Die meisten Atlantisskeptiker und viele Atlantisbefürworter begehen einen großen Fehler: Sie klammern sich an der wörtlichen Beschreibung von Atlantis fest. Atlantis muss genau so ausgesehen haben, wie von Platon beschrieben, oder es ist nicht Atlantis, sagen sie. Jede Abweichung von Platons Beschreibung wird als Willkür und "cherry-picking" abgelehnt.
Weil es völlig unvernünftig ist, alte Texte so zu lesen. Wer sich mit alten Texten ein wenig auskennt, der weiß, dass es praktisch der Normalfall ist, dass alte Texte die Wirklichkeit nicht korrekt beschreiben. Und das, obwohl sich die alten Autoren redlich bemüht haben, die Wirklichkeit korrekt zu beschreiben. Sie haben die Wirklichkeit verfehlt, obwohl sie weder erfinden noch täuschen wollten.
Es gibt mehrere Gründe, warum alte Texte die Wirklichkeit nicht korrekt beschreiben. Ein Grund ist, dass die Menschen in alten Zeiten über viele Dinge nicht so gut Bescheid wussten wie wir modernen Menschen. Man wusste damals nicht, wie alt die Welt ist, woher der Mensch kam, wie groß die Kontinente sind, was sich am Meeresboden verbirgt, usw. usf. Ein weiterer Grund ist, dass die Überlieferung von Informationen von Generation zu Generation, von Kultur zu Kultur, zu Missverständnissen bei der Übergabe von Informationen führte. Dadurch wurde die Überlieferung verzerrt.
Herodot berichtet, dass Ägypten 11000 Jahre und sogar älter ist. Das ist natürlich falsch. Ägypten entstand erst um 3000 v.Chr. Aber ist das Werk von Herodot damit eine Erfindung und eine Täuschung? Nein, natürlich nicht. Sondern es ist ein Irrtum. Ein ungewollter Fehler. Herodot wurde in Ägypten entweder falsch informiert, und/oder Herodot selbst hat falsche Schlussfolgerungen gezogen.
Wir haben also einen alten Text, in dem steht, dass Ägypten 11000 Jahre alt ist, aber in Wahrheit war es nicht so – und trotzdem ist es keine Erfindung und keine Täuschung. Vielmehr ist folgende Deutung zutreffend: Herodot beschreibt mit vollem Ernst ein reales Land namens Ägypten, aber er hat sich über das Alter dieses Landes geirrt. In Wahrheit war Ägypten viel jünger.
Man darf alte Texte also nicht einfach wörtlich nehmen. Man darf andererseits aber auch nicht willkürlich irgendwelche Interpretationen an alten Beschreibungen vornehmen. Wie macht man es also richtig?
Ganz einfach: Man muss sich in die Perspektive der Menschen in den alten Zeiten hineinversetzen, und mit unserem modernen Wissen vergleichen. Dann wird man erkennen, wo die Irrtümer sind, und was statt dessen richtig ist. Und diese Erkenntnis ist dann keine willkürliche Veränderung der originalen Beschreibung, sondern eine notwendige und begründbare Interpretation. Es ist kein "cherry-picking", sondern "meaning-detecting".
Im Grunde ist es völliger Wahnsinn, alte Texte wörtlich lesen zu wollen. Bei den meisten Texten tun wir das auch nicht und wir machen es ganz automatisch richtig, ohne groß darüber nachzudenken. Keiner, der bei Herodot davon liest, dass Ägpyten 11000 Jahre alt sein soll, kommt auf die Idee zu sagen: Ägypten muss genau 11000 Jahre alt sein, oder es gibt kein Ägypten! Das wäre ja auch komisch. Jeder weiß sofort, dass das wohl ein Irrtum sein muss, und dass Ägypten trotzdem existiert. Nur dass es eben nicht so alt ist, wie Herodot behauptet hat. Es ist absolut notwendig, alte Texte auf diese Weise zu lesen, alles andere wäre nur komisch!
Man nennt diese Methode auch die historisch-kritische Methode, weil man die wörtlichen Aussagen alter Texte vor dem historischen Hintergrund kritisch hinterfragt.
Genau so komisch wie jemand, der darauf beharrt, dass Ägypten 11000 Jahre alt sein muss oder aber überhaupt nicht existiert, verhalten sich viele, wenn es um Platons Atlantis geht! Viele Atlantisbefürworter sagen: Die wörtliche Beschreibung muss exakt auf einen Ort zutreffen, oder es ist nicht Atlantis! Und viele Atlantisskeptiker sagen: Weil es keinen Ort gibt, auf den die wörtliche Beschreibung exakt zutrifft, kann Atlantis nur eine Erfindung sein und nichts anderes! Dieses komische Verhalten ist nicht in Ordnung. Auch dann nicht, wenn es Wissenschaftler sind, die sich so verhalten.
Manche, die langsam begreifen, dass es gerechtfertigt und sogar notwendig ist, Platons Beschreibungen nicht wörtlich zu lesen, tappen gleich in die nächste Denkfalle: Wenn sie sehen, dass es nicht nur ein oder zwei Elemente sind, die man anders lesen muss, sondern viele Elemente, lehnen sie diesen Weg sofort wieder ab.
Aber die Erwartungshaltung, dass es nur wenige Elemente sein dürfen, die man anders interpretieren darf, ist völlig falsch und zeigt, dass man das Prinzip hinter der Methode noch nicht wirklich verstanden hat. Es ist nämlich völlig egal, wieviele Uminterpretationen man vor dem Hintergrund des historischen Kontextes man vornehmen muss, solange jede einzelne Uminterpretation nur gut begründet ist. Es können wenige sein. Es können aber auch viele sein.
Und es ist wahr: Im Fall von Platons Atlantiserzählung sind es viele Elemente, die man anders lesen muss. Denn die Zusammensetzung dieser Geschichte aus vielen verschiedenen Elementen aus vielen verschiedenen Zeiten aus vielen verschiedenen Kulturen ist kompliziert. Wer sich von dieser Komplexität abschrecken lässt, der ist an der Frage nach Atlantis gescheitert. Egal ob Atlantisbefürworter oder Atlantisskeptiker. Es gibt keine einfachen Lösungen für die Frage nach Atlantis.
Manche, die langsam begreifen, dass es gerechtfertigt und sogar notwendig ist, Platons Beschreibungen nicht wörtlich zu lesen, tappen gleich in die nächste Denkfalle: Jetzt wollen sie sofort und auf der Stelle wissen, wie man Platon anders lesen muss, und wo Atlantis lag – oder sie lehnen diesen Weg sofort wieder ab. Aber das ist ein großer Fehler.
Um herauszufinden, welche Beschreibungen von Atlantis falsch sind und was statt dessen richtig ist, muss man sehr viel Arbeit investieren. Man muss sehr viel Wissen darüber anhäufen, was die Menschen zu Platons Zeit wussten, oder auch nicht wussten. Und dasselbe für die Menschen zu Solons Zeit. Und dasselbe für die Menschen zur Zeit von Atlantis. Und weil man nicht weiß, wann Atlantis existierte, muss man dieses Wissen für mehrere infrage kommende Zeiten anhäufen. Denn nur dann, wenn man weiß, welche Perspektive die Autoren und die Überlieferer eines alten Textes hatten, nur dann kann man alle Irrtümer und Missverständnisse entschlüsseln, und herausfinden, was der alte Text wirklich sagen wollte.
Und das braucht Zeit. Hier muss nun wirklich gesucht werden. Nicht auf Landkarten, sondern in alten Texten. Gesucht wird nicht direkt nach Atlantis, sondern nach dem historischen Hintergrund der Elemente, aus denen sich die Atlantiserzählung zusammensetzt. Wer die Geduld für diese Suche nicht mitbringt, ist an der Frage nach Atlantis gescheitert. Egal ob Atlantisbefürworter oder Atlantisskeptiker. Es gibt keine einfachen Lösungen für die Frage nach Atlantis.
Für ein einziges Element der Atlantiserzählung soll die Methode im folgenden beispielhaft demonstriert werden. Es geht um die 9000 Jahre, die Atlantis vor den Zeiten Solons und Platons existiert haben soll. Also um 9600 v.Chr., wie man immer wieder lesen kann.
Pseudowissenschaftliche Atlantissucher beharren darauf, dass Atlantis um diese Zeit existiert haben muss – oder es ist nicht Atlantis. Oberflächliche Atlantisskeptiker beharren darauf, dass Atlantis nicht existiert haben kann, denn um 9600 v.Chr. kann es Atlantis natürlich nicht gegeben haben: Damals waren die Menschen noch Jäger und Sammler, ohne Kultur und ohne Schrift.
Und jetzt kommt der historische Kontext ins Spiel: Zu Platons Zeit wusste niemand, dass die Menschen um 9600 v.Chr. noch Jäger und Sammler waren. Im Gegenteil. Wie wir oben sahen, glaubte z.B. Herodot, dass Ägypten 11000 Jahre alt und älter ist. Und Herodot ist nicht irgendwer: Seine Beschreibungen bildeten zu Platons Zeit den Bildungshintergrund. Und nicht nur Herodot glaubte an ein Alter von Ägypten von 11000 und mehr Jahren. Auch Diodor und praktisch alle anderen Autoren dieser Zeit sind dieser Meinung. Sogar Platon selbst schrieb in seinem Dialog Nomoi davon, dass Ägypten mindestens 10000 Jahre. Und in den Nomoi geht es nicht um Atlantis.
Damals glaubten also alle daran, dass Ägypten 11000 Jahre alt und älter ist.
Vor diesem Hintergrund erscheinen die 9000 Jahre von Platons Atlantis als ein ganz normales Datum. Wir moderne Menschen können schlussfolgern, dass die 9000 Jahre von Atlantis vermutlich ganz einfach ebenso ein Irrtum sind wie die 11000 Jahre von Ägypten. Dafür spricht auch, dass die Atlantisgeschichte ja aus Ägypten kommen soll! Die 9000 Jahre passen also wunderbar in den Rahmen des damaligen irrigen Wissens. So wie die 11000 Jahre von Ägypten ein Irrtum waren, so war es wahrscheinlich auch mit den 9000 Jahren von Atlantis. Es gibt überhaupt keinen Grund für die Vermutung, die 9000 Jahre als Erfindung oder Täuschung zu sehen. Die Erklärung als Irrtum ist viel besser und einfacher!
Wir können sogar versuchen, das wahre Datum von Atlantis näher zu bestimmen: Herodot verbindet sein irriges Datum von 11000 und mehr Jahren mit dem legendären ersten ägyptischen Pharao Menes. Die moderne Ägyptologie setzt Pharao Menes um das Jahr 3000 v.Chr. an. Da die 9000 Jahre von Atlantis ein Datum nach Menes bestimmen, können wir analog schlussfolgern, dass Atlantis irgendwann nach 3000 v.Chr. existiert haben muss. Weiter wollen wir dieses Beispiel an dieser Stelle nicht treiben.
Wie oben beschrieben, ist es viel Arbeit, für alle Elemente der Atlantiserzählung den historischen Kontext zu erarbeiten. Zu diesem historischen Kontext gehört natürlich auch Platon selbst und seine Art zu schreiben dazu! Die Frage nach der literarischen Gestaltung der Atlantiserzählung und nach den vielzitierten Platonischen Mythen muss bei dieser Suche ebenfalls geklärt werden.
Da ich diese Suche bereits weit vorangetrieben habe, kann ich einen Ausblick auf meine Ergebnisse geben: Ich werde zeigen, dass die Insel Atlantis die Insel Sizilien um das Jahr 1200 v.Chr. war, und ich werde zeigen, wo auf Sizilien Stadt und Heiligtum von Atlantis ganz konkret zu finden sind. Atlantis kann auf diese Weise in die ganz normale und bekannte Geschichte eingeordnet werden, und die Wissenschaft kann die Existenz von Atlantis aufgrund ihrer eigenen Methoden wie der historisch-kritischen Methode akzeptieren.
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