Am Samstag, den 14. Mai 2022, führte David Miano ein Interview mit dem Vollblutarchäologen Flint Dibble über Platons Atlantis und Pseudoarchäologie im Allgemeinen. Flint Dibble begann im September 2021 in einem Twitter-Thread öffentlich über Platons Atlantis zu sprechen, als er alle Arten von Atlantishypothesen als Pseudowissenschaft zurückwies.
Das Interview ist in jeder Hinsicht absolut sehenswert: Unbedingt ansehen!
Ich schlage vor, meine folgenden Kommentare erst nach dem Ansehen des Interviews zu lesen.
Interview mit Flint Dibble auf David Mianos Youtube-Kanal.
Das Interview beginnt erst nach 30 Minuten im Video und dauert 1,5 Stunden.
Was Flint Dibble gegen Ende des Videos erzählt, ist am überzeugendsten: Eine Fourier-Transformation (!), um Spuren von zerfallenen Knochen zu finden, Griechen, die Hunde essen, harte Lebensbedingungen mit vielen früh verstorbenen Kindern usw. usw. Das ist wirklich interessant, und hier merkt man, dass Flint Dibble wirklich mit Expertise spricht.
Aber was Platons Atlantis betrifft, ist Flint Dibble von seinen aktuellen Kollegen aus der Altertumsforschung gewissermaßen schlecht beraten, die unterschiedliche Lieblingstheorien zu diesem Thema haben, und jeder von ihnen ignoriert fröhlich, was seine (oder ihre) Fachkollegen über Atlantis geschrieben haben, denn ... niemand nimmt das Thema wirklich ernst. Das ist der Ursprung allen Übels, was das anbelangt. Je mehr man liest, was die heutigen Gelehrten über Atlantis produzieren, desto weiter entfernt man sich von einer konsolidierten Erfindungstheorie zu Atlantis: Es ist ein schreckliches, selbst-widersprüchliches Durcheinander.
Zuerst sagt Flint Dibble, dass die Atlantisgeschichte selbst explizit macht, dass sie keine wahre Geschichte ist. Aber dann flüchtet er sich in ein Augenzwinkern und in die Formulierung "tongue-in-cheek" (zwischen 41:45 und 44:10). Das bedeutet ganz einfach, dass er Ironie sieht, aber keine (!) explizite Offenlegung, dass die Geschichte nicht wahr ist. Dies ist ein wesentlicher Unterschied. Es gibt einen Grund, warum die Debatte über den Wahrheitsstatus von Atlantis bis in die Zeit Platons zurückreicht, mit Theophrast, Krantor, Poseidonios und vielen anderen, die die Existenz von Atlantis befürworten, bis heute. Nein, es war nicht Donnelly. Donnelly war nur ein großer Popularisierer.
Ich bin der Meinung, dass gerade das harsche Fallenlassen des Themas durch die Wissenschaft Ende des 19. Jahrhunderts die Höllenhunde der Pseudowissenschaft entfesselt hat. Denn es gibt heute keine ernsthafte Diskussion über die Existenz von Atlantis, die einige Leitplanken setzen und berechtigte Fragen aufwerfen würde. David Miano und Flint Dibble sagen selbst zum Thema Pseudoarchäologie im allgemeinen, dass nicht jede falsche Hypothese "pseudo" ist. In der Tat. Es wäre eine große Errungenschaft, wenn diese Erkenntnis auch auf die Atlantishypothesen angewendet würde. Diese Hypothesen sollten nicht alle als Pseudowissenschaft in einen Topf geworfen werden, sondern es sollte zugestanden werden, dass es Hypothesen von höherer Qualität gibt, die keine Pseudowissenschaft sind, sondern – wenn es denn ihre Meinung ist – "nur" falsch, z.B. einige der Atlantishypothesen über die minoische Kultur, die von "echten" Wissenschaftlern veröffentlicht wurden.
Ja, Flint Dibble hat völlig recht: Wir müssen uns ansehen, wie die Geschichte angelegt ist. Aber die Anlage deutet nicht auf eine erfundene Geschichte hin.
(a) Die Tatsache, dass der Dialog rein fiktional ist, sagt nichts über die Fiktionalität seines Inhalts aus. So wird z.B. die Tatsache, dass die Erde eine Kugel ist, zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte in einem sogenannten Platonischen Mythos im Dialog Phaidon erwähnt. Ich schlage vor, die Tatsache, dass die Erde eine Kugel ist, nicht als eine Erfindung zu betrachten.
(b) In der Politeia sagt Platon ausdrücklich, dass es gute Annäherungen an den Idealstaat in der Vergangenheit gab und in der Zukunft geben wird. Natürlich, denn er glaubte an ein zyklisches Modell der Geschichte. Dies ist ein wichtiger Teil der Anlage der Atlantisgeschichte!
(c) Der Timaios beginnt mit dem Plan, die Geschichte zu erfinden. Ja, zu erfinden. Aber dann gibt es eine Wendung im Dialog: Kritias kommt damit an, dass er eine reale Geschichte habe, die ganz gut passe (und nein, nicht zu 100%, wie viele dem Dialog unterstellen). Sokrates stimmt zu und sagt, dass eine reale Geschichte als Grundlage besser ist. Natürlich. Würde irgendein Leser, ob antik oder modern, anderer Meinung sein? Diese Art, die Geschichte zu erzählen, kann immer noch als Täuschung, als "edle Lüge" interpretiert werden, die der Leser nicht als Fiktion erkennen soll, aber nicht als eine offen erfundene Geschichte.
(d) Wie Flint Dibble zu Recht sagt, gibt Kritias vor ("pretends"), dass die historischen Athener Bürger der idealen Stadt waren. Was ist damit gemeint? Dass das historische Athen die ideale Stadt war? Nein! Es bedeutet das Gegenteil! Es bedeutet, dass das historische Athen nicht der vollkommene Idealstaat war, sonst bräuchte man es nicht vorzugeben. Eine historische Geschichte als Grundlage zu nehmen und sie durch das Ideal zu ergänzen, ist eher ein Hinweis darauf, dass die historische Geschichte realistisch ist. Andersherum wäre es ein Hinweis auf Erfindung: Wenn die historische Geschichte den vollkommenen Idealstaat bereits enthalten hätte.
(e) Die Worte über das Malen von Menschen beweisen keineswegs eine Erfindung. Denn der Vergleich mit dem Malen gilt sowohl für Timaios als auch für Kritias. Und Timaios erzählt eine sehr sachliche Geschichte, eine Kosmologie. Übrigens wird Timaios anschließend wegen seiner Darstellung als "Dichter" bezeichnet. Das bedeutet aber nicht, dass seine Kosmologie nur eine erfundene Dichtung war. Ganz und gar nicht. Dichtung ist für Platon nicht dasselbe wie Erfindung.
(f) Unterhaltung: Das Philosophieren mit Sokrates in einem Garten in Athen ist unterhaltsam und soll natürlich auch unterhaltsam sein!
Es ist nicht fair, zu sagen, dass Atlantissucher Atlantis einfach willkürlich umdatieren. Nun, zugegeben, einige tun das. Aber die Atlantisgeschichte ist angeblich eine Geschichte aus Ägypten. Daher ist es ein wichtiger Teil der ganzen Anlage der Geschichte, dass man zu Platons Zeit glaubte, Ägypten sei 11.000 und mehr Jahre alt. Das ist natürlich ein Irrtum. Aber ein wichtiger Irrtum, was die Datierung betrifft. Mehrere Wissenschaftler haben anerkannt, dass dies bedeutet, dass die 9.000 Jahre in Wahrheit auf eine Zeit nach 3.000 v.Chr. hinweisen, als Ägypten tatsächlich gegründet wurde (z. B. Alfred E. Taylor, John V. Luce). Das ist keine Rosinenpickerei, keine "Division durch zehn" und keine "stille Post". Das ist einfach nur Logik, die auch dann gilt, wenn Platon das alles erfunden hat. Selbst ein erfundenes Atlantis wäre zeitlich nach 3.000 v.Chr. anzusiedeln. Die Tatsache, dass nur wenige Wissenschaftler dies erörtert und erkannt haben, sagt alles über den Stand der aktuellen wissenschaftlichen Debatte zu diesem Thema.
Ich bin nicht der Meinung, dass Platons Beschreibungen von Athen ein Argument gegen die Existenz von Atlantis sind. Denn jeder interpretiert sie als Platons eigene Theorien über die Vergangenheit, als Ergänzung zu der Geschichte aus Ägypten. Die Erosion durch Regen, die größere Akropolis: Das ist, was Platon wirklich für wahr hielt, obwohl es das nicht war. Aber das wissen wir erst heute. Ein Beweis zugunsten eines realen Atlantis ist das natürlich wiederum nicht. – Und es stimmt auch nicht, dass Platon genau auf den Athene-Tempel vor den Perserkriegen hinweist, oder auf die bronzezeitlichen Mauern um die Akropolis, wie wir sie heute noch sehen können. Der Tempel und die Mauer werden in so allgemeinen Begriffen erwähnt, dass es nicht möglich ist, eine Verbindung zu diesen Gebäuden, wie wir sie kennen, zu sehen. Außerdem glaubte Platon an eine zyklische Geschichtstheorie, und das vorzeitliche Athen soll vor einer Reihe von verheerenden Katastrophen existiert haben, die angeblich alles zerstörten. Daher gibt es auch keinen Selbstwiderspruch in dem Text. Der angebliche Selbstwiderspruch beruht auf der Verwechslung unserer modernen Annahme, Platon habe auf die Bronzezeit verwiesen, mit Platons eigener Auffassung. Aber in den Augen von Platon deutete er auf 9.000 Jahre vor seiner Zeit hin, was für ihn ein Datum nach der Gründung Ägyptens war, und Platon hatte keine Ahnung von der Bronzezeit und all den anderen Dingen, die wir heute wissen.
Es ist zuviel behauptet, dass sich die Dialogteilnehmer des Timaios-Kritias nicht getroffen haben können. Darüber gibt es eine große Debatte, bis heute. Wenn man davon ausgeht, dass es sich bei Kritias um einen älteren Kritias handelt, von dem wir wissen, dann könnten sie sich getroffen haben. Es scheint sogar eine gewisse Tendenz zu geben, anzunehmen, dass es der ältere Kritias war. Aber trotzdem ist der Dialog selbst natürlich fiktional. Kein wichtiger Aspekt.
Es gibt zumindest ein konstruktives Ergebnis von Flint Dibbles Twitter-Attacke auf jede Art von Atlantishypothese. Es brachte mich dazu, die Seite "Gegen den 10.000-v.Chr.-Glaubenskomplex" einzurichten, die Argumente gegen die populärsten pseudowissenschaftlichen Hypothesen über Platons Atlantis liefert. Diese Hypothesen basieren auf einer wortwörtlichen Lesart der Geschichte und setzen die 9.000 Jahre nicht in ihren Kontext – das ist der gleiche Fehler, den die meisten Erfindungshypothesen machen. In der Zwischenzeit habe ich diese Seite in vielen Internet-Diskussionen über Atlantis verwendet, und zu meiner eigenen Überraschung hatte ich in etwa 50% aller Fälle Erfolg! Die Seite kommt bei Leuten gut an, die keine Ahnung haben und die Hypothese von 10.000 v. Chr. erst einmal überzeugend finden. Das bestätigt mich in meiner Überzeugung, dass pseudowissenschaftliche Altantishypothesen zu einem guten Teil davon leben, dass Wissenschaftler zu streng mit ihren Urteilen über Atlantishypothesen sind. Selbst ungebildete Leser können erkennen, dass die Atlantisgeschichte real gemeint ist, auch wenn sie unfähig sind, sich zu erklären, wie das gehen soll.