229-240.
[10] Eine löbliche Ausnahme ist John V. Luce, vgl. z.B. Edwin S. Ramage (Hrsg.), Atlantis – Fact or Ficton?, 1978.
[11] Vgl. z.B. Jan Assmann, Weisheit und Mysterium, 2000.
[*] Der Original-Artikel enthielt den Fehler, dass Platon den Atlantik nicht nach dem (König!) Atlas benannt hätte, doch er tut dies doch, wenn auch mit einer anderen grammatikalischen Form als Herodot. Missverständlich in diesem Paragraph war auch eine Aussage zum Namen der Stadt. Verbessert Feb 2014.