Kenneth L. Feder ist Professor für Archäologie an der Central Connecticut State University und Autor des Buches Frauds, Myths, and Mysteries – Science and Pseudoscience in Archaeology. Dieses Buch liegt derzeit in der 10. Auflage vor und machte Feder weit über die Kreise seines Fachs hinaus bekannt, so dass er zu unzähligen Interviews eingeladen wurde und an zahlreichen Fernsehdokumentationen mitwirkte. Der Ruhm ist wohlverdient: Frauds, Myths, and Mysteries ist in der Tat ein sehr intelligentes und wertvolles Buch über die Grundlagen der Wissenschaft und der Archäologie, in dem viele berühmte Betrugsfälle und Irrtümer im Bereich der Archäologie detailliert erklärt werden. Hinzu kommt, dass Kenneth Feder auch menschlich überzeugt: Verglichen mit manchen Radikalisierungen im Namen der Identitätspolitik finden sich in Feders Buch viel Maß und Milde, so dass der Leser nicht nur zur Vernunft, sondern auch zur Menschlichkeit erzogen wird – beides gehört untrennbar zusammen.
Leider ist das Kapitel über Platons Atlantis gründlich misslungen. Das ist nicht unbedingt Feders Schuld, denn Feder war angewiesen auf das, was ihm die Kollegen aus antiker Philologie und Philosophie und Historie vorgearbeitet hatten. Und das war und ist morsches Material. Der folgende Kommentar versteht sich deshalb als konstruktive Kritik. Diese Besprechung basiert auf der 8. Auflage des Buches.
Kenneth Feder beginnt sein Buch mit einem überraschenden Bekenntnis: Er selbst war einst ein Anhänger von pseudowissenschaftlichen Thesen. Bis er eines Tages Verdacht schöpfte und sich das skeptisch-wissenschaftliche Denken aneignete. Er will auch heute noch offen für seltsame Thesen sein, auch wenn es sich fast immer herausstellt, dass ihnen die nötige Untermauerung fehlt. Das ist sehr sympathisch.
In einem eigenen Kapitel mit der Überschrift "Epistemology" wird die wissenschaftliche Methode erklärt: Dass alles Wissen vorläufig ist und eine historische Wissenschaft wie die Archäologie praktisch immer mit Wahrscheinlichkeiten und Plausibilitäten arbeiten muss. Dazu Ockhams Messer und die Begriffe Hypothese und Theorie. Das ist ein sehr starkes Kapitel! Dass Feder bei der "convergence of evidence" dann aber doch von "absolute certainty" (S. 40) spricht, ist allerdings unglücklich. Denn wie er selbst sagt, kann keine wissenschaftliche Gewissheit jemals so absolut sein wie ein religiöses Dogma. Ebenso unglücklich gewählt ist das Beispiel des Holocausts, denn es handelt sich um ein Ereignis aus der jüngeren Geschichte, über das sehr viele Zeitzeugen befragt werden konnten. Eine so hoher Grad an Gewissheit ist für antike Vorgänge natürlich nicht zu haben.
Völlig überzeugend ist dann wieder die Offenheit, mit der darüber geredet wird, dass auch Wissenschaftler schummeln. Und dass es sehr schwierig ist, eine Minderheitenposition gegen den Mainstream in der Wissenschaft aufrecht zu erhalten. Allerdings wäre es gut, wenn Feder konkreter dargestellt hätte, was die Konsequenzen sind, wenn man eine These tapfer gegen den Mainstream der Wissenschaft verteidigen möchte (S. 41). Diese Tapferkeit kann eine Karriere, ja, ein Leben zerstören, denn an einer gelungenen Karriere hängen auch die persönliche Sinnerfüllung im Beruf sowie ein gutes Einkommen und natürlich auch gesellschaftliche Akzeptanz. Und ohne das alles wird es schwierig im Leben. Je nach dem Grad der gesellschaftlichen Ausgrenzung und der Erfolglosigkeit wird man nicht einmal eine Familie gründen können, und das ist hart. Die Selbstkorrektur der Wissenschaft kommt, aber sie kommt für viele oft zu spät.
Feders Epistemologie konzentriert sich auf physische Belege wie z.B. archäologische Funde. Aber gerade bei einer Frage wie Atlantis geht es vor allem um die richtige Interpretation eines Textes und nicht zuerst um physische Belege. Deshalb erfährt der Leser dieses Buches auch nichts über die historisch-kritische Lesart antiker Texte. Er erfährt nichts über die tausend Gründe, die es dafür geben kann, warum ein antiker Text nicht mit dem archäologischen Befund übereinstimmt. Eine Erfindung ist in den seltensten Fällen der Grund dafür. Damit fehlen für die Bearbeitung des Themas Atlantis wichtige Grundlagen. Es ist jedenfalls keinesfalls legitim zu sagen, dass Atlantis deshalb nicht existiert, weil die wortwörtliche Interpretation zu keinem glaubwürdigen Ergebnis führt. So einfach ist es nicht.
Ein Grund für das Fehlen solcher Überlegungen mag sein, dass Feder ein amerikanischer Archäologie ist. Für die Archäologie in Amerika stellt sich die Frage nach der Übereinstimmung von antiken Texten mit dem archäologischen Befund so gut wie nie. Die Archäologie im Mittelmeerraum ist hingegen regelmäßig mit diesem Problem konfrontiert.
Feder referiert korrekt, dass die Dialoge Platons fiktionale Dialoge sind (S. 190 f.). Allerdings überträgt sich die Fiktionalität des Dialoges nicht auf die im Dialog behandelten Inhalte. Die Inhalte der Dialoge sind grundsätzlich ernst zu nehmen, solange nichts anderes für eine Erfindung spricht.
Dass Platon zum fiktiven Zeitpunkt des fiktionalen Dialoges noch zu jung gewesen ist, um das Gespräch mitzustenographieren, ist ebenfalls richtig (S. 191). Allerdings wird diese These nur in völlig unseriösen Publikationen diskutiert. Völlig falsch ist allerdings Feders Behauptung, dass Platon die Dialogteilnehmer seiner fiktionalen Dialoge anachronistisch zusammenstellen würde (S. 191). Das Gegenteil ist der Fall. Wenn man für den Dialogteilnehmer Kritias einen älteren Kritias annimmt, der historisch verbürgt ist, dann ist die Chronologie auch in diesem Dialog stimmig. Unstimmig wäre sie dann, wenn man in Kritias den Tyrannen erblicken wollte. Es wird übrigens nicht ganz klar, von welchem Kritias Feder ausgeht. Es ist eine der vielen Fragen zu Platons Atlantis, in der es in der Wissenschaft keine Einigkeit gibt.
Es ist falsch, dass das Apaturien-Fest, an dem die Atlantisgeschichte erzählt wird, ein "Täuschungsfest" im Sinne unseres 1. April wäre und damit die Atlantisgeschichte als eine Art von Aprilscherz markiert wäre (S. 192). Nur wenige Wissenschaftler vertreten diese Ansicht. Die meisten Wissenschaftler wissen, dass dieses Argument nicht funktioniert. (Sie korrigieren ihre Kollegen aber nicht.) – Ebenso falsch ist es, dass die Atlantisgeschichte durch eine mündliche Überlieferung über viele Stationen hinweg als unglaubwürdig markiert wäre (S. 192 f., "telephone"). Vielmehr lobt Platon den Vorteil der schriftlichen Überlieferung durch die Ägypter, und auch Solon brachte aus Ägypten schriftliche Aufzeichnungen mit, die im Besitz der Familie des Kritias (und damit Platons) gewesen sein sollen. Der Sinn der mündlichen Überlieferungskette ist ein ganz anderer: Platon hatte das Problem, ein reales Thema in einen fiktionalen Dialog einzuführen: Dazu dient diese mündliche Überlieferungskette parallel zur schriftlichen Überlieferung.
Wie viele andere Atlantisskeptiker übergeht Kenneth Feder eine wichtige Wendung in der Handlung des Dialoges Timaios (S. 192): Zuerst schlägt Sokrates vor, eine Geschichte zu erfinden. Dann aber kommt die Wende: Kritias schlägt vor, statt dessen eine reale Geschichte als Grundlage zu nehmen, und Sokrates stimmt zu: Eine reale Geschichte ist besser als eine erfundene Geschichte. Das ist eine Meinung, der auch wir modernen Menschen zustimmen müssen. Diese Wende in der Handlung des Timaios ist natürlich kein Beweis für die Realität der Geschichte, aber es ist erstens eine sehr klare Aussage zugunsten der Realität der Geschichte, die die Deutung als erkennbare Allegorie schwieriger macht (man könnte dann eher an einen Täuschungsmythos denken). Und zweitens darf man die Aussagen des Sokrates über die Erfindung einer Geschichte am Anfang des Dialoges nicht auf die Atlantisgeschichte beziehen, denn das würde dem Plot des Dialoges vollkommen widersprechen. Man müsste schon extrem viel Ironie sehen wollen, um das immer noch so zu deuten. Die Deutung als Täuschungsmythos liegt da viel näher, wenn man daran festhalten will, dass es eine Erfindung ist. Übrigens sind sich die Wissenschaftler auch in dieser Frage in keiner Weise einig: Soll es eine erkennbare Allegorie sein, oder soll es ein Täuschungsmythos sein, der nicht als solcher erkannt werden soll?
Kenneth Feder hebt auf den ironischen Effekt in Timaios 25e ab, dass Platons Idealstaat und das vorzeitliche Athen "by some mysterious coincidence" (S. 193) in allen Details "perfekt" übereinstimmen würden (S. 191-193). Dieser ironische Effekt existiert aber nur in manchen Übersetzungen und Interpretationen, nicht in der Wirklichkeit. Denn diese Übersetzung ist falsch. Erstens ist die Übereinstimmung nicht "perfekt", sondern nur eine Übereinstimmung in vielen / den meisten Details. Deshalb muss Kritias, wie er selbst sagt, die Bürger des erdachten Idealstaates in die historische Überlieferung einsetzen, damit daraus der vollkommene Idealstaat wird. Denn die historische Vorlage ist eben nicht perfekt. Das macht die Sache schon ein wenig glaubwürdiger. Und wenn es eine Erfindung sein sollte, fragt man sich an dieser Stelle: Warum hat Platon das so kompliziert erfunden? Es wäre doch viel einfacher gewesen, wenn Platon geschrieben hätte, dass Ur-Athen schon der vollkommene Idealstaat war?
Zweitens aber wird die Stelle Timaios 25e fast immer falsch übersetzt. Es handelt sich nicht um ein "Wunder" oder einen "Zufall" oder um "Glück", sondern um eine Referenz auf das Daimonion des Sokrates (ὡς δαιμονίως) und eine Fügung des Schicksals. Das Daimonion des Sokrates mag uns modernen Menschen nicht sehr glaubwürdig erscheinen, in den Dialogen Platons ist es jedoch immer ernst zu nehmen. Eine falsche Übersetzung zu benutzen ist ein verzeihlicher Fehler Feders, denn tatsächlich haben das nur wenige erkannt. Feder gibt die Stelle übrigens mit "p. 446" an. Die wissenschaftliche Notation ist Timaios 25e.
Kenneth Feder hat auch bemerkt, dass auf das angeblich ironische Verwirrspiel um Atlantis eine völlig ernste Diskussion folgt, nämlich die Kosmologie des Timaios (S. 193). Dass es aber durchaus ein Problem ist, dass angeblich ironischer Scherz und völliger Ernst so dicht beieinander stehen und sogar untrennbar miteinander verwoben sind, hat Feder nicht erkannt. Die meisten wissenschaftlichen Atlantisskeptiker übergehen dieses Problem ebenfalls mit Schweigen.
Die Atlantisgeschichte wird von Platon als schriftliche Historie präsentiert und explizit als Gegensatz zu bloß mündlich überlieferten Mythen dargestellt. Damit kann es immer noch eine Erfindung sein, aber es kann kein Mythos mehr sein. Auch dann nicht, wenn es erfunden wurde. Man könnte höchstens sagen, dass Atlantis zu einem "modernen" Mythos geworden ist, so wie die Beatles zu einem "Mythos" geworden sind. Aber mit einem klassischen Mythos hat das nichts zu tun.
Es ist auch völlig falsch, wenn Kenneth Feder Atlantis als ein Wunderland oder als ein mythisches Land beschreibt – es ist falsch, wenn Atlantis mit märchenhaften Ländern wie Oz oder Mittelerde verglichen wird – es ist falsch, Atlantis "fantastical" zu nennen (S. 187, 190, 195). In der Atlantisgeschichte gibt es keine Wunder. Es gibt keine mythischen Monster oder übernatürliche Vorgänge, außer denen, die Platon selbst im Rahmen seines Weltbildes für glaubhaft hielt. Und eine mythische Gründungsgeschichte hatte damals jede reale Stadt.
Es ist auch falsch, die 9000 Jahre von Atlantis als "ferne" Vergangenheit zu interpretieren, die bewusst so entfernt gewählt wurde, damit die Geschichte mythisch und nicht nachprüfbar ist (S. 194, 196). In Wahrheit ist es so, dass die 9000 Jahre im Rahmen des Weltbildes der damaligen Griechen auf einen Zeitpunkt nach der Gründung Ägyptens hindeuten, die man irgendwo 11,000+ v.Chr. vermutete. In unsere moderne Wahrnehmung übersetzt verweist das also auf eine Zeit nach 3000 v.Chr., zu der Ägypten in Wahrheit gegründet wurde. Es handelte sich für die alten Griechen also um einen ganz realen Zeitpunkt, und Platon berichtet von ganz realen schriftlichen Überlieferungen. Nichts daran ist mythisch. Alles daran sieht plausibel aus.
Die Geschichte ist auch sonst keineswegs "fern", sondern sehr nah und nachprüfbar: An den Schlamm vor Gibraltar glaubte auch Aristoteles, die angeblichen Spuren von Ur-Athen in Platons Athen sind real, und natürlich war auch Ägypten für die Griechen erreichbar. Krantor soll tatsächlich nach Ägypten gegangen sein und dort Belege für die Wahrheit der Atlantisgeschichte gefunden haben. Wir wissen natürlich nicht, was Krantor in Ägypten wirklich gesehen hat, aber dass die Atlantisgeschichte bewusst "enormously distant" (S. 196) erfunden wurde, stimmt definitiv nicht.
Kenneth Feder deutet Platons Politeia als "Fiktion" und als "hypothetisch" (S. 191 f.). Das ist aber ganz falsch. Platons Politeia entwickelt einen Idealstaat auf der Grundlage der Wirklichkeit von Welt und Mensch. Dieser Idealstaat ist nicht als Erfindung aus der blauen Luft zu deuten, sondern war ein völlig ernst gemeinter Plan, der sich an der Realität orientierte und in der Wirklichkeit so weit es geht verwirklicht werden sollte. Es heißt in der Politeia auch, dass es einen solchen Staat annäherungsweise schon in der Vergangenheit gab und in der Zukunft wieder geben wird. Platons zyklisches Geschichtsbild ist völlig ernst gemeint. Es ist deshalb nicht allzu sehr verwunderlich, dass Platon einen ägyptischen Bericht über eine vergangene Zeit vorlegt, in der ein solcher Staat existiert haben soll.
Deshalb funktioniert auch der Vergleich von Atlantis zu Märchenländern und zu Star Wars nicht (S. 194 f.). Denn Star Wars ist fantastisch. Die Geschichte von Star Wars kann unter der Perspektive unserer heutigen technischen Möglichkeiten nicht real sein. Atlantis konnte aber unter der Perspektive der alten Griechen real sein. Und es kommt ein weiteres hinzu: Selbst in Star Wars steckt noch eine ernst gemeinte Botschaft: Dass die "Guten" die "Bösen" besiegen, obwohl sie schwächer sind, ist tatsächlich eine Parallele, das hat Kenneth Feder völlig richtig erkannt. Aber diese Botschaft ist auch bei Star Wars ernst gemeint! Der Autor von Star Wars möchte doch nicht sagen: "Liebe Zuschauer, das Gute siegt nur in der Fiktion, deshalb sei in Deinem Leben böse wie Darth Vader und das Imperium und überlasse das Gutsein den Doofen." Nein, auch Star Wars möchte seinen Zuschauern natürlich die Botschaft vermitteln, dass es sich lohnt, gut zu sein, und dass die Bösen an ihrer eigenen Bosheit zugrunde gehen. Der Vergleich, den Kenneth Feder zieht, kann also die Erfindung von Atlantis nicht belegen. Es ist im übrigen ein wohlbekannter Topos der Weltgeschichte, dass große Imperien sich an kleinen Gegnern die Zähne ausbeißen. Imperien scheitern an sich selbst. Ganz real. Sowas muss man sich nicht ausdenken.
Völlig auf dem Holzweg ist Kenneth Feder, wenn er den Historiker William Stiebing zitiert: "Virtually every myth Plato relates in his dialogues is introduced by statements claiming it is true" (S. 196). Das ist einfach nur falsch. Das Buch, dem diese Aussage entnommen wurde, ist allerdings auch kein Fachbuch für Platonische Mythen, sondern trägt den Titel: Ancient Astronauts, Cosmic Collisions, and Other Popular Theories About Man’s Past. – Die sogenannten Platonische Mythen sind ein Kapitel für sich. Die erste Erkenntnis, die man haben sollte, ist, dass Platonische Mythen keine Mythen sind. Das Wort mythos hat für Platon eine andere Bedeutung als das Wort Mythos für uns. Platonische Mythen sind u.a. Versuche, sich der Wirklichkeit anzunähern. So findet sich z.B. auch die erste Erwähnung der Tatsache, dass die Erde eine Kugel ist, in einem Platonischen Mythos. Man beachte: Platons Höhle ist kein mythos, sondern ein Gleichnis. Ein mythos könnte real sein, ein Gleichnis natürlich nicht. Und man beachte: Platons Atlantisüberlieferung aus Ägypten wird nicht als mythos sondern als logos bezeichnet und explizit als Gegensatz zu einem mythos verstanden.
Wie sich schon im Kapitel zu den Grundlagen der Wissenschaft andeutete, ist eine der ganz großen Schwächen von Kenneth Feder, dass er nicht historisch-kritisch denkt. Die Atlantisgeschichte wird von Feder ausschließlich wortwörtlich gelesen. Das ist natürlich sehr unwissenschaftlich. Die Atlantisgeschichte muss in jedem Fall im Kontext ihrer Zeit interpretiert werden, auch dann, wenn sie eine Erfindung ist. Doch Kenneth Feder liest die Atlantisgeschichte konsequent wörtlich, so wie christliche Fanatiker die Bibel wortwörtlich lesen.
Ein zentraler Irrtum von Kenneth Feder ist die Frage: "How many alterations does it take to make Critias’s description of Atlantis match Minoan Crete?" (S. 199) Diese Frage ist natürlich völlig falsch gestellt. Willkürliche Veränderungen an der Originalgeschichte darf man nämlich keine einzige vornehmen. Wenn sich aber aus dem historischen Kontext eine Änderung in der Interpretation ergibt, dann ist es völlig egal, wie viele Änderungen es sind, denn jede einzelne Änderung ist legitim und notwendig.
Feder folgt konsequent der Erfindungsthese, dass jedes Element der Atlantisgeschichte auf einen allegorischen Effekt zielt (S. 203). Was er nicht sagt, ist, dass sich die Atlantis-skeptischen Wissenschaftler damit sehr schwer tun. Insbesondere der Bundeskult von Atlantis enthält soviele überflüssige Details, dass manche Wissenschaftler Zuflucht bei der Aussage nehmen, dass Platon hier der "Lust zu fabulieren" erlegen sei. Das ist aber ein sehr schwaches Argument.
Immer wieder wird auf der wörtwörtlichen Lesart beharrt. Im Kapitel "Current Perspectives" (S. 213 ff.) wird z.B. die grundstürzende Erkenntnis vermittelt, dass es um 9600 v.Chr. noch kein Athen gab. Das kann Feder den Fans von Graham Hancock erzählen, aber für wissenschaftliche Atlantisbefürworter ist das kein Argument, denn nur Ungebildete lesen die Atlantisgeschichte wortwörtlich.
Insbesondere in dem Kapitel "Atlantis after Donnelly" (S. 212 ff.) fehlen die wissenschaftlichen Vertreter der historisch-kritischen Hypothese aus dem 20. Jahrhundert, für die die minoische Zivilisation Atlantis war. Seltsamerweise werden diese Wissenschaftler auch dort nicht genannt, wo Feder diese These bespricht. K.T. Frost wird ohne Namensnennung angesprochen, und John V. Luce wird nur in Klammern als Quelle genannt, nicht mit seinen eigenen Thesen und auch nicht mit seinem zentralen Text (S. 196). Und das, obwohl der zentrale Text von John V. Luce in demselben Buch enthalten ist, aus dem Kenneth Feder die Atlantis-skeptische Haltung von J. Rufus Fears anführt (S. 196, Atlantis and the Minoan Thalassocracy, in: Ramage (Hrsg.), Atlantis – Fact or Fiction, 1978). Es ist ein schweres Versäumnis, einen der zentralen Texte der Gegenseite nicht zu diskutieren, ja, ihn noch nicht einmal im Literaturverzeichnis zu haben (John V. Luce: The Literary Perspective – The Sources and Literary Form of Plato's Atlantis Narrative, in: Ramage (Hrsg.), Atlantis – Fact or Fiction, 1978; pp. 49-78).
Es ist mit Gewissheit falsch, dass die Griechen noch eine tiefere Erinnerung an die Minoische Kultur hatten, wie Feder meint (S. 197). Bekanntlich war außer einigen oberflächlichen Mythen nichts an Wissen bei den Griechen übrig geblieben. Wie Platon selbst sagt, kann ein solches Wissen tatsächlich nur aus den ägyptischen Archiven gekommen sein. (Auch wenn das kein Beweis für die Realität von Atlantis ist.)
Es ist auch falsch, dass die Katastrophe von Atlantis das Schlüsselelement der Atlantisgeschichte wäre (S. 197). Katastrophen hat es viele gegeben im Lauf der Menschheitsgeschichte. Das Besondere ist z.B. der Bundeskult der zehn Könige von Atlantis, aber nicht die Katastrophe.
Wiederholt betont Feder, dass die Minoische Kultur der Atlantisgeschichte nicht entsprechen würde: Es sei der falsche Ort, die falsche Zeit, es gäbe keine Elephanten usw. usf. (S. 197, 199). Das ist aber alles nur die wörtliche Lesart. Mit dieser Methode könnte man auch Herodots Ägypten für nicht existent erklären, denn Herodot schreibt Ägypten z.B. ein ähnlich hohes Alter wie Atlantis zu und macht auch sonst viele Fehler in seinen Beschreibungen. Doch Ägypten existiert.
Es fällt auch auf, dass Kenneth Feder mit keinem Wort die Seevölkerkriege der Ramessidenzeit erwähnt, die von Wissenschaftlern immer wieder als mögliche Grundlage der Atlantisgeschichte genannt werden. Statt dessen wird lapidar behauptet, es gäbe zur Minoischen Kultur keine Überlieferungen zu einem Krieg (S. 199). Und die ägyptischen Quellen würden angeblich nichts zu Atlantis sagen (S. 195). Aber woher will Feder das wissen? Dass das Wort "Atlantis" dort nicht auftaucht, ist logisch, denn es ist ein griechisches Wort. Aber lapidar zu behaupten, da gäbe es nichts, und gleichzeitig totenstill über die Seevölkerkriege zu schweigen, ist nicht akzeptabel.
Schließlich hat Kenneth Feder eine lange Tabelle zusammengestellt, die sehr nach den Tabellen von weniger gebildeten Atlantissuchern aussieht, in der er alle möglichen Elemente der Atlantisgeschichte zusammengestellt hat, um dann abzuhaken, was davon wortwörtlich auf die Minoische Kultur zutrifft (S. 200 ff.). Dieses Abhaken von wortwörtlichen Übereinstimmungen ist schon vom Ansatz her falsch.
Darüber hinaus macht Kenneth Feder aber noch weitere Fehler in dieser Tabelle. In manchen Punkten ist Feder einfach zu streng in seinem Urteil: Dass es auf Kreta nicht viele Pflanzen und Tiere gab, ist sehr engstirnig geurteilt. Dasselbe gilt für die schwarzen, weißen und roten Gesteine, die es auf Kreta und Santorini natürlich auch gibt. Oder für Elfenbein, das natürlich in mykenisch-minoischen Palästen belegt ist. Oder für Metallüberzüge, die als Technik ebenfalls im Grundsatz belegt sind. – Dass es kein Oreichalkos und keinen Tempel von Poseidon und Kleito gab, kann Feder doch gar nicht entscheiden, weil er nicht weiß, was Oreichalkos ist, und wie diese Götter bei den Kretern hießen. – Völlig überraschend ist das Kreuz bei "Special Pleading" bei den Delphin-Statuen um Poseidons Statue. – Völlig falsch ist es, für Kreta kein Kreuz bei "Whole country lofty and precipitous" zu machen. Es gibt genug Berge auf Kreta. Ebenso seltsam ist das Kreuz bei "Unkown" für den Stierkult. Hat Feder noch nie etwas vom Becher von Vaphio gehört?!
Es verwundert, dass Kenneth Feder meint, die Nichterwähnung von Atlantis bei Herodot und Thukydides sei ein Argument gegen die Existenz von Atlantis (S. 195). Das ist natürlich falsch. Denn beide lebten ja vor Platon, und das Wissen über Atlantis soll ja – und kann ja nur – aus den ägyptischen Archiven gekommen sein. Die These von einer innergriechischen Überlieferung ist erstens eine willkürliche Abweichung von Platons Atlantisgeschichte und zweitens auch nicht plausibel. Und dass Herodot in Ägypten nichts von der Atlantisgeschichte gehört hat, beweist auch nichts, denn er hat dort z.B. auch nichts über die Seevölkerkriege gehört, und doch sind die Seevölkerkriege real.
Griechische Historiker nach Platon schweigen zu Atlantis, meint Feder (S. 195). Das ist eine fragwürdige Behauptung. Da wäre z.B. erst einmal zu klären, wer überhaupt als "Historiker" gelten kann. Strabon z.B. hat in seinem Werk viele historische Sachverhalte berichtet, gilt aber nicht als Historiker. Und so wie manche antike Geographen Atlantis nicht erwähnten, weil es nämlich als untergegangen galt und sie nur die aktuelle Geographie beschreiben wollten, so erwähnten manche Historiker Atlantis nicht, weil es ja lange vor der letzten Katastrophe und vor der letzten Kulturentstehung existierte, also nicht in die Historie der aktuellen Epoche gehörte. Um Atlantis für real zu halten, musste man natürlich Platons zyklisches Geschichtsbild akzeptieren. Jedenfalls ist die Liste der antiken Autoren, die Atlantis als realen Ort deuten, lang: Von Theophrastus und Krantor über Strabon und Poseidonios bis hin zu Proklos. Die ersten Skeptiker blieben alle anonym. Der erste namentlich bekannte Atlantisskeptiker erschien erst 500 Jahre nach Platon. Es war Numenios von Apameia um 150 n.Chr. Und die 9000 Jahre von Atlantis wurden zuerst von jenen Christen bezweifelt, die an ein biblisches Alter der Welt von nur 6000 Jahren glaubten.
Aber davon berichtet Kenneth Feder: Nichts. Sogar schlimmer: Feder behauptet, dass Platons Zeitgenossen angeblich gewusst hätten, dass Atlantis nur ein Märchen war (S. 195 f., 203). Und dass der Gedanke, dass die Atlantisgeschichte wahr sein könnte, erst mit Kolumbus aufkam (S. 203). Das ist natürlich alles völlig falsch. Auch hier ist Feder das Opfer einer völlig verwahrlosten Wissenschaft geworden. Wenn man die verschiedenen wissenschaftlichen Autoren durchgeht, findet man nur heilloses Chaos. Es gibt tatsächlich einige wenige klassische Philologen, die frech behaupten, dass in der Antike niemand an Atlantis geglaubt hätte.
Interessant ist, dass in der hier besprochenen 8. Auflage eine Behauptung fehlt, die in früheren Auflagen noch unter der Überschrift "After Plato" enthalten war: Dass nämlich Aristoteles sich explizit gegen die Existenz von Atlantis ausgesprochen hätte, und zwar an der Stelle Strabon II 102. Den Abschnitt "After Plato" gibt es immer noch (S. 203), aber die Aussage ist ersatzlos und ohne Begründung gestrichen worden. Was ist hier geschehen? Wie kann eine so wichtige These einfach wegfallen? – Nun, im Jahr 2010 erschien ein Buch, dass diese von vielen Atlantisskeptikern geliebte These schwer erschütterte, 2012 auch in englischer Sprache. Und daraufhin fehlte diese These dann plötzlich in Feders Buch. Auch andere Atlantisskeptiker ließen diese These stillschweigend fallen oder veränderten ihre Argumentation dazu dramatisch. Doch keiner nennt das Buch und keiner diskutiert seinen Fehler. Das ist nicht sehr wissenschaftlich, denn eine solche dramatische Meinungsänderung muss besprochen werden. Das Buch war Aristoteles und Atlantis von Thorwald C. Franke.
Es gibt eine Reihe von kleinen Fehlern in der Rezeptionsgeschichte: Lopez de Gomara glaubte nicht, dass die amerikanischen Indianer Auswanderer von Atlantis waren (S. 203). Vielmehr glaubte er, dass "Las Indias", also ganz Amerika, Insel und Festland von Atlantis waren. – Die Forschungen von Brasseur de Bourbourg waren nicht "complete fantasy" (S. 204): Natürlich war seine Übersetzung falsch, aber das macht sie noch nicht zu "complete fantasy". Brasseur de Bourbourg hat sich um die Maya-Forschung verdient gemacht. – Jürgen Spanuth glaubte nicht, dass Atlantis in Skandinavien lag (S. 189), sondern bei der Insel Helgoland in der Nordsee. Die Hypothese von Atlantis in Skandinavien geht auf Olof Rudbeck im 17. Jahrhundert zurück. Und wir fügen hinzu: Olof Rudbeck war ein verdienstvoller Universalgelehrter, der auch im Rahmen seiner Atlantisforschungen viele Entdeckungen machte und völlig ernst zu nehmen ist, auch wenn Atlantis nicht in Skandinavien lag. – Beim Prinzen Madoc (S. 129 f.) wäre es angebracht gewesen zu erwähnen, dass er angeblich vor Kolumbus in Amerika war und die Engländer ihre Besitzansprüche in Amerika deshalb auf den Prinzen Madoc stützten, und nicht etwa auf Atlantis, wie manche irrig meinen.
Im Kapitel zum "Moundbuilder Myth" erweckt Kenneth Feder – vielleicht unfreiwillig – den Anschein, als habe Atlantis eine wichtige Rolle im Kalkül von Rassisten gespielt, die den amerikanischen Indianern das Existenzrecht unter Verweis auf eine Besiedlung Amerikas vor den Indianern absprechen wollten. Der falsche Eindruck entsteht im Zusammenhang mit der Darstellung der Meinung von Lafcadio Hearn (S. 161). Zuerst wird korrekt berichtet, dass Lafcadio Hearn den folgenden Satz über die Mound Builder schrieb: "it is at least generally recognized that they were not Indians". Feder unterlässt es übrigens zu überprüfen, ob diese Aussage überhaupt wahr ist, aber das ist ein anderes Thema. – Dann berichtet Feder, dass Lafcadio Hearn eine eigene Theorie hinzufügte: Dass die Mound Builder von Atlantis kamen. Doch hier unterlässt Feder es, darauf hinzuweisen, dass es Teil der neuen Theorie von Lafcadio Hearn war, dass die Mound Builder von Atlantis eben doch die Vorfahren der Indianer waren. Und damit fällt die potentiell rassistische Motivation für den Mound Builder Mythos weg.
In Wahrheit glaubten nur wenige Rassisten, dass die Mound Builder aus Atlantis oder über Atlantis als Landbrücke gekommen und zugleich keine Indianer waren, z.B. Josiah Priest 1833. Die meisten Rassisten missbrauchten nicht Atlantis, sondern andere Theorien. Im Gegenteil: Die meisten, die über Atlantis spekulierten, glaubten, dass die Mound Builder einst aus Atlantis kamen und gleichzeitig die Vorfahren der Indianer waren. Zum Beispiel Rafinesque-Schmaltz 1836, David Baillie Warden 1836, Brasseur de Bourbourg 1862/1864, John Denison Baldwin 1869, Lafcadio Hearn 1876, John Thomas Short 1880, oder Ignatius Donnelly 1882. Auch wenn diese Idee natürlich völlig falsch ist, so hatte sie doch einen humanistischen Aspekt: denn sie erkannte an, dass die Mound Builder tatsächlich die Indianer bzw. deren Vorfahren waren.
Leider werfen viele moderne Atlantisskeptiker alles in einen Topf. Für sie genügt es, den pseudowissenschaftlichen Charakter der These festzustellen, um daraus direkt und ohne Umschweife den Schluss zu ziehen, dass dahinter jedes nur erdenkliche rassistische Motiv stehen muss. Sie sehen keinen Unterschied zwischen dem rassistischen Josiah Priest und z.B. John Thomas Short ("... leads us to the truth that God 'hath made of one blood all nations of men.' ") oder Ignatius Donnelly, der zu seiner Zeit ein sehr progressiver Politiker war. Auf diese Weise malt die Atlantisskepsis aus purem Übereifer ein viel zu schwarzes Bild der historischen Realität.
Am Rande sei angemerkt, dass auch Kenneth Feder dem Umstand, dass es durchaus verständlich war, dass damals viele daran zweifelten, dass die Indianer die Nachfahren der Mound Builder waren, viel zu wenig Aufmerksamkeit schenkt. Denn wie Kenneth Feder selbst sagt, war die Verbindung der indianischen Kulturen zu ihren Mounds weitestgehend abgerissen (S. 159 f.). Deszhalb ist es falsch, den Eindruck zu erwecken, dass Zweifel an der Verbindung von Indianern und Mounds vor allem rassistisch motiviert waren (S. 175). Es wäre erst noch durch eine komplette Übersicht aller Theorien und ihrer Autoren nachzuweisen, wieviele davon wirklich rassistisch motiviert waren. Für die Vertreter der Atlantis-Thesen konnten wir zeigen, dass die allermeisten von ihnen die Verbindung der Indianer zu den Mounds anerkannten.
Wir alle machen Fehler, aber allzu viele sollten es nicht sein. Hier wollen wir einige der kleineren Fehler von Kenneth Feder zusammenfassen.
In der Bildunterschrift zu einer Abbildung der Stadt von Atlantis schreibt Feder, dass sie "true to Plato" sei (S. 188). Das stimmt natürlich nicht. Bei Platon gibt es nur eine Brücke, hier jedoch sind es fünf. Zudem verlängern sich die Brücken sternförmig zu Straßen in die Ebene hinein. Die Eben war jedoch in rechteckigen Parzellen durch Kanäle organisiert. Man könnte weitere Diskrepanzen finden. Praktisch keine der im Umlauf befindlichen Darstellungen ist korrekt.
Kenneth Feder meint, dass der Dialog, der am Vortag des Dialoges Timaios gehalten wurde, die Politeia sei (S. 191). Das stimmt nicht ganz. Es muss ein ähnlicher Dialog gewesen sein, aber er ist nicht mit der Politeia identisch. Das ist allgemeine Meinung in der Wissenschaft.
Kritias wird von Feder "poet and teacher" genannt (S. 191). Es ist rätselhaft, woher diese Information kommt. Womöglich ist Kritias der Tyrann gemeint, der auch dichtete, aber dann hätte man statt "teacher" besser "tyrant" geschrieben. Es wäre aber auch deshalb falsch, weil der Dialogteilnehmer Kritias nicht der Tyrann ist.
Feder benutzt eine Übersetzung der Atlantisdialoge, in denen das Wort logos ständig mit "tale" übersetzt wird. Dadurch entsteht häufig ein ironischer Effekt, der im Original aber gar nicht vorhanden ist. Denn logos bezeichnet eine ganz neutrale Geschichte, während "tale" in der Regel eine Geschichte meint, deren Glaubwürdigkeit zumindest in Frage steht. – Zudem setzt Feder teilweise Anführungszeichen, die einen ironischen Effekt bewirken, so z.B. um das Wort "gymnastic" (S. 192) oder um das Wort "true" in "true story" (S. 192). Diese Anführungszeichen sind jedoch unpassend, denn zuerst muss man Platons Geschichte so wahrnehmen, wie sie sich selbst darstellt, und erst hinterher kann man überlegen, ob es Ironie ist. Am Ende ist man sich ganz sicher, das es Ironie ist, weil man sich durch lauter kleine Fehler selbst betrogen hat.
Es ist höchst unklar, ob Ur-Athen in derselben Katastrophe unterging wie Atlantis, wie Feder behauptet (S. 193). Die meisten Wissenschaftler lehnen auch die These Feders ab, dass Platon – kurz nachdem er den Dialog Kritias unvollendet ließ – verstarb (S. 194). Meistens folgt man der These, dass Platon noch etliche Jahre lebte und den langen Dialog Nomoi schrieb.
Der Mechanismus der Abnahme des göttlichen Anteils in den Königen von Atlantis wird bei Feder viel zu beiläufig beschrieben (S. 194), dabei ist er zentral: Während sich die Könige von Atlantis auf ihr göttliches Blut verlassen, stützen sich die Bewohner von Ur-Athen auf die Erziehung zur Einhaltung der Verfassung. Die Lehre daraus ist klar: Erziehung ist wichtiger als angeborene Talente. Übrigens ist die Atlantisgeschichte damit auch nicht anschlussfähig für Rassismus. Denn abgesehen davon, dass es nur um die Könige von Atlantis geht, und nicht um das Volk von Atlantis, und abgesehen davon, dass die Götterkinder im Sinne der griechischen Mythologie nichts mit Rassismus zu tun haben, ist die Lehre der Atlantisgeschichte geradezu anti-rassistisch. Das hat natürlich manche Rassisten nicht davon abgehalten, die Atlantisgeschichte falsch zu verstehen. Das ist aber nicht die Schuld der Atlantisgeschichte.
Kenneth Feder hat ein gutes Buch geschrieben, und er hat gute Absichten. Aber beim Thema Atlantis liegt er daneben. Das liegt auch an der von ihm verwendeten Literatur. Paul Jordan und sein unverschämtes Buch, das jedem Atlantisbefürworter ein "Atlantis-Syndrom" unterstellt, ist einfach unter Niveau. Und Sprague de Camp ist zweifelsohne witzig, aber so manche Pointe erweist sich als Irrtum und ist deshalb gar nicht so witzig, wie es auf den ersten Blick scheint. Es ist keinesfalls zutreffend, dass Atlantisbefürworter "the less-than-great, nonrational minds of the modern world" wären, wie Feder meint (S. 213). Er sollte ruhig einmal in das Kapitel von John V. Luce schauen, das in demselben Buch enthalten ist wie das Kapitel von J. Rufus Fears, das er verwendet.
Letztlich ist Feder aber auch das Opfer des schlechten Zustandes der Wissenschaft in der Frage nach Atlantis. Denn es gibt keine einheitliche, konsolidierte Erfindungsthese, die glatt und verlässlich wäre. Vielmehr gibt es hinter der Fassade der einen großen, allzu einfachen These, dass Atlantis angeblich eine Erfindung Platons wäre, ein großes Chaos an widersprüchlichen Meinungen. Die einen sehen eine erkennbare Allegorie, die anderen sehen einen Täuschungsmythos. Die einen glauben, dass dieser Kritias der Dialogteilnehmer ist, die anderen glauben, dass es jener Kritias ist. Die einen sehen diese Städte und Ereignisse als Vorlage einer Erfindung, die anderen sehen jene Städte und Ereignisse als Vorlage. Am Ende trifft der Witz, den Kenneth Feder über mehrere Seiten hinweg über das Chaos der verschiedenen Lokalisierungsthesen reißt (S. 188-190), auch auf die verschiedenen Erfindungsthesen zu.
Feder meint, dass die Spekulationen um Atlantis im 19. Jahrhundert hätten beendet werden können, wenn es nicht Ignatius Donnelly gegeben hätte (S. 204). Das ist ein großer Irrtum. Der Grund, warum die Frage nach Atlantis weiterhin virulent ist, ist der simple Umstand, dass diese Frage tatsächlich eine offene Frage ist. Die Wissenschaft hat es sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts viel zu einfach damit gemacht, Atlantis kurzerhand zur Erfindung zu erklären. Damit wurden zahlreiche legitime Fragen aus der Wissenschaft ausgegrenzt und zur Pseudowissenschaft erklärt. Das Ergebnis ist, dass die Wissenschaft selbst nicht mehr offen über das Thema sprechen kann. Wir sind hier bei einer Frage angelangt, die Kenneth Feder selbst am Anfang seines Buches anschneidet: Auch eine noch so sicher geglaubte wissenschaftliche Meinung muss hinterfragbar bleiben.
Immerhin können wir Kenneth Feder beruhigen: Amerika hat mit Atlantis gewiss nichts zu tun. Alle Hypothesen, die es wert sind diskutiert zu werden, datieren Atlantis nicht auf 9600 v.Chr., und sie lokalisieren Atlantis im Mittelmeerraum oder nahebei. Statt Atlantis komplett aus der Debatte zu verbannen, wäre es vielleicht klüger, eine weniger strenge aber dafür umso gewissere Grenze zwischen diskutierbaren und nicht diskutierbaren Hypothesen zu ziehen: Auf diese Weise würde grober Unfug auf verlässlicher Grundlage ausgegrenzt und die Aufmerksamkeit auf jene Thesen gelenkt, die legitim diskutierbar sind.
Ein letzter, wichtiger Fehler muss angemerkt werden. Kenneth Feder listet die verschiedenen Motivationen auf, aus denen heraus Pseudowissenschaft betrieben wird (S. 10). Es sind sieben grundlegende Motivationen:
Doch es fehlt natürlich eine Motivation, die in unseren Tagen immer wichtiger geworden ist. Es ist die Motivation jener, die das Gute in der Welt befördern wollen, und dabei über das Ziel hinausschießen, indem sie radikal werden und unlautere Mittel anwenden. Es sind jene, die gegen Rassismus sind, und nun überall Rassismus wittern, auch wo gar keiner ist. Es sind jene, die das Klima retten wollen, und deshalb die schwärzesten Klimaprognosen produzieren und Andersdenkende radikal aus dem Peer-Review-Prozess ausschließen. Und es sind jene, die den pseudowissenschaftlichen Missbrauch von Atlantis sehen und deshalb das Thema Atlantis komplett verbannen wollen. Kurz: Sie schütten das Kind mit dem Bade aus. Man kann alles übertreiben, auch das vermeintlich Gute. Der Punkt, der in Feders Liste fehlt, könnte z.B. so genannt werden:
An einigen Stellen enthält das Buch von Kenneth Feder bereits Beispiele maßvollen Urteilens. Dieser Aspekt des Buches sollte explizit zum Thema gemacht werden: Gute Wissenschaft ist maßvoll und demütig. Sie ist außerdem menschenfreundlich und hält sich von Radikalismen fern. Politik und Wissenschaft sollten so gut es geht voneinander getrennt sein. Ein Wissenschaftler macht sich in seiner Funktion als Wissenschaftler mit keiner Sache gemein, auch nicht mit einer guten.
Kenneth L. Feder, Frauds, Myths, And Mysteries: Science and Pseudoscience in Archaeology, 8. Auflage 2014, McGraw Hill, New York 2014. Erste Auflage war 1990. Derzeit befindet sich das Buch in seiner 10. Auflage.
Thorwald C. Franke, Aristoteles und Atlantis – Was dachte der Philosoph wirklich über das Inselreich des Platon?, 2. erweiterte Auflage, Verlag Books on Demand, Norderstedt 2016. Erste Auflage war 2010.
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Thorwald C. Franke, Kritische Geschichte der Meinungen und Hypothesen zu Platons Atlantis – von der Antike über das Mittelalter bis zur Moderne, 2. Aufl. in zwei Bänden, Verlag Books on Demand, Norderstedt 2021. Erste Auflage war 2016 in einem Band.
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