Rezension der Dokumentation Hunting Atlantis, Erstausstrahlung 21. Juli bis 25. August 2021 auf Discovery Channel USA. Deutscher Titel Auf der Suche nach Atlantis, Erstausstrahlung 12. Dezember 2021 bis 16. Januar 2022 auf Discovery Channel Deutschland.
Diese Atlantis-Dokumentation ist etwas völlig Neues. Der Atlantis-Enthusiast Stel Pavlou und die Geologin Jess Phoenix präsentieren keine vorgefertigte Hypothese für Atlantis. Sie gehen nur von einer einzigen Annahme aus, nämlich einer neuen Datierung für Atlantis um 5000 v.Chr., und dann machen sie sich wirklich auf die Suche nach Atlantis! Man mag es kaum glauben.
In jeder Folge reisen sie in eine andere Region im östlichen Mittelmeerraum (Schwarzes Meer, Kroatien, Türkei, Sizilien, Kreta und Santorin, Kykladeninseln) und versuchen dort, Atlantis unter der Annahme der neuen Datierung zu finden. Der Zuschauer wird in jeder Folge Zeuge, wie Stel und Jess versuchen, verschiedene archäologische und geologische Aspekte zu einem Gesamtbild einer gültigen Hypothese zusammenzufügen. Und diese Suche ist durchaus glaubwürdig in Szene gesetzt, denn einige der eingeschlagenen Wege führen ins Leere, was auch offen zugegeben wird. Alle 15-20 Minuten sehen wir Stel, wie er sich spät in der Nacht in sein Studierzimmer zurückzieht, um über die Ergebnisse des Tages nachzudenken und Schlussfolgerungen zu ziehen, wie man die Suche fortsetzen könnte.
Die Anzahl der besuchten Orte ist groß und man lernt wirklich etwas über antike Kulturen, nicht nur um 5000 v.Chr., sondern natürlich auch über spätere Kulturen, die die besuchten Orte mit ihren Überresten beherrschen. Man lernt viele Orte kennen und sehen, die normalerweise in keinem anderen Dokumentarfilm behandelt werden. Und die Kamera fängt die Szenen mit einem suchenden Auge ein, so dass man es so sieht, als wäre man selbst dabei gewesen. Letztendlich kann diese Doku nicht beweisen, dass einer der vorgeschlagenen Orte Atlantis ist, aber sie öffnet definitiv den Geist für eine erstaunliche Anzahl möglicher zukünftiger archäologischer Funde.
Zahlreiche Wissenschaftler werden vor Ort interviewt. Bei der Suche kommt eine Menge Technik zum Einsatz: Neben wiederholten Tauchgängen gibt es einen Tauchroboter, ein Side-Scan-Sonar, eine Drohne mit Kamera, Bodenradar, Röntgenfluoreszenzanalyse von Obsidian, Altersbestimmung von gebrochenem Stein im Hinblick auf kosmische Strahlung, Steilwandklettern, Kernbohrungen, Referenztaxonomien von Keramikstilen usw. usf. Es handelt sich nicht nur um einen Dokumentarfilm, sondern vielmehr um einen Reisebericht mit Abenteuercharakter. Diese Doku hat auf jeden Fall das Zeug dazu, das Interesse junger Menschen für Archäologie, Geologie und antike Geschichte zu wecken. Vielleicht werden die Wissenschaftler von morgen durch diese Doku rekrutiert? Wer weiß.
Die Doku stürzt sich sofort ins Geschehen, ohne große Erklärungen über Stel Pavlou, Jess Phoenix oder die neue Datierungshypothese. Für viele Zuschauer wäre auch eine kurze Einführung in das Thema Atlantis hilfreich gewesen. In der gesamten Dokumentation wird nicht viel erklärt, und das ist schade. Daher wirken manche Schlussfolgerungen zu einfach und manche Kombinationen sind recht grob geknüpft. Eine gewisse wissenschaftliche Kritik ist hier möglich, aber nur in Bezug auf einige Details, nicht auf das Konzept als solches. Wir müssen uns vor Augen halten, dass es sich um eine Dokumentation und nicht um einen akademischen Artikel handelt – unter diesem Gesichtspunkt ist es ziemlich beeindruckend.
Für einige Zuschauer war diese Doku vielleicht sogar zu anspruchsvoll. Man braucht wirklich ein gewisses Hintergrundwissen über Platons Atlantis und auch über einige der besuchten Orte, um sie in vollen Zügen genießen zu können. Das mag auch einer der Gründe sein, warum die Zuschauerzahlen bald zurückgingen, wie Jason Colavito berichtete. Und diese Doku spielte nicht mit der Sensationslust von explodierenden Vulkanen und verheerenden Tsunamis. Neben wenigen Animationen und Rekonstruktionen historischer Ereignisse sieht man vor allem moderne Menschen durch die Überreste der Antike wandern, wie sie sich heute präsentieren. Für manche ist das langweilig, aber für manche ist es das einzig Wahre! Außerdem mag es einige Zuschauer gestört haben, dass ihnen viele Fragen, aber nur wenige Antworten präsentiert wurden. Vielleicht war diese Doku für einige zu wissenschaftlich?
Die neue Hypothese, Atlantis auf 5000 v.Chr. zu datieren, kann ebenfalls kritisiert werden. Die Idee dahinter ist, dass sich die Regierungszeiten bestimmter Pharaonen überschnitten. Dies ist aber nur eines von vielen Phänomenen, die die griechische Rechnung mit Generationen falsch machen, wie wir sie z.B. bei Herodot beobachten können. Die vollständige Analyse der ägyptischen Chronologie mit all ihren Feinheiten ist von der Ägyptologie ausgearbeitet worden und findet sich z.B. in Jürgen von Beckeraths berühmtem Buch "Chronologie des pharaonischen Ägypten". Dennoch ist die Datierung auf 5000 v.Chr. mit Hilfe eines historisch-kritischen Arguments, nämlich der Überlappung der Regierungszeiten, ein großer Schritt in die richtige Richtung! Sie ist weit entfernt von der Simplizität der wörtlichen Lesart, die die meisten Atlantisskeptiker (weil sie es ihnen leicht macht, die Realität von Atlantis abzulehnen) ebenso bevorzugen wie die meisten Atlantisbefürworter (weil sie es nicht besser wissen und nicht von Atlantisskeptikern aufgeklärt werden, die lieber an der wörtlichen Lesart festhalten, weil ...).
Discovery Channel hat nicht allzu viel Geld in diese Dokumentation investiert, wie es scheint, wenn man die unglücklichen Schnitte und seltsamen Dialoge an einigen Stellen der Doku bedenkt. Auch die deutsche Synchronisation auf Discovery Channel Deutschland könnte viel besser sein.
Als die Doku zum ersten Mal in den USA ausgestrahlt wurde, wurde von weniger gebildeten Leuten Kritik laut, dass Stel und Jess die Wissenschaftler, die sie besuchten, getäuscht hätten, und dass Atlantis angeblich ein inhärent rassistisches Thema sei. Nichts von alledem findet sich in der Doku. Stel und Jess diskutieren manchmal offen vor den Wissenschaftlern über Atlantis, und die Wissenschaftler wissen offensichtlich von Stels Hypothese von 5000 v.Chr., denn sie versuchen, ihm dabei zu helfen, wenn auch manchmal mit einigen Vorbehalten. Einige der Wissenschaftler stellen sogar noch phantasievollere Hypothesen auf als die von Stel Pavlou. Rassismus ist überhaupt nicht zu erkennen. Stel und Jess bereisen das Mittelmeer, unterstützt von Wissenschaftlern, Bootsführern und Tauchern aller Nationen, Rassen und Geschlechter. Hier spürt man den verbindenden Geist der Wissenschaft, und man könnte meinen, man befinde sich in einem Roman von Jule Verne mit seinem typisch aufklärerischen Optimismus.
Eindeutig eine überdurchschnittliche Atlantis-Doku, obwohl Atlantis nicht gefunden werden konnte.